Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nach einem leichten und pikanten Frühstück, das nach dem Geschmack von Leuten zusammengestellt war, die alle von ihrem Gehirn und ihrer Feder leben, die Bücher, Stücke oder Feuilletons schreiben, saßen wir plaudernd im Rauchzimmer des Romanschriftstellers Armand G... Wir sprachen von der Invasion der Frauen in die zeitgenössische Literatur. Die Schriftstellerinnen sind in England Legion; von drei Romanen jenseit des Ozeans haben zweie Frauen zu Verfassern. Und mit der Zeit wird's auch in Frankreich so.
Die Gäste konstatierten diese Tatsache ohne besonderes Wohlwollen. V..., ein wütender »Schutzzöllner« in Sachen der Kunst, schimpfte auf die Schriftstellerinnen:
»Zu den allgemein weiblichen Fehlern kommen bei ihnen noch die wesentlichen Fehler des Schriftstellers hinzu,« sagte er. »Das gibt eine schreckliche Mischung ... Keine einzige hat bis jetzt ein Talent gezeigt, das das männliche Durchschnittstalent überstiege; aber neidischer, eitler und perfider sein als wir alle, das haben sie auf den ersten Anhieb heraus gehabt. Ich nehme mich vor meinen Kollegen im Unterrock wie vor Feuer in acht! ...«
»Ich glaube, ich habe mehr Glück gehabt als Sie, denn ich stehe mit vielen Schriftstellerinnen auf sehr freundlichem Fuße ... Und kürzlich erst war ich in der Lage, einen Vergleich zwischen einem männlichen und einem weiblichen Kollegen anzustellen, der sehr zugunsten des Unterrocks ausfiel.«
Diese gutgelaunte Antwort gab unser Wirt ihm. Wir verlangten etwas Näheres darüber zu hören.
»Sehr gern,« antwortete er. »Meine Geschichte ist sehr lehrreich; ein Pedant würde sie sogar einen guten Beitrag zur Kulturgeschichte der literarischen Frauen nennen. Also:
Wie Sie ja auch, wie wir alle, deren Namen in den Zeitschriften gedruckt werden, bekomme ich häufig Briefe von Unbekannten. Viele sind gänzlich inhaltlos, manche beleidigend, die meisten bitten um irgend eine Gefälligkeit oder um Geld. Diese Briefe lese ich immer mit einer gewissen Wehmut. Angesichts so eines Papierstückes, das aus irgend einem Provinzwinkel oder aus einem Viertel von Paris datiert ist, das vom Zentrum sehr weit abliegt, stelle ich mir die Angst, die Not des menschlichen Wesens vor, dem ich armer Mann der Feder ohne Genie und Vermögen für einen Augenblick ein Strahl der göttlichen Hoffnung war. Ich! ich! Warum gerade ich unter so vielen anderen? Ich weiß wohl, daß manche Berufsbettler das Adreßbuch zu Rate ziehen und an alle Künstler schreiben. Gleichviel. Ich nehme meine mir vom Schicksal angewiesene Rolle ernst, so gut ich es vermag. Ich antworte fast immer, ich teile ihnen wenigstens mit, daß ich ihnen nicht helfen kann.
Gegen Ende des vorigen Jahres also bekam ich einen Brief, der mit einem Namen unterzeichnet war, den ich nicht kannte: Jean Séguin. Einen Roman wollte mir der Betreffende vorlegen; ob ich, wenn er mir gefiele, vielleicht die Freundlichkeit haben würde, eine Zeitschrift und einen Verleger für ihn zu suchen? ...
Ich antwortete: ›Schicken Sie Ihr Manuskript ...‹ Denn wenn eine unserer langweiligsten Pflichten ist, fremde Manuskripte zu lesen, ich halte sie doch für unabweislich.
Das Manuskript ließ nicht lange auf sich warten: ein dickes Heft, eng vollgeschrieben von einer weiblichen Hand. Ich schlug es ohne sonderliche Begeisterung auf: so äußerst selten findet man in solchen Einsendungen etwas anderes als eine Art von unwissender Glut, – oder im höchsten Fall geschickte Nachahmung! Ich las die ersten Seiten gelangweilt: sie waren schwerfällig und unklar; dann hob sich auf einmal eine Situation aus einem sorgfältig geschilderten Milieu ab; offenbar war dies die persönliche Geschichte einer Frau, mit wirklich geschriebenen Briefen und erlebten Szenen ... Ich war so gefesselt, daß ich das dicke Heft in einem Zuge zu Ende las. Es wurde darüber Nacht, weiß ich noch; die Uhr schlug zwei. In der Freude über meine Entdeckung schrieb ich dem Autor sogleich einen Brief. Ich beglückwünschte ihn; ich bat ihn, mich zu besuchen, ich sagte ihm, er hätte Aussichten.
Zwei Tage darauf überbrachte mir mein treuer Constant eine Karte:
Jean Séguin
9, Rue Renouard.
›Die Dame sagt, sie wäre bestellt ...‹
So hatte ich richtig geraten: Jean Séguin war eine Frau.
Sie wurde hereingeführt. Ich sah eine kleine schwarzgekleidete Person von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem unregelmäßigen, aber erfreulich frischen Gesicht, das von natürlich gewelltem, kastanienbraunem Haar umrahmt wurde. Der etwas zu große Mund lächelte; die Nase hatte nichts Besonderes; die braunen, fest blickenden Augen besaßen Tiefe und Intelligenz.
›Sind Sie, gnädiges Fräulein, die Verfasserin der »Tödlichen Prüfung?«‹ fragte ich.
›Ja, mein Herr.‹
›Nun, mir gefällt der Titel nicht, aber der Roman ist sehr gut. Ich bin überrascht, daß eine so junge Dame gleich so etwas hat schreiben können ...‹
›O, mein Herr, ich schreibe schon lange.‹
›Wirklich? ...‹
Ohne Schüchternheit, sogar mit einer beinahe amüsanten Sicherheit erzählte sie mir, daß sie Privatlehrerin sei, aber von Kind auf gern allerlei aufgeschrieben habe. Es liege übrigens in der Familie.
›Ich habe einen Onkel in der Provinz, der Professor ist und Bücher über Erziehung geschrieben hat. Und mein Vater hat auch geschrieben ... früher ...‹
›Ach, Ihr Herr Vater? ...‹
›Es ist lange her ... Jetzt schreibt er nicht mehr ...‹
Sie ging rasch auf ein anderes Thema über, und ich fragte natürlich nicht weiter. Sie schien sich mehr und mehr zu Hause zu fühlen, sie erzählte von ihren Plänen, ihre ganze Zukunft stand schon fertig in ihrem fünfundzwanzigjährigen Kopfe da. Ich sah, sie kannte alle Schwierigkeiten des literarischen Berufes; sie übertrieb sie sogar. Und zugleich legte sie in ihr Urteil ihre Erwartungen, jenen blinden Glauben ans Glück, jene Hochachtung vor einer selbstgeschaffenen Stellung, jenen etwas kleinlichen, kindlichen Geist der Ordnung, den man auf dem Grunde jeder weiblichen Tätigkeit findet.
Alles in allem mißfiel sie mir nicht: sie war schon ganz und gar Schriftstellerin, aber sehr begeisterungsfähig, ohne die geringste Spur von Neid oder Bitterkeit. Ihre etwas übertriebene Sicherheit wurde durch wirkliches Talent gerechtfertigt.
Wir schieden als gute Freunde. Sie nahm ihr Manuskript wieder mit, da sie noch einige Lichter aufsetzen wollte. Den Tag darauf begab ich mich auf die Suche, um die ›Tödliche Prüfung‹ unterzubringen.
Die Lehrerin hatte recht, wenn sie an ihr Glück glaubte. Die Rundschau, an die ich mich wandte, brauchte grade eine Erzählung von mittlerem Umfang zu bescheidenem Preise, um sie zwischen zwei große teure Romane zu schieben. Mein Verleger aber, der an jenem Tage grade sehr gut aufgelegt war, weil er eben die Nachricht erhalten hatte, er werde nächstens einen Orden bekommen, unterbrach mich nach den ersten Worten:
›Von dir nehme ich alles unbesehen an ... Schick mir deine George Sand.‹
Ich teilte die guten Nachrichten sogleich Jean Séguin mit und bat sie, mir das Manuskript so rasch wie möglich wieder zuzustellen, da die Rundschau es sogleich haben wolle. Zu meiner lebhaften Überraschung zeigte sich das junge Mädchen nicht, und ich erhielt auch keine Antwort. Die Zeit verging, ich schrieb noch einmal. Diesmal kam ein Stadttelegramm:
›Entschuldigen Sie mich, mein Herr, und denken Sie nicht mehr an mein Buch. Mein Vater ist augenblicklich sehr krank, und ich kann ihn keinen Augenblick verlassen ...‹
Was war da zu tun? ... Ich verhielt mich ruhig. Die Rundschau begann einen andern Roman abzudrucken; mein Verleger dachte, nachdem er mich ein paarmal gefragt hatte: ›Nun, was ist mit deiner George Sand? ...‹ nicht mehr an die Sache. Und ich selbst vergaß sie über anderen Dingen.
Mehr als ein Monat verging. Das neue Jahr war gekommen, und ich dachte längst nicht mehr an Jean Séguin, als Constant mir eines Morgens wieder ihre Karte brachte. Das junge Mädchen trat ein, drückte mir die Hand und setzte sich. Es war noch immer dasselbe kluge gütige Gesicht, aber abgearbeitet, fast alt geworden durch Ermüdung und Kummer. Sie lächelte traurig mit ihrem großen Munde, der so gesunde Zähne hatte, und sagte:
›Finden Sie mich verändert? ...‹
›Ich finde, Sie sehen etwas angegriffen aus ... geht's jetzt wieder besser?‹
›Nicht viel besser ... Mein Vater ist herzleidend, alle Widerwärtigkeiten nehmen ihn immer furchtbar mit. Aber wenigstens ist er jetzt außer Gefahr.‹
›Und die »Tödliche Prüfung«? Sie bringen sie mir nicht wieder?‹
Sie blickte mir in die Augen, biß sich mit amüsantem Zaudern die Lippen und brach, als ich weiter in sie drang, plötzlich in Tränen aus. – Sie weinte, weinte, schluchzte wie ein Kind und stammelte:
›Vorbei ... alles vorbei ... ich kann den Roman nicht mehr veröffentlichen ... alles vorbei ...‹
Als dieser Ausbruch vorüber war, trocknete sie energisch ihre Tränen und sagte:
›Verzeihen Sie, mein Herr ... ich mache mich lächerlich ... daß ich meinen Nerven so nachgebe ... Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Ich will nicht, daß Sie mich für verdreht halten ... Aber ich bitte Sie um Diskretion ... Mein wahrer Name ist Georgette L...‹
Sie nannte mir einen Namen, den Sie alle kennen, wie ich ihn kenne. Ich werde ihn verschweigen, da sie es so wünscht. Es ist der Name eines alten Schriftstellers, zu dem unsere Generation nur wenig Beziehungen hatte, den unsere Vorgänger aber als den vollendeten Typus des mißgünstigen Neidhammels gekannt haben. Er selbst war ohne Talent, ohne Erfolg, so haßte er denn das Talent und den Erfolg der anderen. Sein Charakter verfeindete ihn sogar mit den andern Mißvergnügten seines Kreises; eine häßliche Duellgeschichte brachte ihn endlich ganz in Mißkredit, und keine Redaktion wollte mehr etwas von ihm wissen. Seitdem lebt er einsam und verbittert mit seiner Tochter, oder vielmehr von seiner Tochter.
Das magere gallige Gesicht, die kraftlose Stimme dieses unangenehmen Kollegen stiegen in meiner Erinnerung auf, als Georgette L... von ihm sprach. Sie erklärte mir, warum ich das Manuskript der »Tödlichen Prüfung« nicht erhalten hatte, und warum es nie erscheinen könnte. L..., der in seiner Häuslichkeit ebenso neidisch ist wie im Umgang mit den Kollegen, hatte die Arbeiten seiner Tochter immer lächerlich gemacht.
›Das ist eine Idee, diesen schmutzigen Beruf zu ergreifen! Glücklicherweise ist das, was du dir aus dem Federhalter saugst, zu kindisch und zu dumm, als daß es je gedruckt werden könnte ... Begnüge dich damit, deinen Rotznasen das Abc beizubringen! ...‹
In ihrer Freude über meinen Brief, der ihr sagte, wie erfolgreich ich bei der Rundschau und dem Verleger für sie eingetreten wäre, hatte Georgette die Unklugheit begangen, ihrem Vater alles zu erzählen.
›Ich glaubte, er würde sofort ersticken ... Er fiel auf einen Stuhl und riß sich den Hemdkragen auf ... Einige Minuten konnte er nicht sprechen. Dann kam er wieder ein wenig zu Kräften, er überschüttete mich mit Vorwürfen, er sagte, ich hätte mich dem Verleger, dem Redakteur, Ihnen sogar, mein Herr, hingegeben! ... Dann kam der Erstickungsanfall wieder, und eine Woche lang war er wirklich in Lebensgefahr ... Dann haben wir mit dem Arzt gemeinsam, der ein guter Freund unseres Hauses ist und uns genau kennt, eine Geschichte erfunden, um ihn zu beruhigen: mein Plan sei gescheitert, die Rundschau und der Verleger wollten den Roman nicht mehr haben ... Papa hat gesehen, wie verzweifelt ich war; das hat ihm wohlgetan ... Allmählich ging's dann wieder besser mit ihm. Jetzt ist er ganz gesund; nur ist er noch mißtrauisch. Er hat das Manuskript der »Tödlichen Prüfung« eingeschlossen und beobachtet mich, um mich am Schreiben zu verhindern, sobald ich eine Feder in die Hand nehme ...‹
›Was also wollen Sie tun?‹ ... fragte ich.
›Ich bleibe Lehrerin.‹
Große Tränen rollten über ihre Wangen und rollten zu den Winkeln ihres großen Mundes hinunter, der trotz allem lächelte und zeigte, daß der Sinn für Ironie noch nicht ganz in der Verzweiflung des armen Mädchens ertrunken war, das beim ersten Versuch, schriftstellerisch an die Öffentlichkeit zu treten, dem schlechtesten männlichen Kollegen von Paris – ihrem eigenen Vater – in die Hände gefallen war ...«