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Von dem Bruder Festus, und wie Herzen und Gedanken in dieser Welt so gar kuriosen Lauf nehmen.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, mit welchem der junge Vikar des Pfarrers Chrysostomus auf dem westfälischen Ufer die Waldhörner des Grafen von Pyrmont in der Ferne verhallen hörte und den Fackelschein verleuchten sah an den Bergen. Ein unendlich tiefes, namenloses Sehnen, welches längst sein Herz eingenommen hatte, überkam ihn ob diesen verzitternden Tönen in der dunklen Nacht, während der große Komet am Himmel erglühte, mit doppelter Gewalt.
Es sagt der Spruch:
»Krieg, Aufruhr, Blutvergießen viel
Dir ein Komet besagen will;
Unter den Leuten große Not,
Auch großer Herrn und König Tod.«
Ja, »unter den Leuten große Not« deutete der fremde, furchtbare Stern an, und dräuend leuchtete er auch über dem Haupte des Vikars Festus.
Erst eine kurze Zeit, kaum ein Jahr, war vergangen seit dem Tage, an welchem Festus, der Mönch, aus seinem Kloster in der Pfaffengasse am Rhein in dem armen Dorfe Stahle an der Weser angekommen war, grad wie »der Wind die Schwalben herwehete«.
Der Bruder Festus kam zu Fuß, den Wanderstab in der Hand, ohne irgendein anderes Hab und Gut als ein kleines Meßbuch, welches er selbst mit hübschen Bildern und bunten, goldenen Initialen ausgeziert hatte; denn er war ein guter Maler und wußte den Griffel und den Pinsel gleich wohl mit künstlicher Hand zu führen.
Es war ein Abend gegen das Ende des April, als er in das Dorf an der Weser müde einwanderte und das Pfarrhaus erfragte von den grüßenden Bauern, welche seiner Ankunft schon lange entgegengesehen hatten. Sämtliche Kinder des Dorfes geleiteten ihn nach der niedern, mit Stroh gedeckten Hütte, und aus der Pforte derselben trat der alte Chrysostomus und streckte dem scheuen, errötenden Ankömmling beide zitternde Hände entgegen und sprach:
»Gesegnet sei dein Eingang, mein liebes Kind! Sehnlichst haben wir dich erwartet, geliebter Sohn; nun gehe ein unter das Dach deiner Heimat und ruhe deine müden Füße!«
Und Festus hatte dem Greise die Hand geküßt und dieselbe Hand segnend auf seinem Scheitel gefühlt. Dann hatte er sein Hülfsamt damit begonnen, daß er den alten Mann, sorgsam ihn unterstützend, zurückführte in das Haus. Mit heiligem Eifer widmete er sich dem ihm auferlegten Amte, in träumischer Gottinnigkeit die stille Weise des Klosters in das Leben übertragend.
Bis in den fruchtreichen, segenvollen Herbst des Jahres 1555 saß er ruhig und still, hörte die Weser unter seinem Fenster vorüberrauschen, tröstete die Irrenden und die Betrübten, pflegte die Kranken und die Blumen des alten Chrysostomus und malte auf zierlich ausgeschnittenes Papier für die Kinder des Dorfes, die jungen Dirnen und Bursche den heiligen Georg und die heilige Agathe, die Mutter Maria und Sankt Peter mit den Schlüsseln oder der Geiß, auch viele andere heilige Männer und Frauen mit allerhand Marterwerkzeugen in den Händen. Am liebsten gab er freilich allen seinen Märtyrern statt der blutigen, grausamen Werkzeuge den stillen grünen Palmenzweig in die Hand. Und um jedes Bildnis malte er fein und zierlich einen Blütenkranz von Rosen oder Lilien oder von beiden zugleich. Der Bruder Festus liebte sehr die Rosen und die Lilien.
Aber nicht allein die katholischen jungen Herzen beschenkte er mit solchen bunten Bildern; auch die lutherischen Kinder drüben am rechten Ufer des Flusses hatten solche zierliche Blättlein gern, und manch ein farbenreiches Blatt von der Hand des Bruders Festus flatterte über den Strom und nistete sich ein in einem ketzerischen Gesangbuch.
Lag ja auch, zum Exempel, ein solches Bild der gottseligen Jungfrau in dem Liederbuch Martin Luthers, welches Eigentum der holden Monika Fichtner war. Klaus Eckenbrecher hatte es natürlich eingefangen, wer weiß wo, und es seinem Schatz zugesteckt in der Nachmittagskirche. –
So flossen, wie gesagt, in müdem Frieden die Tage dem Bruder Festus dahin bis in den Herbst hinein, wo ein seltsames Ereignis auf das Dorf Stahle und den jungen Vikarius fiel und den letztern aus allem, was bisher einzig und allein seine Welt gebildet hatte, herausriß, ihn verstörte, verwirrte, erschütterte bis in das tiefste Herz.
Eine Woche nach dem ewig denkwürdigen Tage, an welchem der König Ferdinand zu Augsburg den Religionsfrieden abschloß, zog gegen Abend ein grausames Ungewitter nach einem schwülen Tage über den Heinser Wald heran und fing sich in den Bergen, welche das Tal bilden, worin das Dorf Stahle und die Stadt Holzminden liegen, wie in einem Sacke.
Tiefdunkel ward's, und alle Leute reckten mit Grausen die Hälse empor und harrten in Furcht des Unwetters, welches da kommen sollte. Bald brach es auch los mit aller Gewalt. Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner. Ringsumher in der Gegend läutete man auf allen Kirchtürmen – katholischen und protestantischen – die Wetterglocke. In jedem Haus weit und breit streute man Salz auf die Tischecken, betete man den Wettersegen.
Aber was geschehen sollte, geschah!
Es fuhr ein Strahl herab aus den schwarzen Wolken, zündete in Stahle ein Strohdach an und brachte das ganze Dorf in die größte Gefahr; denn bald standen mehrere Hütten und erntevolle Scheuern in lichten Flammen.
Vor einer Woche noch hätte das lutherische Ufer die Katholiken drüben mit Haus und Hof, Weib und Kind, Katze und Kegel verbrennen lassen, ohne Hand und Fuß zu rühren. Man würde nur die Achseln gezuckt, geseufzt und andächtige Betrachtungen über das wohlverdiente Unglück der Leute, die es nicht besser haben wollten, angestellt haben; jetzt aber stürzte sich die Bevölkerung des Städtleins, der Pastor Fichtner an der Spitze, in alle vorhandenen Kähne und Schiffe und kreuzte trotz Donner und Blitz, Wetter und Sturm den Fluß, um den hochbedrängten Nachbarn christliche Hülfe zu bringen in ihrer Not.
Den vereinigten Anstrengungen der Dörfler und der Städter, sowie dem gleich darauf lustig hereinbrechenden Platzregen gelang es denn auch bald, dem Feuer Einhalt zu tun, und nach Löschung des Brandes feierten der Pfarrer Chrysostomus und der Pastor Valentin Fichtner ein eigentümliches Wiederfinden.
In ihrer Jugend waren beide gute Freunde gewesen, wenn auch der katholische Geistliche dem protestantischen bedeutend an Alter vorging. Der Sturm der Reformation hatte sie auseinander gerissen, und sie waren als bittere Feinde voneinander geschieden.
Wohl hatten sie sich dann das letzte Jahrzehent hindurch als Nachbarn gewußt – nur durch den Fluß getrennt –, aber keiner hatte diese Nachbarschaft zu neuem freundschaftlichen Anknüpfen benutzen wollen.
Nun saßen sie, nachdem sie das Schicksal auf solche Art durch einen andern Sturm wiederum zusammengeführt hatte, beide alt und grau zum erstenmal nach so langer Zeit unter demselben Dache zusammen. Und der Katholik und der Lutheraner senkten die Häupter, sprachen von der Jugend, der alten Zeit und schüttelten sich die Hände ob der halberloschenen Erinnerungen.
Die geistlichen Berührungspunkte vermieden sie sorgsam, denn beide Männer kannten das damals aufkommende Wort: daß man mit dem Auge und der Religion vorsichtig umgehen müsse, wenn man in guter Freundschaft zu bleiben wünsche.
Der Vikar Festus lehnte während des Gespräches der beiden Alten an dem Stuhle seines Vorgesetzten und horchte mit allergrößter Gespanntheit.
Es war das erstemal, daß er einen lutherischen Priester, einen aus dem Heerlager des Feindes, in der Nähe sah. So ließ er sich nichts entgehen und hing mit ganzer Aufmerksamkeit an der rüstigen, festen, kernigen Gestalt und dem ernsten, biedern Gesichte des Pastors von Holzminden. Er konnte nicht anders, er mußte sich gestehen, daß wohl auch ein tüchtiger Geist in dieser tüchtigen Körperhülle wohnen müsse.
Nun sprach der Mann gar, ganz unbefangen, von seiner guten, toten Ehefrau, von seinem auf dem Schlachtfelde gefallenen Sohne und von seinem lieben Kindlein, der Monika, als ob das alles etwas ganz Natürliches sei und als ob durchaus nicht eine Verfinsterung des Himmels und ein Beben der Erde bis in die tiefsten Eingeweide die Folge davon sein werde.
In eine ganz andere Welt, eine unbegreifliche Welt sah der Vikarius dabei. Ein Gefühl tiefster Unruhe und Beängstigung überkam ihn, eine Beklemmung, welche er auf keine Weise loszuwerden wußte, welche ihn nachher durch Tag und Nacht verfolgte.
Also das waren die Ketzer, die nun schon nach Millionen zählten, welche Tausende und aber Tausende von Schwertern, Speerspitzen und Büchsenmündungen vorstrecken konnten, wenn man sie angriff; die Ketzer, welche blutige Schlachten geschlagen hatten, besiegt worden waren, gesiegt hatten, die Ketzer, welche so viele Bücher schrieben und druckten, so viele Kirchen bauten, so viele Glocken läuteten durch die ganze Christenheit?! ...
Der geheimnisvolle, unheimliche Schleier, welchen die Ferne dem jungen Mönch um die Anhänger des neuen Glaubens gewoben hatte, lichtete sich plötzlich: die Gestalten, welche aus dem Nebel hervortraten, atmeten, sprachen, fühlten in Leidenschaft und Liebe gleich den Kindern der alleinseligmachenden Kirche. Gegen Schluß des Gespräches zwischen dem Pastor Fichtner und dem Pfarrer Chrysostomus wagte der Bruder Festus selbst ein Wort mit in die Unterredung zu werfen. Der Ring, welcher den Vikarius in den Kreis gewisser Meinungen und Anschauungen bannte, war gebrochen! –
Die letzten Wetterwolken hatten sich längst zerstreut. Hier und da wälzten sich freilich noch einige dunkle Massen über den Abendhimmel dem Norden zu; über den westlichen Bergen aber ging die Sonne glühend unter. Die niedergebrannten Hütten sandten nur noch unschädliche schwarze Rauchwolken aus ihren Trümmern hervor.
Die meisten Kähne der Städter hatten bereits den Fluß wieder gekreuzt oder schwammen eben über ihn hin, und zuletzt nahm auch der Pastor von Holzminden seinen Abschied von dem greisen, wiedergefundenen Freund.
Chrysostomus und sein Vikarius begleiteten ihn bis zu seinem Schifflein und blieben am Ufer stehen, ihm nachzuschauen, bis der Kahn den dunkelgewordenen Augen des Greises verschwand. Darauf ging der Alte zurück, die abgebrannten Pfarrkinder zu trösten und für ihr Unterkommen Sorge zu tragen; sein junger Amtsgehülfe dagegen zögerte noch ferner am Ufer und verfolgte das heimkehrende lutherische Schifflein mit den Blicken, bis zum gegenüberliegenden Landungsplatz.
Er hatte sehr scharfe Augen und sah deutlich, wie der Pastor Fichtner von einer Frauengestalt empfangen wurde. Lächelnd ertappte er sich über allerlei Vermutungen, ob das wohl die Monika sei, von welcher der geistliche Herr vorhin geredet hatte.
Dann kam aber auch über ihn die Not und das Gewimmel des erschreckten Dorfes und riß ihn aus seinen Träumereien empor. Die Klagen der Abgebrannten, das Weinen der Weiber um ihre verlorenen armen Habseligkeiten drängten seine Gedanken gewaltig in eine andere Richtung, und er ging, für eine obdachlos gewordene Ziege einen Unterschlupf ausfindig zu machen.
Der uralte Chrysostomus saß nach Sonnenuntergang noch lange in die Nacht hinein – ganz gegen seine sonstige Gewohnheit; denn er ging mit den Vögeln zu Bette und stand mit ihrem Morgenlied auf vom Lager. Er grübelte und sann und gedachte; wie doch alles so ganz anders geworden sei in der Welt und welch ein mächtiger Wille seine lenkende Hand ausstrecken müsse über all das in sich kochende und brodelnde Gewimmel des wunderlichen Menschenvolkes. Ihm war die Zeit des Hassens längst vergangen, mit der Hülfsbedürftigkeit war die Milde in sein Herz eingezogen.
Lächelnd schlief er über dem Gedanken: wie vergeblich doch aller Streit sei – ein; er war jedoch viel zu alt, um auch noch darüber zu träumen!
Mit einem andern Gedanken erwachte er am andern Morgen mit den Vögeln, wie gesagt. Frisch standen die Ereignisse und Erlebnisse des vergangenen Tages vor seiner Seele, und als um Mittag die Herbstsonne am wärmsten strahlte, fuhr er in Begleitung seines Vikars über den Fluß, um dem lutherischen Pastor seinen Gegenbesuch abzustatten, um demselben in dessen eigener Behausung nochmals für die gestern geleistete wackere Hülfe in der Not zu danken.
Da war's, daß der Bruder Festus zum erstenmal den Fuß auf das rechte Ufer der Weser setzte, und sollte ihm das zu irdischem Verderb und unsäglichem Leide werden. So wollte es das Geschick!
Langsam führte er, nachdem der Kahn gelandet war, seinen alten Freund und Amtsherrn den abschüssigen Uferhang hinauf und trat mit ihm in die offene Tür des Pastorengartens, zu welchem mehrere ausgehöhlte Steinstufen in die Höhe führten.
Der Tag war warm und still, Wandervögel zogen hoch in der blauen, hellen Luft; der süße, heimliche Duft, welchen der Herbst so künstlich zu weben versteht, lag über der ganzen Gegend. Silberne Marienfäden hielten die Felder übersponnen oder schwebten langsam getragen einher und verhingen Weg und Steg.
Schon hatten Büsche und Bäume ihr vielfarbig Herbstgewand angelegt, und erstere prangten anstatt mit Blüten im zierlichen Schmuck ihrer roten, schwarzen, blauen und weißen Beeren. Obgleich allgemach manches gelbe Blatt sich loslöste von den Zweigen der abgeleerten Obstbäume, so waren doch die engen Wege des Gartens, durch welche die beiden katholischen Herren schritten, schmuck und rein gehalten. Man ahnte, daß eine sorgliche Hand hier waltete und alles in Ordnung hielt.
Niemand war zu erblicken, doch summte ganz leise hinter einem Gebüsch eine Mädchenstimme den Schlußreim eines Liedes.
Und als die beiden Männer um dieses Gebüsch herumschritten, richtete sich die Sängerin, eine junge liebliche Maid, erschrocken und errötend auf von einem Beet voll blühender Astern.
Der alte Chrysostomus trat aber lächelnd sogleich auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen mit den Worten:
»Grüß Euch Gott, schönes Jungfräulein! Erschrecket nicht vor einem alten Mann! Nicht wahr, Ihr seid die Monika – die Monika Fichtner?«
»Ja, Herr!« sagte das junge Mädchen und fügte zögernd hinzu: »Der Vater ist in seinem Studierstüblein; wollet Ihr ihn sehen, so will ich Euch den Weg weisen.«
Der Pfarrer von Stahle neigte das Haupt, und Monika schritt den beiden fremden geistlichen Herren voran, die enge Treppe hinauf. Mit leisem Finger klopfte sie an die Tür ihres Vaters – sie wußte, daß er sich nicht gern stören ließ in seiner Arbeit.
Der Bruder Festus hatte nur Augen für das liebliche Kind; er schaute sich nicht um, sonst würde er wohl gesehen haben, daß noch jemand hinter den herbstlichen Büschen des Gartens sich umhertrieb, sehr verdrossen wegen des Besuches, der ihm die Monika von ihrem Asternbeete forttrieb.
Aber der Vikarius Festus kannte unsern lieben Freund Klaus Eckenbrecher nicht. Wie sollte er wissen, daß es einen solchen hoffnungsvollen jungen Menschen im alten Oggegau gab?
»Vater, zwei geistliche Herren wünschen Euch zu sehen!« rief Monika in das Studierzimmer des Magisters Fichtner, welches sich von der Ausstattung des Wohngemaches im Pfarrhaus zu Stahle sehr unterschied.
Der lutherische Pastor besaß sehr viele Bücher, der katholische Pfarrgeistliche eigentlich gar keine. Der katholische Pfarrgeistliche hegte und pflegte Vögel aller Art, Vögel in Bauern und frei umherhüpfende Vögel; der lutherische Pastor konnte – ecclesia militante – solch zwitscherndes, pfeifendes Gesindel durchaus nicht um sich dulden, es störte ihn allzusehr bei der Arbeit.
»Sie sind willkommen«, sagte Ehrn Valentin, ohne sich umzuschauen, und beendete den angefangenen Satz. Dann warf er die Feder fort, erhob sich schnell aus seinem Sessel und trat den Besuchern entgegen. Seine Brauen waren noch düster zusammengezogen; denn er hatte soeben an einer Predigt voll Haß und Grimm gegen das »Babstthumb« geschrieben, und die faltenreiche Stirn, die zusammengepreßten Lippen gaben sattsam Zeugnis von dem Kampfeseifer, mit welchem sich der wackere Mann in dem wogenden Streitgetümmel dieses kämpfenden, ächzenden, keuchenden sechzehnten Jahrhunderts bewegte.
Beim Anblick des milden Greisenhauptes des Chrysostomus glättete sich die Stirn, legten sich die Brauen auseinander, öffneten sich die Lippen zu einem freundlichen Lächeln.
»Ei, das ist wacker von Euch, daß Ihr kommet; seid gegrüßet und herzlich willkommen!« rief der Pastor.
Jedem der Besucher bot er die starke, knochige Rechte.
»Hier setzet Euch, Chrysostomus, die Monika mag Euch ein Kissen holen für den alten Rücken!«
Er schob dem Alten den eigenen Lehnstuhl hin und bat auch den Vikarius, sich niederzulassen.
Dann befahl er der Monika, aus dem Keller einen Krug jenes allberühmten Einbecker Bieres zu holen, welches der fromme, gute Herzog Erich, des Kaisers Maximilianus Freund, und der Mann Gottes, der Doktor Martin Luther, so gern tranken. Mit dem Ritter und dem Reformator war ja das ganze trinkverständige Deutschland einig in dem Lob und Ruhm dieses edeln, herzstärkenden Getränkes.
Auf das Gebot des Vaters schlüpfte das Töchterchen sogleich aus dem Zimmer und kam nach kurzer Zeit zurück, den steinernen Henkelkrug in der einen Hand tragend und drei künstliche silberne Becher in der andern.
Es war ein so niedlich hausfrauliches Wesen in dem Schaffen der Monika, daß die verstohlenen Blicke des Jüngern katholischen Geistlichen immer häufiger wurden und er mehr als einmal eine etwas verkehrte, verworrene Antwort dem alten Fichtner oder seinem Vorgesetzten gab.
Der Bruder Festus war ein halber Künstler und hatte einen feinen Blick für alles Schöne; er nahm sich vor, künftig die heilige Agnes und die Agathe und die andern heiligen Jungfrauen immer nur mit blondem Haargelock darzustellen auf seinen Bildwerken. Innerlich seufzend, gestand er sich, daß er bis jetzt doch noch nicht ein rechter Maler gewesen sei – das große Geheimnis der ewigen Schönheit enthüllte sich ihm urplötzlich; er war gleich einem Blinden, welchem durch ein Wunder das Augenlicht verliehen ward.
Armer Festus! Unseliger Bruder Festus! –
Das Gespräch der beiden Alten drehte sich, nachdem die Danksagungen für die gestrige Hülfe beim Brande nochmals vorgebracht und abgewehrt waren, natürlich nur um das große Ereignis der Zeit, welches die ganze christliche Welt bewegte, um den Abschluß des Religionsfriedens zu Augsburg und seine möglichen Folgen.
»So ist denn der erste Schritt getan, und der Fuß unseres Glaubens ruht auf festem Grund!« sprach der Protestant.
»Und die Welt hat Frieden – endlich, endlich Frieden!« sagte der alte Katholik.
»So lange, als er dauert«, sprach der Protestant. »Gott tut kein Werk halb – was er anfängt, das führt er herrlich hinaus.«
Chrysostomus neigte das Haupt: »Nicht mehr erwürgen sich die Brüder untereinander gleich den wilden Tieren des Waldes; nicht mehr werden die allerverborgensten Täler mit Mord und Brand gefüllt sein jenes wegen, der da sagte: Wie schön ist's, wenn Brüder einträchtiglich beieinander wohnen!«
»Welcher aber auch sagte: Ich bin nicht gekommen, den Frieden, sondern das Schwert in diese Welt zu bringen!« sprach der Pastor Fichtner, und seine Brauen zogen sich wieder zusammen, und die geballte Hand legte er auf die auf dem Tische aufgeschlagene Bibel.
Er ward aber unterbrochen durch sein Kind, die Monika, welche wieder in das Gemach trat und ein zierlich Sträußlein von Herbstblumen in der Hand trug. Dieses Sträußlein bot sie dem greisen Pfarrer von Stahle und erglühte dabei nicht wenig ob ihrer Kühnheit. Es war auch sehr hübsch anzusehen, wie sie sich niederbeugte und ein heller Sonnenstrahl durch ihre blonden Locken strahlte, daß sie ganz goldig schimmerten.
Ihr Vater lächelte ihr freundlich zu und nickte sehr befriedigt über ihr Tun.
Der alte Chrysostomus aber rief:
»Dank, Dank, mein liebes Kindelein! Schau, ich bin eines andern Glaubens als du; aber der Segen eines Greisen hat seine Kraft durch die ganze weite Welt: so nimm ihn an, den Segen eines alten Mannes und Freundes, du schöne Jungfrau!«
Die Monika neigte das feine Köpfchen unter die zitternde Hand des katholischen Geistlichen, und der Pastor Valentin Fichtner nickte abermals zustimmend und sagte weiter nichts als:
»Jaja, es ist also! Ich danke dir, Chrysostomus!«
Also fanden sich die Pfarrhäuser des rechten und des linken Ufers der Weser wieder zusammen; seit dem großen Jahre der Scheidung eintausendfünfhundertundsiebenundzehn, in welchem Jahre es auf dem Kirchturm der Menschheit einmal wieder zwölf schlug und alles Volk vom Tische in ein neues Weltenjahr hineinsprang.
»Die neue Zeit ist über mich gekommen wie ein Traum; wie oft habe ich geglaubt, nun sei das Jüngste Gericht vor der Tür, nun werde die Posaune des erweckenden Engels alsogleich erschallen; aber es wechselt Tag und Nacht, und alles geht seinen Gang: der Herr führt es nach seinem Willen!«
So sprach Chrysostomus zu seinem sinnenden jungen Begleiter, als der Ruderschlag des Knechtes den Kahn zurück über die gelben Fluten trieb.
Es war aber dem Bruder Festus, als raune ihm unaufhörlich eine Stimme ins Ohr:
»Wachet und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtung fallet!«
Er schaute nicht zurück nach dem lutherischen Ufer, obgleich er sich darin große Gewalt antun mußte. Und als er zu Hause angekommen war, schritt er über den kleinen Gottesacker des Dorfes in die stille Kirche, kniete nieder an dem Altar, über welchem die gnadenreiche Mutter der Schmerzen mit dem heiligen Kinde gemalt war, und betete eifrigst, inbrünstig.
Den alten, müden Chrysostomus überkam wieder ein tiefer Schlummer in seinem Kämmerlein.
Der Pastor Valentin Fichtner schritt zurück zu seiner Predigt; aber er konnte an diesem Tage nicht weiter daran schreiben.
Die holde Monika stand am Herde und sah sinnend in die knisternden Flammen, bis draußen ein wohlbekanntes, lustiges Pfeifen erklang. Das war der Lockruf Klaus Eckenbrechers, welcher seine Angelrute als Vorwand benutzte, sich unter der Mauer des Pastorengartens aufhalten zu dürfen. –
Am folgenden Tage regnete es, und das Plätschern der Dachrinnen hörte in vier Wochen nicht auf. Als es damit endlich zu Ende kam, war der Winter ins Land frühzeitig eingerückt mit seinem Schnee, seinen dunklen Tagen und langen Nächten. Im Dezember war die Weser so fest gefroren, daß sie Wagen und Reiter trug; trotzdem hatten die beiden Pfarrhäuser nicht weiter miteinander Verkehr gehabt.
Dann waren die Tage allmählich wieder länger geworden, der Schnee war zerflossen; mit donnerartigem Krachen hatte der Fluß seine Eisdecke gesprengt. Im wirbelnden Zug hatten sich die Schollen durch die Berge und die Porta Westfalica hinausgedrängt in das offene Land. Die Kähne und Schiffe waren in ihr Recht zurückgetreten.
Der Komet war emporgestiegen!
Und jetzt wollte es von neuem Frühling werden. Die Waldanemonen, die Schneeglöckchen, die Veilchen und die Leberblümchen lugten aus der Erde oder öffneten bereits ihre Knospen. Alles Lebendige fing an, sich zu regen.
Noch immer war der junge Pfarrgeistliche aus dem katholischen Lande nicht wieder eingekehrt in dem lutherischen Pfarrhaus. Manch liebes Mal hatte freilich sein Auge drüben an den blitzenden Fenstern gehangen, wenn die Abendsonne oder der Mondschein auf ihnen blitzte. Manch liebes Mal war er aufgefahren aus tiefstem Sinnen – aufgefahren, erschrocken ob seinen Gedanken und Träumen. Dann hatte er sich jedesmal verborgen in Dunkelheit und Einsamkeit und gebetet – heiß und inbrünstig gebetet!
Aber ewig und immer waren dieselben Gedanken, dasselbe Bildnis um ihn und in ihm.
Weder durch Gebet noch durch Fasten und Kasteiung konnte er diese Gedanken verscheuchen, dieses Bild auslöschen in seiner Seele. Und zu niemand, niemand durfte er sprechen, keinem Menschen konnte er seine große Not klagen.
Jawohl ist wunderlich der Menschenherzen Lauf!
Und jetzt verklangen die letzten Töne der Waldhörner des Grafen von Pyrmont in der Flußbiegung am Heinser Walde, und der Bruder Festus stand am Ufer im tiefen Schatten wie festgebannt und lauschte. Sein Herz pochte in seiner Brust.
O Frühling und Freiheit, o Fesseln und Bande! O Festus, Festus!
Leise plätscherten und spielten die dunkelleuchtenden Wasser zu den Füßen des Mönches. Er gedachte an seine Jugend, an die hohen Mauern des Klosters, die kalten, kahlen Zellen, die öden Säle und widerhallenden, finsteren Kreuzgänge, er gedachte an einen von den Obern Verurteilten, welchem er einst das schwarze Brod und den Wasserkrug in die vermauerte Zelle zu reichen hatte. Inmitten der Frühlingsnacht fiel es ihm ertötend kalt und eisig aufs Herz: er war der in Ewigkeit Eingeschlossene, und das dunkle Himmelsgewölbe war die Decke des Kerkers, welcher ihn hielt.
So stand er am Ufer, gottverlassen, weltverlassen! Ein Zweifler an sich selbst, ein Zweifler an allem außer ihm.
In weiter, weiter Ferne zitterte der letzte Klang der Hörner aus.