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Die Enkelin des Castellans.

Der Wald rauscht. Ein verfallenes Schloß blickt durch das dunkle Grün. Sonst weit und breit keine menschliche Wohnung.

Es ist spät am Nachmittag.

Um den Stamm eines Baumes sind die Zügel eines Pferdes geschlungen, das ruhig grasend neben demselben steht. Auf den Treppenstufen der Terrasse, zwischen deren Steinen Moos wächst, sitzt ein Mann in reicher Jagdkleidung und betrachtet halb neugierig, halb sinnend das wie verzaubert daliegende Gebäude. Vielleicht durchziehen philosophische Gedanken über die Vergänglichkeit irdischen Glanzes sein Haupt. Der Ort ist geeignet, solche zu erwecken.

Plötzlich öffnet sich knarrend die auf die Terrasse führende Thür und eine wunderbar liebliche Mädchengestalt in einem feinen weißen Kleide, dessen Schnitt längst vergangenen Tagen angehört, tritt heraus.

Der Fremde starrt sie staunend an und streicht sich, aufspringend, mit der Hand über die Stirn, – als er aber sieht, wie die holde Erscheinung bei seinem Anblicke erschrickt, zögert und zurückweicht, ist er mit einigen raschen Schritten bei ihr:

»Bin ich in ein Feenschloß gerathen? Liegt ein Zauberbann über diesem Gebäude und bist Du die Prinzessin aus dem Märchen! Oder«, fährt er lächelnd fort, da sie ihn mit ihren großen Rehaugen scheu, verwundert ansieht, »wohnen hier wirklich Menschen?! … Sage doch: wie heißest Du denn, Du wunderbares Waldkind?!« Und er faßt sanft ihre Hand.

Sie läßt es ruhig geschehen. Die rothen Lippen öffnen sich langsam, ihm zu antworten:

»Jeanne-Marie!«

Es klingt wie Gesang! –

Wer ist Jeanne-Marie?

In dem Schlosse – einst bei Gelegenheit fröhlicher Jagden vielfach belebt – sind noch einige Zimmer des Erdgeschosses bewohnbar; in diesen haust ein tauber und blinder, mehr träumender als wachender, uralter Castellan. Eine ebenso alte Dienerin besorgt seinen Haushalt. Jeanne-Marie aber ist seine Enkelin.

Sie ist im Walde aufgewachsen und hat immer im Walde gelebt. Sie kennt kaum einen anderen Menschen als den Großvater und die alte Gertrud. Lesen und Schreiben lernte sie nothdürftig von einem alten Schulmeister, der in früheren Zeiten manchmal aus dem nächsten Dorfe kam, um ihren Großvater zu besuchen, jetzt aber lange todt ist. Im Uebrigen hat sich kaum Jemand um sie gekümmert; – man vergaß selbst in der nächsten Nachbarschaft, die freilich auch nicht gar nahe ist – das Schloß liegt tief drin im Walde – daß in dem verlassenen Gebäude noch Menschen leben! Alle Jahre einmal überbringt ein Fuhrmann aus der Stadt zwei große Kisten mit Vorräthen für Gertrud – das ist der ganze Verkehr, der die Bewohner des Schlosses mit der Außenwelt verbindet!

Die Lieblichkeit, die Grazie, das wunderbar Anmuthige ihres Wesens hat Jeanne-Marie von ihrer Mutter, die eine schöne, vornehme Frau gewesen ist, die Tochter eines stolzen Geschlechtes. Desselben Geschlechtes, das einst in diesen Mauern herrschte.

Hier in diesem Jagdschlosse hat vor vielen Jahren das Fräulein den schönen Förster mit den dunklen Augen, des Castellans einzigen Sohn, gesehen, und wie man sich erzählt, war sie ihm in Liebe gefolgt. Ein Geistlicher aus einem der umliegenden Dörfer hatte sie um Mitternacht getraut. Es liegt ein Schleier über dieser Geschichte, der wohl niemals gelüftet werden wird. In der Welt hieß es damals, die Beiden seien gestorben. Für die Ihrigen waren sie es in der That. Weder im Hause des Freiherrn noch in der Familie des Castellans wurden ihre Namen je wieder genannt. Der Freiherr verließ nach jenem Ereignisse das Waldschloß für immer, der Castellan aber blieb allein zurück und verfiel seitdem in den Zustand, in dem er sich jetzt befindet. Er ging niemals mehr aus und hatte mit Niemandem Umgang, außer hie und da mit dem erwähnten Schullehrer. Dieser war es, der eines Abends vor fünfzehn Jahren ein weißes Paket in das verödete Haus brachte und aus dem weißen Paket ein kleines, lebendes Geschöpf von nicht ganz einem Jahre herauswickelte, das er Gertrudens Pflege übergab. Der Castellan schloß sich in sein Zimmer ein und wollte Wochen lang von dem Kinde nichts wissen; dann aber schien er die kleine Jeanne-Marie mit seiner Tochter zu verwechseln, die er in ihrer frühesten Kindheit durch den Tod verloren hatte, und behandelte sie, als wäre sie diese, obwohl andererseits Aeußerungen, die er hie und da, meist im Selbstgespräche, fallen ließ, darauf deuteten, daß er sich doch, wenigstens zeitweise, bewußt war, wer sie eigentlich sei.

Jeanne-Marie wuchs auf wie die Blumen des Waldes und sie glich ihnen.

Einstmals, als sie in einer Bodenkammer herumkramte, – sie durfte durch das Schloß streifen, so viel sie wollte – entdeckte sie zufällig einen Koffer mit alten, wohlerhaltenen Gewändern, die vielleicht einst einer Ahnfrau gehörten. Die prächtigen Kleider mit ihren feinen Stoffen und wunderlichen Schnitten gefielen ihr viel besser, als die, welche Gertrud ihr gab; sie versuchte sie anzulegen und sie paßten ihr, als wären sie für ihre feine, biegsame Gestalt gemacht. Staunend, mit naiver Bewunderung betrachtete sie sich in den hohen, halberblindeten Spiegeln, die noch in einigen Gemächern an den Wänden hingen, und lief dann zu Gertrud. Die zuckte mit einem eigenthümlichen Gesichtsausdrucke die Schultern und murmelte etwas in sich hinein; wehrte ihr aber nicht. Seitdem kleidet sich Jeanne-Marie immer in diese Gewänder. Der Großvater, der nicht sieht und nicht hört, bemerkte den Toilettenwechsel nicht; selbst wenn sie ihm die Stoffe in die Hand gab und fühlen ließ, verstand er nicht, was sie meinte.

Wie ein lebendes Märchen wandelt das junge Mädchen in der Tracht einer vergangenen Zeit durch das Schloß und den Wald. Die Rehe und Vögel wundern sich nicht über sie, denn sie kennen sie gar wohl und halten gute Kameradschaft mit ihr! Wenn aber einmal ein Holzhauer oder ein Weib, das Reisig sammelt, sie zufällig zwischen den Bäumen erblicken, mögen sie wohl denken und im Dorfe erzählen, der Geist des verschollenen Fräuleins gehe um!

*

Der Fremde, den Jeanne-Marie auf der Terrasse gefunden, erklärte ihr, daß er sich verirrt und auf den Stufen ein wenig ausruhen gewollt. Er habe keine Ahnung gehabt, in dieser Einsamkeit Menschen zu finden, da ihm das Geschick aber so günstig gewesen, so möchte er wohl um einen erfrischenden Trunk bitten! Auf dies führt Jeanne-Marie ihn zu dem Großvater hinein und bemüht sich vergeblich, dem Alten verständlich zu machen, daß sie einen Gast erhalten hätten. Und dann sucht sie Gertrud auf und kommt bald mit einer Platte zurück, auf der sich eine Flasche funkelnden Weines, ein zierliches Glas und ein Schälchen mit duftenden Walderdbeeren befinden, die sie ihm vorsetzt, nachdem sie ein weißes Tuch über ein Tischchen gebreitet. Er kann sich nicht satt sehen an ihr und seine Augen folgen jeder ihrer anmuthigen Bewegungen, während der Großvater traumverloren wie immer, vor sich hinnickt und ein munteres Hänflingpaar in einem Käfig am Fenster ein leises, zwitscherndes Zwiegespräch führt.

Nachdem er sich erfrischt und ausgeruht, geht der Fremde doch nicht wieder. Er spricht mit Gertrud und sagt ihr, daß er das Schloß abzeichnen möchte und ob sie ihn wohl in einem der verlassenen Räume für einige Tage unterbringen könne? – er sei mit Allem zufrieden! Da er dabei eine wohlgefüllte Börse in ihre Hand gleiten läßt, so hat die Sache weiter keine Schwierigkeiten, denn die mürrische Alte kennt nur eine Leidenschaft: die für das Gold! In einem Strumpfe eingebunden, verwahrt sie eine zusammengescharrte Summe in dem Strohsacke ihres Lagers, obwohl sie keinerlei Angriffe darauf zu befürchten hat, denn Diebe suchen keine Schätze in dem verödeten Hause, Jeanne-Marie aber kennt den Werth des Geldes nicht!

Am anderen Morgen reitet der Fremde in das nächste Dorf, um dort sein Pferd einzustellen und einen Brief zur Post zu geben, in welchem er anordnete, daß ihm aus der Stadt ein Koffer mit allem Nöthigen geschickt werde, und hierauf beginnt er, zurückgekehrt, wirklich das Schloß zu zeichnen. Jeanne-Marie blickt ihm dabei über die Schulter und staunt, da sie das wohlbekannte Gebäude auf dem Papier entstehen sieht, ganz so, wie es hier vor ihren Augen liegt. Es verlangt sie, selbst den Bleistift zu nehmen und die Sache auch zu versuchen, aber es will ihr nicht gelingen! Er bemüht sich ihr zu helfen; seine Hand umfaßt die ihre und leitet ihre weichen, rosigen Finger in der Richtung, welche die Striche nehmen sollen. Sie lacht heiter auf, denn auf diese Art geht es wirklich so ziemlich, aber sie will doch selbst thätig sein und so versucht sie es, neben ihm sitzend, wieder und wieder, jedoch nicht mehr mit dem Schlosse, sondern als Anfang mit einem kleinen grünen Blatte, das sie dicht vor sich hingelegt hat. – Die nächsten Tage dann lernt sie noch eine andere Kunst kennen; unter dem aus der Stadt angelangten Gepäck befand sich auch ein seltsam geformter Kasten und aus diesem nimmt der Fremde einen Gegenstand, dergleichen das Mädchen noch nie gesehen hat und entlockt ihm die wundervollsten Töne. Wie bezaubert horcht Jeanne-Marie diesen Klängen! Durch die Stille des Waldes ziehen sie wie Verheißungen einer niegekannten Wonne, während der Schein des Mondes die Terrasse mit Silberlicht übergießt.

Die wenigen Tage, die der Fremde bleiben gewollt, werden zu Wochen; der aus dem nüchternen, poesielosen Treiben der Welt kommende Mann behagt sich wunderbar in der märchenhaften Umgebung voll romantischen Zaubers, in die der Zufall ihn geführt. Er findet, daß die würzige Waldluft ihn erfrischt, seinen Nerven wohlthut, daß das Unberührte, Unmittelbare in dem Wesen des schönen Kindes einen eigenthümlichen Reiz für ihn hat. Er kann sich nicht losreißen, und so verweilt er und verweilt, bis endlich seine Geschäfte ihn in die Stadt und zu dem gewohnten Leben zurückrufen.

An einem heißen Augustnachmittage steht auf einer blumenbewachsenen Lichtung des Waldes, an einen Baum gelehnt, ein schlanker, hoher Mann und vor ihm ein reizendes, ganz junges Mädchen – Jeanne-Marie, die Enkelin des Castellans.

Er hat ihr soeben mitgetheilt, daß er gezwungen sei, abzureisen. Leise und befangen hat er hinzugesetzt, daß es ihm schwer falle, sie verlassen zu sollen. Er hat es befangen gesagt, weil er im selben Augenblicke fühlte, daß es ihm nicht Ernst sei mit der Trennung – vielleicht auch weil er weiß, das er längst hätte gehen müssen.

Jeanne-Marie hat nicht begriffen, was er meint. Sie ist etwas erstaunt.

»Du nimmst mich mit«, antwortet sie einfach; »ich stürbe ja sonst.«

Er sieht sie an. Er ist viel älter als sie. Er mag dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen. Seine Augen verrathen alle die Weltklugheit, die ihr fehlt.

»Kind«, spricht er langsam, »Du weißt nicht, was Du verlangst. Ich darf Dich nicht täuschen. Ich bin Maltheser; es ist mir verwehrt, Dir meinen Namen zu geben; ziehst Du mit mir, so wird der Welt Spott und Schande Dich treffen!«

Sie blickt ihn mit ihren großen braunen Augen verständnißlos an. »Warum? Weshalb sollte in der Welt Unrecht sein, was hier nicht Unrecht war? Können wir nicht anderswo leben, wie wir hier lebten? mit einander spazieren gehend, mit einander Blumen pflückend und – o süßeste Stunden! – Du auf Deiner Violine spielend und ich zu Deinen Füßen Deinem Spiele lauschend!«

Er sieht sie noch immer an; diesmal unwillkürlich lächelnd. Mit seinem überlegenen Lächeln, dessen Bedeutung sie nicht versteht. »Kind, wenn auch! Die Menschen würden Dich dennoch mit Steinen werfen. Was Du thun willst, verstößt gegen ihre Gesetze; sie aber rächen jede Mißachtung derselben!«

Ihre Augen heften sich mit unsicherem Blick auf ihn. Dann senkt sie die Lider und die kleinen Hände krampfhaft in einander gepreßt, steht sie einige Secunden unbeweglich vor ihm.

Ist es wahr, was er sagt?! … Gewiß, er muß es besser wissen, als sie! Was weiß sie denn, wie es draußen zugeht, außerhalb ihres Waldes?! … Aber ist es ihr möglich, sich von ihm zu trennen?! Kann sie es ertragen, ihn wieder zu verlieren? Ihn, der ihr eine Welt aufgeschlossen, von der sie vorher nicht einmal eine schwache Ahnung gehabt! Ihn, der sozusagen der einzige Mensch ist, den sie – ihren Großvater und Gertrud ausgenommen – zeitlebens kennen gelernt! Ihn, dessen Nähe ihr zum Leben jetzt so nothwendig erscheint als wie die Luft, die wir einathmen! … Kann sie das? Ist es ihr möglich?!

Einen Augenblick noch steht sie regungslos.

»Hast Du mich lieb?« fragt sie plötzlich fast scharf und ihre Kinderaugen schauen fest in die seinen.

Er hat es ihr oft gesagt. Halb spielend, wie einem kleinen Mädchen, halb im Ernst, immer zärtlich und kosend, jetzt zögert er, das Gewissen schlägt ihm, er fühlt ein Bangen.

Ihre Augen werden immer größer, immer starrer, immer fragender; sie wendet keinen Blick von ihm.

Vielleicht wollte er ein anderes Wort sagen; aber verlangend und leidenschaftlich wie noch nie, flüstert er im nächsten Moment: »Ich liebe Dich.«

Sie athmet tief auf.

»Dann nimm mich mit! Was kümmert mich die Welt, die nie für mich war? Was kümmern mich die Menschen und ihre Satzungen? Du bist meine Welt! Du bist für mich die Menschheit!«

Und ehe er es verhindern kann, liegt das schöne Geschöpf zu seinen Füßen und umfaßt sie.

Ihre ganze Gestalt erbebt; es ist als sei plötzlich etwas erwacht in ihr, das bisher geschlafen.

»Ich will glücklich sein!« sagt sie heiß und durstig. »Und ich kann es nur bei Dir sein! – Führ' mich, wohin du willst, in den Strudel des Lebens oder in eine Oede, einsamer als diese – gleichviel! nur lass' mich Deine Stimme hören, lass' mich Dein Antlitz sehen, lass' mich Deine Nähe fühlen! Ich sterbe sonst!«

Wieder beschleicht ihn, erkaltend, ein scheues Bangen. Er ist kein schlechter Mensch, nur ein schwacher. Und er weiß es am besten, daß sie der Blume gleicht, die nichts dafür kann, wenn der über sie hinbrausende Sirocco sie versengt! Leises Mitleid mit ihr zieht durch seine Seele, so erregt er ist. Er beugt sich zu ihr herab.

»Und Dein alter Großvater?« fragt er sanft.

»Er wird mich nicht entbehren. Er ist taub und blind, und mit seinem Geist immer in einer versunkenen Zeit. Er weiß nicht, ob ich um ihn bin oder Gertrud.«

Der Maltheser schweigt. Jeanne-Marie ist in diesem Augenblick wunderbar schön! Schön wie nie, im Glanze dieser inneren Gluth, dieser seelischen Exaltation, die ihr ganzes, sonst so sanftes Wesen verwandelt hat.

Eine Blume blüht im Walde und gehört Niemandem …

Plötzlich umschlingt er sie heiß; mit einem Aufschrei stürzt sie bewußtlos an seinem Herzen zusammen.

*

An diesem Abend besucht Jeanne-Marie alle ihre Lieblingsplätze in Schloß und Wald. Sie geht auch in den Stall zu der braunen Kuh und der schwarz-weißen Ziege, und in den Hof zu den Hühnern, die gewöhnt sind, das Futter aus ihrer Hand zu empfangen. Sie schlafen schon; die Köpfe unter die Flügel gesteckt, sitzen sie nebeneinander auf den Stäben ihres Häuschens. Jeanne-Marie streicht leise mit der Hand über die Federn ihrer Lieblingshenne, die einen glucksenden Ton von sich gibt, ohne zu erwachen, und dann tritt sie zu dem großen Hunde, der an der Kette liegt, und drückt einige Augenblicke ihr Gesichtchen gegen seinen zottigen Kopf. Zuletzt sucht sie ihre Vögel und Blumen auf; eine kleine Weile steht sie betroffen vor ihnen: »Wer wird für diese sorgen? was wird aus ihnen werden?« Und erfaßt von dem Gedanken, öffnet sie leise das Thürchen an dem Käfige der Hänflinge, den Rosenstock aber, die Reseda und den Goldlack trägt sie sorgsam hinaus und setzt sie im Mondschein in den Boden ein, wo er ihr am geeignetsten dazu erscheint.

Am anderen Morgen ruft Gertrud vergebens nach Jeanne-Marie. –

Der Castellan vermißt die Enkelin doch! Er sieht nicht und hört nicht, aber er fühlt. Wenn er statt des warmen, weichen Händchens seiner Enkelin die knochigen Finger der alten Haushälterin erfaßt, da erwacht er einen Augenblick aus seinem Hinbrüten, und auffahrend fragt er nach dem Kinde. Gertrud fürchtet seinen Zorn, falls sie ihm die Wahrheit sagte; auch ist fraglich, ob er sie verstünde; sie antwortete ihm daher in ihrer gewohnten mürrischen Art, daß Jeanne-Marie blos im Walde sei, oder daß sie schlafe, oder daß sie eine Arbeit verrichten müsse. Aber obwohl er sich damit zufrieden gibt und gleich wieder in seinen alten Zustand verfällt, murmelt er doch jetzt oft vor sich hin: »Auch sie; auch sie!«

*

Der Wald rauscht. Das verfallene Schloß steht leer. Der alte Castellan ist todt und Gertrud hat ihren zusammengescharrten Schatz hervorgeholt und ist fortgezogen. Die Vögel, welche unzählige Nester in dem alten Gemäuer aufgeschlagen haben, umschwirren in Schaaren das Gebäude und die Rehe kommen ungescheut ganz nahe heran und blicken neugierig umher.

Einige Kinder aus dem nächsten Dorfe, die Erdbeeren sammeln, sind zufällig bis hieher gerathen. Das stille, verödete Haus, von dem sie wohl reden gehört, das sie aber niemals gesehen haben, macht ihnen einen unheimlichen Eindruck und erregt doch ihre Neugierde. Zaghaft schleichen sie sich, eines hinter dem anderen, näher. Plötzlich stößt das Vorderste einen lauten Schrei aus und macht wie besinnungslos Kehrt. Die Anderen folgen. Sie haben auf der Treppe der Terrasse ein großes weißes »Etwas« liegen sehen und stürzen athemlos heim, ihren Eltern davon zu sagen.

Die Blume des Waldes verkam im Staube der Landstraße. Das »Etwas«, welches den Dorfkindern solchen Schrecken eingejagt, ist ein liebliches Menschenbild, das bleich und starr auf den steinernen Stufen ruht. Das Herz, das einst so heiß nach dem »Glück« verlangt – es schlägt nicht mehr. Gebrochen und vernichtet hat es sich bis hieher geschleppt. Hoffte es hier, von wo es ausgegangen, hier wo es gewurzelt hatte, den Frieden wiederzufinden? … Es hat ihn gefunden …

Die Blüthen des Schlehdorns duften und die Vögel singen der müden Pilgerin ein Schlaflied. In den Zweigen der Bäume aber flüstert es: Jeanne-Marie, die Enkelin des Castellans.


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