Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Herr Charbonnel, Pariser Vertreter für das Champagnerhaus Chauret, Bernier und Comp. in Rheims, war fünfzig Jahre alt, als er die Tochter eines seiner Kunden, Fräulein Clémence Robert, heiratete, deren große Tugend, deren rosige Wangen und blonde Haare es ihm angetan hatten.
Er war vom ersten Tage seiner Ehe an vollkommen glücklich. Clémence verwandelte die unbehagliche Wohnung des Junggesellen in ein gemütliches Heim, das sie mit ihrer Munterkeit, ihrem fröhlichen Sinn erfüllte. Sie erwies ihrem Manne, der für sie doch schon ein wenig reif war, die zuvorkommendste, zärtlichste Liebe. Der Geschmack der beiden Gatten war der gleiche: sie waren beide für gutes Essen und Trinken, für Kartenpartieen zu zweit, sie gingen gern in die kleinen Tingeltangel und in den Zirkus. Alle beide schliefen sie unfehlbar ein, sobald sie einmal etwas zu lesen versuchten, die spannendsten Feuilletons des Petit Journal waren nicht imstande, sie wachzuhalten. Und zu allem andern war Clémence trotz des Altersunterschiedes immer bereit, ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen, und das machte ihr auch Spaß. Dagegen zeigte sie niemals spontane Gelüste, die Charbonnel manchmal hätten in Verlegenheit bringen können.
Sie waren schon über ein Jahr verheiratet, als Clémence eines schönen Tages ihrem Manne mit glühenden Wangen ein überraschendes süßes Geheimnis mitteilte. Durch verschiedene Anzeichen aufmerksam gemacht, war sie ganz allein zu einem alten Freunde ihres Vaters, dem Doktor Tierselin, gegangen, der Direktor einer Kaltwasserheilanstalt in der Saint-Georges-Straße war, – und der Doktor hatte sie nach allerhand gefragt, sie auf die Wange getätschelt und gesagt:
»Liebe kleine Clémence, geh nach Hause und sag deinem Manne, daß er ein Glückspilz ist. Du bist seit zwei Monaten guter Hoffnung.«
Diese Schwangerschaft, auf die er nicht zu hoffen gewagt hatte, hob Charbonnel auf den Gipfel des stolzesten Glückes. Bald jedoch sollte sie die Harmonie seiner Ehe stören. Gegen Ende des dritten Monates, als das kleine Wesen, das Clémence unter dem Herzen trug, sich zu regen begann, wandelte sich der gleichmäßig heitre Charakter der jungen Frau. Sie wurde launisch und wechselte rasch zwischen Lachen und Tränen, zwischen fieberhafter Gesprächigkeit und hartnäckigem Schweigen. Ihre Lieblingsgerichte widerstanden ihr, und die Speisen, die sie sonst verabscheut hatte, bevorzugte sie nun. Ohne ein Wort zu sprechen, saß sie unbeweglich, von tiefer Schwermut bedrückt, eine Woche lang in ihrem Zimmer; dann plötzlich sprang sie auf, sprudelte über von Lebhaftigkeit, wollte fort, ins Theater. Charbonnel fügte sich ängstlich und unterwürfig allen ihren Launen. Er sagte sich: »Es dauert ja nur eine kurze Zeit; und dann tue ich's ja für François ...« Denn das Ehepaar war dahin übereingekommen, daß das Kind ein Knabe sein würde und François heißen sollte.
Eines Abends – es war im Dezember – als Charbonnel von seiner täglichen Geschäftstour heimgekommen war, sagte er zu seiner Frau:
»Nach dem Essen zieh dich an, wir wollen in den Zirkus Fernando gehn und uns Jams-Jams, den Papageienmann, ansehn. Er soll ganz außerordentlich gut sein.«
Clémence klatschte in die Hände. Sie hatte einen ihrer guten Tage und war freundlich und lustig wie in den Zeiten vor ihrer Schwangerschaft. Außerdem war sie schon lange auf Jams-Jams neugierig gewesen, dessen farbiges Bild in schwarzem Trikot auf dem Trapez mit ausgestreckten Armen, auf denen Papageien saßen, überall die Pariser Mauern bedeckte. Er sollte viel Geld haben, da er angeblich der Geliebte einer vornehmen englischen Dame war, die ihn nach Paris begleitet hatte.
Er hatte an jenem Abend wie immer einen kolossalen Erfolg, wie ihn sonst nur Stierfechter in der Arena haben. Er hatte ein sehr schönes Gesicht und eine Fülle von braunen Haaren, die auf der Stirn geteilt waren. Das schwarze Trikot umschloß einen kräftigen Körper und die Arme und Beine einer klassischen Statue. Sein Äußeres interessierte die Frauen ungemein. Mit glänzenden Augen applaudierten sie, daß ihre Handschuhe fast platzten, besonders als er zum Schluß unbeweglich dastand, einen Papagei auf dem Kopfe, zwei auf den Schultern, zwei auf den Handgelenken und zwei auf den Fußspitzen. Als sie wieder zu Hause waren, fand Charbonnel, daß seine Frau auffallend ernst wäre, und fragte sie:
»Nun, Clémence, hast du dich amüsiert?«
Sie antwortete trocken:
»Ja ... ganz gut.«
Er konnte nichts weiter aus ihr herausbekommen. Sie schmollte und war wieder in ihrer düstern Stimmung. Die schüchternen Annäherungsversuche des Gatten wurden verdrießlich zurückgewiesen. Traurig, aber ergeben schlief er ein. Er dachte:
»Ich muß geduldig sein ... Es ist für unsern François.«
Aber am andern Morgen stand Clémence in strahlender Laune auf. Sie sang beim Ankleiden, küßte ihren Mann auf den Hals, als sie ihm den Kragen anknöpfte und bereitete zum Frühstück eigenhändig eine Rahmspeise, die er gern aß. Als er sie gegen ein Uhr nachmittags verließ, um sich auf seine Geschäftstour zu begeben, legte sie ihm selber einen gestrickten Schal um, da es sehr kalt sei und sie nicht wolle, daß ihr liebes Männchen sich erkälte. Und von der Straße sah er, wie sie auf dem Balkon stand und ihm Handküsse nachsandte.
Die frohe Stimmung hielt den ganzen Tag und auch den Abend an, bis zu dem Augenblick, wo sie Seite an Seite in ihrem gemeinschaftlichen Bette lagen. Da nahm Clémence den dicken, grauen Kopf ihres Mannes zwischen ihre kleinen Hände und flüsterte ihm ins Ohr:
»Ich muß dich um etwas bitten, Liebster.«
Charbonnel, dessen Herz von Freude übervoll war, antwortete:
»Alles, was du willst, Kätzchen.«
»Aber ich schäme mich so, es dir zu sagen!«
»Nur frisch drauf los.«
»Ich will erst das Licht ausmachen. Ich kann es dir nur im Dunkeln sagen.«
Als das Licht ausgelöscht war, fuhr Clémence fort:
»Du kennst doch Jams-Jams, den Papageienmann?«
»Ja ... Und? ... Willst du noch einmal hin, ihn wiedersehn? ...«
»Nein ... das heißt ... wenn ... Nicht in dem Zirkus ...«
Charbonnel fing zu lachen an.
»Wir können ihm aber doch wirklich keinen Besuch machen.«
Clémence erwiderte lebhaft:
»Nein, du darfst nicht lachen ... Es ist sehr ernst ... Ich habe Lust zu etwas, große, große Lust ... Und wenn du nicht tust, was ich möchte ... ach! ... ja ... dann stirbt deine kleine Frau ... und Baby natürlich auch ...«
Charbonnel schloß Clémence in die Arme, küßte sie zärtlich und erklärte:
»Ich werde tun, was du willst, mein Liebling, das weißt du ja ... Aber sage mir was es ist.«
Da stammelte sie ganz dicht, ganz dicht an seinem Ohr:
»Ich möchte diesen Herrn ... ohne Kleider sehen.«
Sie verbarg ihr Gesicht an Charbonnels Halse. Charbonnel rief, ganz erschrocken:
»– Ohne Kleider! ... Ja, bist du denn toll? ... Was soll das heißen? Im Trikot, wie neulich?«
»Nein,« antwortete Clémence mit fester werdender Stimme ... »ohne Trikot ... ohne alles ...«
»Ganz nackt also?« fragte Charbonnel.
Clémence wiederholte deutlich:
»Ja ... ganz nackt!«
Und mit einem Entschlusse sagte sie rasch:
»Siehst du ... ich muß diesen Mann so sehn ... wegen François. Gestern, als er im Zirkus auftrat, ganz schwarz, da war mir's, als hätte ich einen Faustschlag bekommen ... und ich fühlte, wie Baby sich bewegte, Baby war unzufrieden damit. Und seitdem sehe ich immer diese ganze schwarze Gestalt im Trikot vor mir. Wenn du nicht tust, was ich will, bekommst du ein ganz schwarzes Kind, einen Mohren ... was viel Schlimmeres als einen Mohren ... Wenn ich aber sehe, daß Herr Jams-Jams schön weiß ist wie andre Männer ... und ... dann wird François ein schöner weißer Knabe, so weiß wie er. Also ...«
Vergeblich suchte Charbonnel seine Frau davon zu überzeugen, daß sie etwas Unsinniges und Unschickliches verlangte; daß sie ja, selbst wenn er, Charbonnel, einwilligte, noch der Einwilligung des Herrn Jams-Jams bedurften, der sie sicherlich für verrückt halten würde, wenn sie ihn bitten wollten, sich einer Dame nackt zu zeigen; vergeblich empörte er sich, redete er ihr vernünftig zu, drohte er ihr.
Clémence wiederholte, auf ihr Gelüst versessen:
»Ich will diesen Mann ohne Kleider sehn.«
Sie bekam endlich einen nervösen Anfall, sie schrie, weinte, phantasierte. Um sie zu beruhigen, versprach ihr der Champagneragent, zu tun, was sie verlangte. Da schlief sie totmüde ein.
Charbonnel hoffte, ihr Gelüst würde über Nacht vergehn. Aber gleich beim Erwachen sagte Clémence sehr ernsthaft:
»Du weißt, was du mir versprochen hast ... Du mußt gleich zu Jams-Jams gehn ... Sonst hab ich heute nachmittag wieder einen Anfall, und dann bring ich ein totes Kind zur Welt. Ganz sicher! ...«
Charbonnel widersprach ihr nicht; er ließ sich von ihr in die Kleider helfen, frisieren und mit den Worten zur Tür hinausschieben:
»Beeil dich nur, du bekommst kein Frühstück, wenn du mir keine Antwort heimbringst.«
Nach einer Stunde kam er wieder.
»Nun?« fragte Clémence, die ihn auf der Schwelle erwartete.
Ihr Mann sagte:
»Hör also ... Ich bin nicht zu diesem Herrn gegangen, weil er mich einfach zur Tür hinausgeworfen hätte. Ich habe Doktor Tierselin in seiner Wasserheilanstalt aufgesucht und ihn, der dich so gut kennt, um seinen Rat gebeten. Er hat mir gesagt, daß es bei deinem Zustande wirklich gefährlich wäre, dir nicht den Willen zu tun ...«
»Siehst du!« sagte Clémence.
»Laß mich ausreden ... Trotz unseres guten Willens hätten wir dir ohne eine fast wunderbare Fügung deinen Wunsch nicht erfüllen können ... denn du begreifst, nie im Leben hätte ich zugegeben, daß dieser Strohkopf Jams-Jams etwas von deinem Gelüst erführe ... Die wunderbare Fügung ist die: Jams-Jams nimmt alle Morgen gegen zehn Uhr bei Tierselin eine kalte Douche; Tierselin selbst verabreicht sie ihm. Wir werden morgen vor zehn Uhr zusammen in die Wasserheilanstalt gehn. Tierselin wird dich ganz nah beim Schwimmbassin in einer durch einen Vorhang abgeschlossenen Zelle verbergen, die mit seinem Sprechzimmer in Verbindung steht. Du wirst den Vorhang ein wenig aufheben und sehen, was du sehen willst. Jetzt aber möchte ich nicht weiter mit dir über dein krankhaftes Gelüsten sprechen.«
Clémence fiel ihrem Manne um den Hals, küßte ihn stürmisch und sagte:
»Ich bete dich an! ich bete dich an! ... Du wirst sehn, wie schön dein Sohn sein wird! ...«
Den ganzen Tag war sie gegen ihn von der zärtlichsten Unterwürfigkeit. Charbonnel aber war ernst und würdevoll, auch wohl ein bißchen traurig, wie es sich für einen Mann paßt, der aus Liebe ein großes Opfer bringt.
Die Dinge spielten sich am nächsten Morgen wie verabredet ab, der Doktor hatte sein möglichstes getan, um die Eitelkeit des Mannes und das Schamgefühl der Frau zu schonen. Charbonnels erschienen um ein halb zehn Uhr bei Tierselin, um sich die Anstalt anzusehen. Alle Einrichtungen wurden ihnen eingehend gezeigt; dann, als es gleich zehn Uhr war, sagte der Arzt:
»Ich habe um zehn Uhr einen Patienten zu douchen. Wollen Sie so lange in meinem Sprechzimmer warten? Ich komme gleich wieder.«
Er führte sie in sein Zimmer und ließ sie allein. Eine Tür führte von dort in einen kleinen halbdunkeln Raum, der vom Douchesaal durch einen Vorhang getrennt war: durch die Fransen hindurch sah man alles deutlich, ohne selbst gesehen werden zu können. Clémence, die in sehr guter Stimmung war, stellte sich links am Vorhang auf, Charbonnel blinzelte rechts durch die Fransen. Er hatte die unklare Empfindung, daß die Neugier seiner Frau weniger anstößig wäre, wenn er zugleich mit ihr hinschaute.
Gleich darauf trat ein Mann ein, der in einen Bademantel gehüllt war. Es war Jams-Jams. Er plauderte einen Augenblick mit dem Doktor. Dann warf er seinen Mantel dem Badediener zu und bot, die Hände flach an die Lenden gedrückt, seine Brust dem eisigen Wasserstrahl dar.
Charbonnel beobachtete den Vorgang, wider Willen interessiert. Der Akrobat erschien ihm kräftig gebaut, er sah schwerfälliger aus als in seinem schwarzen Trikot. Er war außergewöhnlich stark behaart, Rumpf, Arme und Beine waren mit Haaren geradezu bedeckt.
Die Douche dauerte nur einige Sekunden. Als der Champagneragent sich umwandte, sah er, daß seine Frau aus der Zelle verschwunden war. Sie war ins Sprechzimmer des Doktors zurückgekehrt. Er fand sie dort in Gedanken auf dem Ruhebett des Doktors sitzen.
»Nun,« sagte er nicht ohne Bitterkeit, »bist du jetzt zufrieden? Du hast gesehen, was du sehn wolltest.«
Sie schüttelte den Kopf.
»O! nicht lange ... Sobald der Herr den Bademantel abgelegt hatte, hab' ich mich entfernt.«
Charbonnel fragte:
»Warum denn?«
Sie machte ein verdrossenes Gesicht:
»Er ist greulich; er ist ja am ganzen Körper behaart, er sieht wie ein Affe aus ... Da dachte ich an Baby; ich sagte mir: »Wenn Baby so aussehn würde!«
Ich ließ den Vorhang fallen und flüchtete hierher, während du weiter zusahst ... Du kannst dir wohl denken, daß ich nicht möchte, daß François wie ein Affe aussieht!«
Und nach einiger Zeit begann sie wieder und sagte sehr ernst:
»Dann wäre es wirklich fast besser, er sähe wie ein Mohr aus.«