Wilhelm Raabe
Horacker
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Zum zweitenmal im Leben führte die Frau Pastorin Winckler ihr Lottchen ins Waschhaus zu einer gründlichen Reinigung vom Staub der Pfade dieser Welt. Doch diesmal besorgte sie das Geschäft mit Kamm und grüner Seife nicht selber, sondern reichte Kamm und Seife nur in die Tür; denn »jetzt war das Mädchen groß genug dazu«. Aber persönlich zugreifend steckte sie die in solcher absonderlichen Weise heimgekehrte in ein abgelegtes Kleid, welches »auch nicht auf diesen Zweck gewartet hatte«, und während alledem war – der gute Krischan endlich, endlich zu seinem kalten Kaffee in der Laube an der Hecke seines Gartens gekommen. Daß er kalt rauche, konnte man gleichfalls nicht mehr sagen, denn er blies tüchtige Dampfwolken in den Spätnachmittag und unter das Mückengesindel des Sommertages. Sowohl Vossens Luise wie Vossens Homer hatte er ruhig droben in seiner Stube im Bücherbrett belassen. Er bedurfte keineswegs mehr einer literarischen Stütze für die vorbeischreitende Stunde; die Sonne Homers lag ihm warm und gütig auf dem wackern, würdigen Graukopf; und das ist gerade das Wahre, daß es einen in solchem Moment gänzlich gleichgültig läßt, auf wie viele Ionier vor so langen Jahren die Sonne auch schien.

»Ah!« seufzte der Pfarrherr von Gansewinckel, blies eine neue Wolke von sich und einen langen Atemzug derselben nach und legte die Hand auf die Zeitung von gestern, die ebenfalls auf dem Tische vorhanden war.

Die Sonne Homers schien auch auf die Luxemburger Frage, doch nicht weniger auf die Frau Billa, die in diesem Augenblick, den Gartengang entlang, zwischen den Buchsbaumeinfassungen vom Hause herschritt, und der Pastor legte die Zeitung von gestern wieder hin. Sie, die Gattin, trat in die Laube, ließ sich auf die grüne Bank sinken, legte die Hände matt in den Schoß und seufzte:

»So!«

»Hm!« erwiderte der Pfarrherr.

Nach einer geraumen Pause fuhr die Pastorin fort:

»Sie war sehr hungrig. Das arme Geschöpf! Jetzt liegt's wie in Betäubung und schläft. Es ist uns unter den Händen eingeschlafen, mir und der Minna. Es ist nur ein Glück bei allem, daß wir ihr glauben können. Ja, ich glaube, daß sie uns nichts vorgelogen hat; was glaubst du, Christian?«

»Ich glaube dir meine Ansicht bereits droben auf meiner Stube mitgeteilt zu haben, Beste. Ich glaube auch. Ich glaubte es gottlob vom ersten Wort des Kindes an.«

»Hm!« sagte jetzt Frau Billa; dann aber richtete sie sich unter einem neuen tiefen Seufzer auf, griff nach ihrem Strickzeug und sprach: »Ja, wir sind doch im Grunde gute Leute, wie auch das Dorf darüber denken mag. Weißt du, Alter, uns fehlt nur eines, nämlich, ich müßte dir manchmal meine Brille und du mir die deinige leihen können.

»Tun wir denn dieses nicht jeglichen Tag?« erlaubte sich der alte Herr zu fragen; doch die Gattin schüttelte den Kopf und versetzte:

»Lange nicht oft genug!«

Und es entstand wiederum eine Pause, während welcher die Frau Pastorin ihre Stricknadeln in Ordnung brachte und Krischan Winckler die Luxemburger Frage von neuem aufnahm. Nach fünf weitern Minuten legte der Pastor die Zeitung von neuem hin.

»Billa!«

»Was denn, lieber Alter?«

»Ich werde dir das Resultat eines langen, wiederholten, reiflichen Nachdenkens vorlegen: Manches – vieles – sehr vieles würde uns in diesem Leben und hier in Gansewinckel nicht passiert sein, wenn uns nicht der Höchste in seiner Weisheit das Glück versagt hätte – eigene Kinder zu haben.«

»Ach, du himmlischer Vater!« stammelte die Frau Billa Winckler; doch der Gatte fuhr fort, ohne sich durch den Ausruf stören zu lassen:

»Eigene Kinder, liebes Weib! Wir sind eben eine Abnormität unter der Amtsbruderschaft! Wir haben Zeit – Muße, wie du es nennen willst, für alles. Wir sind leider Gottes ja immer nur uns selbst die Nächsten gewesen, und so haben wir uns nie anders helfen können, als uns des Fernern anzunehmen. Es ist etwas an dem Zölibat, Billa.«

Die lutherische geistliche Frau faltete die Hände über ihrem Strickstrumpf.

»Gregor der Siebente war nicht nur ein frommer, sondern auch ein kluger Mann, Billa. Er wußte der Menschen Schwächen zu taxieren. Wir, du und ich, als kinderlose Eheleute, wir leben wenigstens in einem halben Zölibat, und so ist es um so mehr unsere christliche Pflicht und Schuldigkeit, uns mit ganzer Seele den Aufgaben zu widmen, für die uns die Vorsehung besonders geeignet gefunden hat. Die Ratschlüsse des Schöpfers sind wunderbar, und die Wege, die er uns zur Selbstbefriedigung führt, verschieden.«

Die Gattin hatte ihr Strickzeug vom Schoß über den Tisch gleiten lassen, legte beide Hände auf den Tisch und sah ihn, den Gatten, an, wie sie ihn nur einmal im Leben angesehen hatte, nämlich am zehnten Sonntage nach Trinitatis im Jahre nach Christi Geburt eintausendachthundertundsechsundfünfzig von ihrem Kirchenstuhl aus, als er mitten in seiner Predigt innehielt und statt des Sacktuchs eine ihrer weißen Nachthauben hervorzog, um sich damit die Stirn zu trocknen:

»Krischan?!«

»Ich sage, Billa, die Vorsehung –«

»Und ich sitze hier starr und sage nur, mach's mit dem Doktor Luther ab, was du eben vom Papst und dem Zölibat gesprochen hast. Was das Konsistorium dazu sagen würde, mußt du selber am besten wissen; was aber die Vorsehung angeht, so sollst du ganz und gar recht haben, Winckler, sobald ich ganz genau weiß, daß sie bei dem, was sich zuträgt, auch mal einen persönlich im Auge hat und nicht immer einzig und allein das ganze Dorf.«

»Billa?!... Aber Billa?«

»Der Herr Doktor Neubauer stimmte für das ganze Dorf. Ich habe es wohl gehört, da ich ab und zu ging, als er neulich mit Freund Eckerbusch hier war. Ihr hieltet ihm natürlich das Widerspiel; aber es schien mir doch, wenn du es mir nicht übelnehmen willst, Alterchen, als wenn er euch alle beide ganz gehörig unterkriegte. Du gabest zuerst den Streit auf und gingest hin, um persönlich nach der Bowle zu sehen, und so weiß ich nicht, wie der Konrektor mit dem Herrn Oberlehrer fertig geworden ist und was sie ausgemacht haben über die Vorsehung, während ich Zucker schlug und du dich im Keller aufhieltest.«

Der Pastor von Gansewinckel nahm die Luxemburger Frage vor die Nase und murmelte etwas von: einem oder einer einen Floh ins Ohr setzen.

»Ja, murmele nur!« rief die Gattin, und wer weiß, was nun noch alles in der Gartenlaube an der Hecke des Gansewinckler Pfarrgartens verhandelt worden wäre, wenn nicht ein am heitern Sommernachmittagshimmel emporsteigendes neues Phänomen sowohl Philemon wie Baucis von neuem ganz und gar von den Füßen gehoben hätte.

Dieses Phänomen trug einen leichten grauen Schulferienrock, einen breitkrempigen Strohhut und eine Brille in Horneinfassung. So kam es den Feldweg vom Walde her, und zwar eilig. Im Laufen trocknete es sich den Schweiß ab und schickte zu gleicher Zeit mit dem Taschentuch höchst aufgeregte Zeichen der Laube zu.

»Ist denn das nicht Eckerbusch?« fragte die Frau Pastorin, und Christian Winckler, aufspringend und über seine Hecke schauend, rief:

»Freilich ist er es, und zwar im Hundetrab, nein, im vollständigen Galopp! Billa, da ist noch etwas vorgefallen! Wie rennt der Alte! Was winkt er denn?... So sieh doch nur seine Hampelmännereien, Frau! Das ist ja ein wahres Glück, daß er seiner Sekunda nicht so als galoppierende Windmühle ins Auge und unter den Bleistift fällt.«

Das geistliche Ehepaar winkte nun gleichfalls über die Hecke dem guten Freunde entgegen, und der Pastor öffnete ihm die Tür in der Hecke. Im vollen Laufe stürzte der Konrektor herein, den Hut, das Sacktuch und den Stock schwingend.

»Menschenkinder! Menschenkinder, ei – nen Stuhl!« Er fiel auf den nächsten, vollständig zu Ende mit seinen Kräften.

»Menschenkinder, was kann dem Menschen passieren! Was kann der Schulmann erfahren auf einem Ferienausfluge!«

»Billa soll dir sofort ein Glas Grog bereiten! Du wirst Ida einen kranken Mann nach Hause bringen, wenn du nicht sofort, similia similibus, etwas ganz Heißes zu dir nimmst«, rief der Pastor.

»Ja, erkälten Sie sich nicht, Eckerbusch«, rief die Pastorin. »Ich bin sofort in der Küche; aber erst – sagen Sie rasch, was ihnen eigentlich begegnet ist und was Sie sowohl als Mensch wie als Schulmann erfahren haben.«

»Windwebel ist hinter ihm drein«, keuchte der Konrektor, allmählich wieder Atem schöpfend. »Um den Grog bitte ich in der Tat, beste Freundin. Ich und die Witwe haben unser möglichstes getan, ihn zurückzurufen. Eine halbe Stunde lang haben wir uns die Lungen aus dem Halse geschrieen: Windwebel! Horacker! Windwebel! Ho –«

»– racker?!« stammelten Krischan Winckler und sein Weib Billa wie aus einem Munde.

»Wer denn anders als Horacker? Horacker, der Räuberhauptmann!... Wir – Windwebel und ich und er und die Witwe haben zusammen eine Flasche Chateau Milon getrunken.«

»Mit Horacker?«

»Mit Horacker und Horackers Mutter, ganz vergnügt und friedlich, wie bei einem Picknick im Walde mit Damen und Kindern. Es ist mir selber jetzt wie ein Traum; aber ein Zweifel an der Wirklichkeit des Faktums bleibt mir doch nicht übrig. Es war so!... Wir würden auch einträchtiglich Arm in Arm zusammen ins Dorf herniedergestiegen sein, wenn nicht der Narr, der Windwebel, unbedachtsam den Schlafwandler angerufen und ihn mit dem Staatsanwalt in das Gehölz zurückgescheucht hätte. Nun ist er, der Kollege, hinter ihm, Horackern, dreingesprungen, als er uns entsprang – die Witwe ist auf ihrem Baumstumpf sitzengeblieben, wie ein anderer Klotz, und ich habe es endlich für das beste gehalten, hierher zu laufen und dich zu fragen, Christian, ob es nicht unsere Pflicht sei, noch einmal das Dorf aufzubieten und einen reitenden Boten nach der Stadt zu schicken.«

»Jedenfalls dreht sich um mich das Weltall. Es ist in der Tat betäubend. Wir haben das Lottchen, und – er – hat den Cord – beinahe gehabt! So sage doch endlich etwas, Billa.«

»Erst muß er vollkommen wieder bei Atem und bei klarer Besinnung sein, und dann noch einmal ganz von vorn an erzählen. Solange ich mich nicht um das Weltall drehe, sehe ich gern so klar wie möglich und lasse mir vor allen Dingen keine Traumgesichter aufbinden.«

»Ganz wie die Proceleusmatica!« sprach der Konrektor Eckerbusch.

»Wem Gott ein braves und kluges Weib beschert, der ist gepflanzet wie ein Baum an den Wasserbächen«, murmelte der Pfarrherr von Gansewinckel. »Manchmal auch wie eine Mühle!« murmelte der Konrektor; dieser aber bekam trotzdem seinen Grog und erzählte dem Pfarrhause von vorn an und ganz der Reihe nach, was ihm und seinem Kollegen Windwebel im Walde Sonderliches aufgestoßen war.


 << zurück weiter >>