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Die Mama

»Geht Mama heut' auf den Ball?

»Ja, Lily.«

»Werde ich sie vorher nicht sehen?«

»Die Frau Gräfin dürfte kaum Zeit finden noch herüberzukommen.«

Comtesse Lily schwieg. Sie war ein kleines Ding von vier bis fünf Jahren mit einem zarten, blassen, aristokratischen Gesichtchen. In diesem Gesichtchen arbeitete es jetzt heftig; doch die Bonne sah es nicht, denn sie blickte durch das Fenster, an dem sie saß, nach dem großen hell erleuchteten Confectionsgeschäfte gegenüber und erwog gerade im Stillen, welcher von den dort ausgestellten Anzügen sie wohl am besten kleiden würde.

»Warum spielst Du nicht?« fragte sie endlich doch, da sie zufällig bemerkte, daß die Kleine noch immer neben ihr stand.

Lily antwortete nichts, begab sich aber plötzlich zu ihren Puppen zurück, denen eine ganze Ecke des hübschen Kinderzimmers eingeräumt war. Zierliche Wiegen und Bettchen, Miniatur-Toiletten, Schränke, Sophas und Stühle bildeten die Möblirung dieser Ecke, deren Anblick sich solchergestalt wohl eignete, die Herzen kleiner Mädchen höher schlagen zu lassen. Die glückliche Besitzerin aller dieser Herrlichkeiten schien ihnen jedoch sehr gleichgiltig gegenüber zu stehen. Zerstreut vollendete sie die begonnene Entkleidung eines wächsernen Wickelkindes, brachte es zu Bett und deckte es mit dem seidenen Deckchen bis über die Nase zu.

Mit einem Male sagte sie während dieser Beschäftigung ganz laut vor sich hin: »Vielleicht kommt sie doch!«

»Wer?« fragte die Bonne, die sich soeben für eine hellblaue Toilette mit seidenen Schleifen entschieden hatte.

»Nun, die Mama«, sagte das Kind verwundert.

»Sie kommt ja nie, ehe sie fortfährt«, äußerte die Bonne ihrerseits erstaunt, indem sie das Fenster verließ und nach Lily's Abendsuppe schellte; »warum erwartest Du sie heute?«

»Ich weiß nicht«, antwortete die Kleine trotzig und machte sich mit ihrer Puppe zu schaffen, die sich in diesem Augenblicke eine ziemlich unsanfte Behandlung gefallen lassen mußte. Die Wahrheit war: Lily erwartete die Mama alle Abend, nicht nur heute; aber das schämte sie sich instinctiv zu sagen – denn die Mama erschien ja nicht, oder doch höchstens ein-, zweimal im Monate. Lily wußte das, ließ aber doch nicht ab im Hoffen.

Sie liebte sie sehr, ihre schöne Mama! Wenn die Bonne ihr Märchen erzählte und es war darin von einer liebreizenden Fee die Rede, dann dachte Lily sogleich: »sie sah gewiß so aus wie Mama!« Oder wenn die Güte einer Königstochter gepriesen wurde und es hieß etwa: »besser als sie konnte ein irdisches Wesen gar nicht sein«, dann fiel das kleine Mädchen der Erzählerin eifrig in's Wort: »Nur Mama; nicht wahr, die ist noch besser?«

Aber diese gute, schöne, angebetete Mama – Lily sah sie immer nur flüchtig! Ein Bischen am Morgen während sie im spitzenbesetzten Negligée ihre Chocolade trank, und ein Bischen am Nachmittag, wo mit dem schwarzen Kaffee auch Lily für einen Augenblick im Salon erscheinen durfte. Sie war dann immer hübsch angezogen, erhielt von Papa und Mama je ein Bonbon, das ihr vom Dessert aufbewahrt worden und einen Kuß, und wurde hierauf wieder hinausgeschickt.

Das war so die Tagesordnung, von der nur äußerst selten abgewichen wurde.

Im Uebrigen ging die Bonne mit Lily spazieren, die Bonne überwachte ihre Mahlzeiten, die Bonne kleidete sie an und aus, brachte sie Abends zu Bett und betete ihr Nachtgebet mit ihr. Eben für Alles das war die Bonne da.

Nicht daß die Gräfin ihr Kind nicht lieb gehabt hätte.

Aber sie selbst war in ähnlicher Weise aufgewachsen und ringsum, in den meisten anderen Familien ihres Kreises sah sie den gleichen Brauch. Ob es der rechte sei, darüber dachte sie nicht nach. Du lieber Himmel! Wann hätte sie nachdenken sollen? Ihr Leben verflog in immerwährender Hetze! Besuche, Corsofahrten, Theater, Bälle, Soireen und alle die Vorbereitungen dazu; im Sommer Badereisen, Jagden, Ritte und Gebirgspartien; – es war gar nicht möglich zu Athem zu kommen!

»Nicht Jede ist Mutter, die einem Kinde das Leben gab!«

Am Gitterthore des väterlichen Parkes sah Lily eines Tages ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen, das sein rundes Gesichtchen von Außen gegen die eisernen Stäbe drückte und mit respectvoller Bewunderung nach der eleganten Altersgenossin lugte. Diese betrachtete ihrerseits neugierig das fremde Kind. Ein kurzes, dickes blondes Zöpfchen fiel ihr auf, übermäßig fest geflochten und vielleicht dadurch seltsam emporstrebend vom Hinterhaupte der Kleinen.

»Was für ein Zopf! Nein, was Du für einen spaßigen Zopf hast!« rief sie ohne böse Absicht, lediglich ihrer Verwunderung Ausdruck gebend.

Aber die Andere nahm die Sache übel auf. Bewunderung und Respect waren wie fortgeblasen.

»Mein Zopf ist gut«, fuhr sie die Comtesse ohne Umstände zornig an; »Mutter hat ihn geflochten.«

»Deine Mama?!« rief Lily mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke.

Die Kleine hinter dem Gitter hatte es sofort weg, daß die Situation sich zu ihren Gunsten zu wenden begann. »Ja, meine Mama«, sagte sie stolz, »sie kämmt mich alle Tage«.

»Hat sie denn Zeit dazu?« fragte Lily.

Die Andere sah sie verblüfft an. Der Stolz wuchs ihr, denn obschon sie nicht recht verstand, fühlte sie doch immer deutlicher, daß das vornehme Kind in den schönen Kleidern sich in diesem Augenblicke im Nachtheile gegen sie befand. »Zeit?« rief sie nicht ganz ohne Affectation; »natürlich! Sie wäscht mich auch und legt mich zu Bett und in der Früh hilft sie mir mich anziehen. – Hast denn Du keine Mutter?« setzte sie mit naiver Grausamkeit hinzu und sah ihrer Gegnerin, deren Augen immer größer geworden waren, dabei voll in's Gesicht.

Die Comtesse stand in rathloser Verwirrung. Sie wußte absolut nicht was sie antworten sollte und empfand doch instinctiv, daß sie der kleinen Plebejerin gegenüber ihre Würde um jeden Preis wahren mußte. »Sei nicht so dumm!« stieß sie endlich hochfahrend hervor, wandte jener den Rücken und ging langsam und aufrecht zur Bonne zurück, die ein Buch in der Hand behaglich in einem Gartenstuhle lag.

»Du, sei nicht so grob!« rief die unerschrockene Plebejerin ihr als Antwort nach. Dann sprang sie vom Gitterthore fort und lief dem niederen Hause des Schullehrers zu, dessen Tochter sie war. Wahrscheinlich wollte sie allsogleich der Mutter die merkwürdige Begebenheit berichten.

Dieses Gespräch konnte Lily nicht vergessen. Zum ersten Male regte sich eine unschöne Empfindung – die des Neides – in ihrem armen kleinen, schlecht gepflegten Herzchen.

Wenn sie seither auf Spaziergängen durch das Dorf der kleinen Schullehrerstochter ansichtig wurde, wendete sie stets hastig das Köpfchen nach der anderen Seite. Sie mochte den blonden, kurzen Zopf nicht sehen. Er war ihr erst so häßlich vorgekommen, und jetzt mußte sie sich im Stillen gestehen, daß sie selbst einen so häßlichen Zopf sehr gerne tragen würde – weit lieber als ihre schönen offenen Haare! – wenn nur die Mama ihr ihn täglich flechten wollte! Aber dazu war gar keine Aussicht; das würde sich gewiß nie ereignen!

Auch am heutigen Abend, als Lily, nachdem sie, wie es oft geschah, in jeder Weise das Schlafengehen zu verzögern gesucht hatte, in ihrem Bettchen lag, ohne daß die Gräfin erschienen wäre, um ihrem Töchterchen »Gute Nacht!« zu sagen, dachte sie wieder an diesen Zopf. Die Bonne, die sich im Nebenzimmer an ihren Schreibtisch gesetzt hatte, um Briefe zu schreiben, und die ihre Pflegebefohlene längst im festen Kinderschlafe wähnte, vernahm plötzlich ein leises Schluchzen. Aergerlich über die Störung stand sie auf und ging mit dem Lichte zu Lily's Bett.

Die Kleine lag in Thränen gebadet, hörte aber sofort auf zu schluchzen, als die Bonne sich näherte.

»Was hast Du? Thut Dir etwas wehe! Bist Du krank?« fragte diese.

Lily gab keine Antwort. Die Französin befühlte ihr Stirne und Puls, fand Alles in Ordnung und wurde ungeduldig. Mein Gott, was für ein sonderbares Kind dieses kleine Mädchen war!

»Ich glaube gar, Du weinst, weil es nicht nach Deinem Willen ging? – weil die Mama nicht gekommen ist – was?«

Lily schwieg und zog die Decke über's Gesicht.

»Wie unartig Du bist!« schalt nun die Bonne. »Mama hat Anderes zu thun. Pfui, wer wird so trotzig sein; jetzt lieg' gleich still und schlafe.«

Damit brachte sie die Decke wieder in die richtige Lage, trocknete mit dem Taschentuch die nassen Wangen der Kleinen und kehrte hierauf zu ihren Briefen zurück.

*

Und wieder – es war einige Tage später – befand sich die schöne Gräfin auf dem Balle. Abermals war sie fortgefahren, ohne Lily Adieu zu sagen.

Das Kind hatte wie gewöhnlich nach ihr gefragt, sich aber im Uebrigen ganz brav gezeigt. Es hatte den ganzen Abend ruhig mit seinen Puppen gespielt und war dann still und gehorsam zu Bett gegangen. Die Bonne blieb ungewöhnlich lange auf; sie nähte an einem Kleide für sich. Gegen eilf Uhr begab sie sich zur Kammerjungfer hinüber, um sich bei dieser einen Rath in Betreff der Schneiderei zu holen; dort verschwätzte sie eine ziemliche Weile, endlich, da es nahe an Mitternacht war, kam sie zurück und wollte sich nun zur Ruhe begeben. Ihr Lager stand neben dem der kleinen Comtesse; als sie an diesem vorüber ging und einen Blick darauf warf, sah sie – daß es leer war.

Die Französin glaubte zu träumen. Alle Schauergeschichten von geraubten Kindern, die sie je gelesen oder gehört, flogen ihr im ersten Moment durch den Kopf. Aber das war doch barer Unsinn! Scheltend begann sie zu suchen und zu rufen; allein Lily kam nicht zum Vorschein.

Jetzt erfaßte wirkliche Angst das Mädchen. Von dem Unerklärlichen auf's Aeußerste aufgeregt, jagte sie das ganze Haus aus dem Schlafe. Mit vereinten Kräften wurden von der gesammten Dienerschaft die eifrigsten Nachforschungen unternommen – allein gleichfalls ohne jeden Erfolg; Comtesse Lily blieb verschwunden.

Die Bonne, von dem Gefühle ihrer Verantwortung erdrückt, wand sich in Krämpfen; eine unendliche Verwirrung riß ein. Man wußte sich nicht zu rathen und zu helfen. Sollte man die Herrschaft vom Balle holen? Niemand fand den Muth dazu.

Allen Ernstes begannen die erschreckten Leute an eine Entführung zu glauben. Auch abergläubische Regungen zeigten sich. Die neunzigjährige Mutter des Portiers bekreuzte sich in einem fort und murmelte dabei unverständliche Laute vor sich hin, denen die Anderen, das Bett der Alten umstehend, mit zagem Grausen lauschten.

Inzwischen war es drei Uhr geworden – der herrschaftliche Wagen rollte in die Einfahrt. Die schöne Gräfin entstieg ihm, gefolgt von ihrem Gemahl. Im Treppenhause kamen ihnen geisterbleich die muthigsten ihrer Diener entgegen. Bei ihrem Anblick schrie die junge Frau laut auf und klammerte sich an den Arm ihres Gatten. »Um Gotteswillen – es ist etwas geschehen!«

Stotternd erstatteten die Leute einen verwirrten Bericht.

Die Gräfin war einer Ohnmacht nahe, der Graf aber rief barsch: »Unsinn! das Kind muß da sein. Ihr habt die Köpfe verloren und saht schlecht nach.« Nichtsdestoweniger klopfte ihm selbst das Herz, als er die Treppe hinaufeilte. War denn die Kleine mondsüchtig, daß sie Nachts ihr Lager verließ? Und wo mochte sie in solchem Zustande hingerathen sein?!

Man suchte und suchte nun von Neuem. Durch alle Räume tönte Lily's Name. Am heißesten, mit der zärtlichsten Betonung, zuletzt in völliger Verzweiflung rief ihn die Gräfin. Allein keine Antwort erfolgte – Alles blieb still.

Auf seinen Armen trug endlich der Graf die völlig erschöpfte Frau, deren festliche Kleidung seltsam mit ihrem trostlosen Zustande contrastirte, nach ihrem Toilettenzimmer, bettete sie dort auf die Chaiselongue und bat sie innigst, sich zu beruhigen und hier zu bleiben, während er die Nachforschungen noch weiter fortsetzen wolle. Sie versprach ihm zu Liebe was er verlangte, kaum aber war er fort, als sie in krampfhaftes Schluchzen ausbrach. Die Natur, deren Stimme das gedankenlose Treiben der Welt im Alltagsleben zurückdrängte, machte sich mächtig geltend in dieser Stunde! »Lily! mein Kind! mein einziges Kind! meine Lily!« jammerte die einsame Frau zerrissenen Herzens.

Da raschelte die seidene Umkleidung des Toilettentisches, die bis zum Boden niederging. Im nächsten Augenblick ward sie ein wenig in die Höhe gehoben – eine kleine Gestalt im Nachthemdchen lugte darunter hervor.

»Weine nicht Mama! – ich bin ja da!«

Die Gräfin zuckte empor und starrte das Kind an. Ihre erste Empfindung war Zorn; Zorn über die unnützer Weise ausgestandene Angst.

»Was soll das? was wolltest Du?« fuhr sie die Kleine an.

»Bei Dir sein«, antwortete ein süßes Sümmchen. »Ich bin so wenig bei Dir, Mama! Und ich habe Dich so lieb – so lieb!«

Zögernd, scheu kam das kleine Mädchen mit den nackten Füßchen dahergetrippelt; allein schon im nächsten Moment jauchzte es laut auf; in solcher Weise hatte die Mama es noch gar nie geküßt, an ihr Herz gedrückt! …

»Eigentlich sollte sie gestraft werden«, sagt stirnrunzelnd der eiligst zurückgerufene Vater. »Unerhört, auf all' unser angstvolles Rufen nicht hervorzukommen.«

Es zeigte sich jedoch, daß Lily weniger schuldig war, als sie erschien. Auf die Heimkehr der Mutter wartend – »weil sie es wirklich ohne ›Gute Nacht‹ von der Mama im Bettchen nicht mehr aushalten konnte« – war sie in ihrem Versteck unter dem Toilettentische, an den zufällig Niemand dachte, fest eingeschlafen und erst bei dem anhaltenden lauten Weinen der geängstigten Frau aufgewacht, wo sie denn auch sogleich erschien.

Ganz blieb die Strafe dennoch nicht aus. Obschon das Toilettenzimmer geheizt gewesen, trug Lily von dem Abenteuer eine schlimme Halskrankheit davon. Noch einmal, und diesmal mit nur zu gutem Grunde, mußten die Eltern um ihr Kind bangen! Doch der Himmel erwies sich gnädig; die Prüfung ging vorüber.

Lily war die geduldigste und glücklichste kleine Reconvalescentin, die sich denken läßt. Saß doch ihre angebetete Mama fast den ganzen Tag bei ihr. Auch einen Zopf hatte sie ihr bereits versprochen, alle Morgen zu flechten, »genau so wie der von der Schullehrer-Liese!«

»Nur etwas hübscher«, sagte unter Thränen die junge Frau.

Sie hielt ihrem Kinde, das ihrer so sehr bedurfte, Wort in Allem was sie ihm laut – und in Allem was sie ihm still gelobte in dieser Zeit. Die Mama war zur Mutter geworden.


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