Wilhelm Raabe
Horacker
Wilhelm Raabe

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Dreizehntes Kapitel

Nun wird uns aber unsere Geschichte selber fast zu bunt und sozusagen zu einer auf uns einstürzenden Wand! Die vielfarbigen Mauerstücke poltern über uns her, und fast vergebens arbeiten wir keuchend und lehnen uns mit Buckel und Ellenbogen an, um nicht unter dem flimmernden Schutt begraben zu werden. O, was waren voreinst die Holländer auf den Molukken für kluge Handelsleute! Sie verbrannten lieber eine ganze Ernte Muskatnüsse, ehe sie das edle Gewürz im Preise sinken ließen. Nehmen wir uns ein Exempel an ihnen, und behalten wir wenigstens zwei Drittel von den guten Dingen, die uns in diesem jetzigen Kapitel in die Hände wachsen, für uns!

Mäßigen wir uns, mäßigen wir uns in der Fülle der Ereignisse und vor allen Dingen in der Schilderung derselben! Seien wir so glaubwürdig, wie wir wahr sind; es werden ihrer immer doch genug vorhanden sein, die ein ehrlicher Handwerk als wir zu treiben glauben. Merkwürdig freilich bleibt es dabei, wieviel ihrer sind, die in jeglicher Frage, welche sie aufwerfen, in allem, was sie sonst sagen und als ihre Ansicht hinstellen, ganz unbefangen und natürlich auch ganz unbewußt zur Familie Windmacher gerechnet zu werden wünschen; wir rechnen vom Staat bezahlte Leute, sehr respektable, wohlsituierte Leute dazu, Leute, die das Ihrige vor sich gebracht haben, und die um keinen Preis den Kopf irgendeines beliebigen andern auf den Schultern tragen möchten, aber seinen Rock noch weniger.

»Horacker hat wieder gemordet! Ein Mann aus Gansewinckel hat's eben dem Färber Burmester am Neuen Tor erzählt!... Horacker hat einen alten Schulmeister totgeschlagen!... Horacker hat zwei Schulmeister totgeschlagen!«

»Haben sie es denn schriftlich bei sich gehabt, daß sie Schulmeister waren, Herr Nachbar?...«

»Kann ich Ihnen nicht sagen, Nachbar; vielleicht hat man es ihnen angesehen.«

»Ja, sie haben sie mit eingeschlagenen Köpfen im Dickicht gefunden – es ist was Schreckliches gewesen! Und einen Zettel am Busch, auf welchem der Mörder sich noch lustig über sie macht.«

»Eine alte Frau aus Dickburen hat sie beim Holzstehlen gefunden, und dann hat man sie auf Tragbahren ins Dorf getragen. – Einer soll noch eine Viertelstunde gelebt haben, und der Vorsteher von Gansewinckel hat selber eben die Scheußlichkeit zu Pferde in die Stadt gebracht, und der Bürgermeister und die Herren vom Gerichte wissen auch schon davon, ich aber möchte wohl wissen, was sie jetzt sagen und ob dieses noch der Menschheit angehört?! Ist das Zivilisation? Ist dieses überhaupt nur menschenmöglich bei den Steuern, die wir zahlen? Und der Bildung in den Schulen? Bitt ich Sie, wozu hilft mir denn der Staat und die Polizei, wenn es ihnen vielleicht gar noch Spaß macht, daß Ihnen so was mitten in unserm Jahrhundert immer noch passieren kann? Ja, fegen Sie mal nicht zu richtiger Minute vor Ihrer Tür, da brauchen Sie freilich nicht zu zweifeln, daß es eine von Gott eingesetzte Obrigkeit über Ihnen gibt!... Na, zuletzt bin ich es gar nicht, der es Horackern verdenkt, wenn er es immer bunter macht!«

»Da haben Sie wohl recht; aber zuallerletzt möchte man doch seinen eigenen Hund beneiden, der ruhig und unbesorgt spazierengehen kann, wenn er seine Steuermarke am Halse hängen hat!...«

Also ging die grause Mär mit den dazugehörigen und daraus erwachsenden Kommentationen herum in dem in holdestem Abendsonnenschein daliegenden Städtchen. Seit den böhmischen Schlachten des verflossenen Jahres hatte Fama auf dieser Erdstelle nicht wieder derartig von allen ihren Organen Gebrauch gemacht. Von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse flog das Gerücht, nur dann und wann ein Haus oder ein Individuum überspringend wie eine Feuersbrunst bei heftigem Winde. Und sie, die nimmer schlafend spähet, sie, die jüngste Tochter der Erde, im Zorn von ihr geboren zur Rache an den Göttern, des Mordes der braven Söhne, ihrer lieben Giganten, wegen, sie, Pheme, die Göttin der Sage und des Rufes, erspähte richtig auch unsere wirkliche Freundin Hedwig Windwebel und flüsterte ihr den jüngst erzeugten Unsinn in das Ohr.

»O Gott, mein Viktor!« rief die kleine Frau, mit den Olympiern für den Sturz der Riesen büßend. »Er ist es ja, der mit dem Herrn Konrektor hinaus ist in den Wald!«

Bewahren wir den Namen des guten Freundes, der ihr die Mitteilung machte, der Nachwelt auf. Ühleke hieß der Mensch, und er durfte wohl mit den Wirkungen seiner Nachricht zufrieden sein. Es ist immer etwas für einen Esel, durch das Weitergeben eines Gerüchtes auch einmal interessant zu werden und sich selber so vorzukommen.

Mit zitternder Hand ihr Sonnenschirmchen zuziehend, sah die arme Kleine noch einen Augenblick in das behaglich wohlwollend heimtückische Philistergesicht, um sodann auf schwankenden Füßen von dannen zu stürzen; selbstverständlich nicht nach der eigenen Wohnung, sondern nach dem Hause des Konrektors Eckerbusch.

»Die arme Frau«, sprach kopfschüttelnd der biedre Freund und Nachbar, der Davoneilenden nachstierend. »Na, ich für mein Teil halte die ganze Geschichte immer doch noch für dummes Zeug. Die Leichtgläubigkeit der Leute ist zu groß! Na, morgen wird ja wohl das Ausführlichere im Tageblatt stehen; ich für mein Teil kann darauf warten; mir für meine Person eilt's nicht damit, aber – neugierig ist man freilich immer doch ein bißchen.«

Ein bißchen neugierig wie alles, was in der Weltgeschichte oder einer Geschichte wie diese hier Epoche machen soll, sah die Nase, welche die Frau Konrektor Eckerbusch über das Blumenbrett vor ihrem Fenster erhob, auch aus. Aber was auch der alte graue Sünder, der Kollege Eckerbusch, darüber sagen mochte, es war eine der wackersten Nasen in Stadt und Land und dazu, wie wir bereits wissen, keineswegs unbekannt in Stadt und Land.

»Was ist denn das auf einmal für ein Köpfezusammenstecken und Gerenne und Gelaufe?« fragte die Frau Ida, die Hornbrille von dem Nasenbein abhebend und das Strickzeug im Schoße ruhen lassend. »Mein Gott, es brennt doch nicht irgendwo? Nein – gottlob! –, denn da würde man ja doch wohl auch schon die Glocke und das Tuthorn gehört haben. Jesus, was fällt denn dem Kinde, der Windwebeln, mal wieder ein? Der predige eine Vernunft und einen sedaten Schritt in der Gasse! Nun sieh, wie sie wieder stürzt; und doch hab ich es ihr schon hundertmal gesagt, daß sie sich dadurch nur das ganze Nest auf die Hacken bringt. O, die und mein Mann! Von ihrem eigenen Mann will ich gar nicht reden; denn bei dem versteht sich das Gezappel von selber. Nun, sie ist wenigstens auf dem Wege hierher, und so werden wir denn in Ruhe zu hören bekommen, was dem Sommerabend auf einmal durch den Sinn gefahren ist.«

Und ein Weib, das ruhig seinen Strickstrumpf wieder aufnahm, obgleich es von seinem Fenster aus die ganze Welt in Aufregung versetzt sah, nannte der alte Eckerbusch seine Proceleusmatica:

Und in der Tat ein wenig verwildert – schreckensbleich in das Zimmer der Matrone stürzend, rief die jugendliche Kollegin mit kaum halb wiedergewonnener Stimme:

»Liebste – beste – Frau Konrektorin – Sie sitzen hier, und ich vergehe!... Horacker!... Zwei Schullehrer totgeschlagen! – Und mein Mann und Ihr Mann – o hätte ich doch den meinigen heute zu Hause behalten! O mein Viktor, mein Viktor, mein armer Viktor!... Sie haben sie beide, von Horacker totgeschlagen, mitten im Holze gefunden!«

»Dummheit!« sprach die alte Dame, stramm sich mit dem Oberkörper aufrichtend. »Da scheint es sich ja diesmal um eine wirklich ganz ausbündige Dummheit unter den Leuten zu handeln. Wissen Sie was, Närrchen? Wenn Sie sich auch gesetzt und vollständig Atem geschöpft haben, dann erzählen Sie's mir ganz genau, was für einen Unsinn Sie sich haben aufbinden lassen. Zuerst also mit einem Wort; von wem haben Sie ihn?«

Auf den nächsten Stuhl sinkend atmete Hedwig den Namen des Unglücksvogels heraus, und –

»Ühleke!« wiederholte die Frau Konrektorin Eckerbusch mit wahrhaft vernichtender Verachtung über diesen Namen. »Nun, Kleine, den Mann hätte ich mir unbedingt ebenfalls dazu herausgesucht, wenn es doch einmal sein mußte, daß die Menschheit ihre Einfalt an mir auslasse.«

»Aber er hat es ja nicht aus sich selber!« schluchzte das unglückliche junge Weib, mit gerungenen Händen von neuem aufspringend. »Sehen Sie doch nur aus dem Fenster! Sie sehen es ja in jeder Haustür, daß die ganze Stadt hinter ihm steht. Gucken Sie nur, wie die Leute nach Ihnen gucken! Sind das Gesichter und Mienen, bei denen man stillsitzen kann? O Gott, Gott, wenn es nur nicht schon seit Monaten schwer und bange über mir gehangen hätte!«

»Albernheiten, Kind!« murrte die alte Dame halb sympathisch, halb ärgerlich. »Wegen der letztern Zustände habe ich Ihnen schon längst geraten, alle unnötigen Aufregungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich bitte Sie, Hedwig, nehmen Sie doch Vernunft an. Wie können Sie sich einbilden, daß mein Mann – der alte Eckerbusch, auf einem Spaziergange zum Pastor Winckler in Gansewinckel totgeschlagen werden könne? Die Idee ist zu lächerlich!«

»Aber mir nicht! Mein Mann ist mit ihm gegangen, und meinen Viktor kenne ich. Kein Mensch wird es komisch von ihm finden, daß er in Mörderhände geraten ist; jedermann wird es ihm glauben, und ich – o ich, ich komme um!«

»Ich auch allgemach; aber vor Ärgernis«, murmelte die Matrone.

»Sehen Sie – sehen Sie nur, da läuft schon der Auditor Nagelmann mit dem Wachtmeister Fünfrad. Die Steine, die Wände und Fenster und jede Tür schreien es mir von allen Seiten zu. Dort – dort, wie sie in Müllers Laden sich drängen und die Hände zusammenschlagen. O Viktor – mein Viktor!«

»Passiert ist was«, murmelte die alte Dame. »Was aber, das mag der liebe Gott wissen. Nun, wir wollen es sogleich in Erfahrung bringen. Wenn es nur nicht wieder ein Streich von meinem Alten ist. Er sah mir diesmal noch viel verdächtiger aus als sonst beim Abschiednehmen. Der Herr behüte uns, wenn er es ist, der uns wieder einmal durch eine neue Eskapade in die Mäuler der Leute gebracht hat. Oh, er hat sicherlich wieder einen Unsinn ausgehen lassen; – ich habe es schon lange gemerkt, es war ihm schon lange viel zuwenig von ihm die Rede in der Stadt!... Es ist kein Zweifel, nun haben wir's wieder mal! Linchen – Lin – chen!«

Sie hatte nicht nötig, zum drittenmal nach der Jungfer zu rufen, denn dieselbe stürzte bereits mit rotem Kopfe ins Zimmer.

»Bist du da, Linchen? – Gut, so laufe mal hinüber zum Kaufmann Müller und frage mit einem Kompliment von mir –«

»Ich bin ja schon da gewesen – o du liebster Herrgott, Frau Konrektorin«, jammerte das Mädchen. »O Gott, Gott, Gott, es ist alles richtig so, wie es erzählt wird. Unser armer Herr! Im Wirtshause in Gansewinckel liegt er auf dem Tische ausgestreckt. Der Förster vom Birkenhofe hat ihn im Holze gefunden, aber mit ausgelaufenem Gehirn; und der Herr Windwebel hat zwanzig Schritte weit von ihm gelegen und ist noch viel schlimmer zugerichtet gewesen. Einer von ihnen hat aber noch eine halbe Stunde gelebt und hat es zu Papiere gegeben, daß Horacker es gewesen ist. Die Landreiter sitzen schon auf, und das Gericht hat eine Extrafuhre beim Posthalter bestellt; und heute mittag hat er mich noch von wegen des Kalbsbratens belobt, unser armer Herr, – oh, wer uns das doch da vorausprophezeit hätte, Frau Konrektorin! – Selbst die Soße war ihm diesmal recht; aber es hat auch die letzte für ihn sein sollen.«

»Wenn er dies hörte, ginge er mir auseinander vor Vergnügen«, sprach die Proceleusmatica. »Das Gehüpfe hier in meiner Stube möchte ich dann sehen!... Du liebster Himmel, hätte ich nur nicht das Kind da in halber Ohnmacht und in ganzen Krämpfen und noch dazu in ihren Umständen!... Aber Hedwig, so nehmen Sie doch endlich Vernunft an, und betragen Sie sich als eine verständige Frau! Begreifen Sie es denn noch immer nicht, daß es einzig und allein mein Alter ist, der hinter diesem Aprilwitz steckt?«

»Und von meinem – wo meiner jetzt liegt, haben sie bei Müllers nichts gesagt?« rief die jammernde junge Frau, mit beiden zitternden Händen den Arm Linchens umklammernd.

»Nein, Frau Zeichenlehrerin, aber doch wahrscheinlich auch im Wirtshause. Als der Bote von Gansewinckel abgegangen ist, ist erst unser Herr, der Herr Konrektor, im Dorfe angekommen gewesen.«

»Ah!« stöhnte Frau Hedwig jetzo, mit dem tränenüberströmten Gesicht der guten ältern Kollegin an den Busen sinkend.

»Sie pensionieren ihn mir für diesen Aufruhr, ob er von ihm herrührt oder nicht«, murmelte Frau Ida. »Diesmal schlagen sie ihren Haken ein und werden ihn los, als wonach sie sich schon jahrelang gesehnt haben! Und weit und breit kein kühler Kopf, der einem in dieser Tollheit unter die Arme greift, – nicht einmal ein Doktor für dies arme Närrchen hier!... Das Kind kriegt's am Ende fertig, mich auch rappelig zu machen... Ich will nicht sagen, was alles ich für einen kühlen, vernünftigen Menschen geben würde.«

»Da geht der Herr Stadtrat Bockböse, fragen Sie doch den nur, Frau Konrektorin«, rief Linchen am Fenster. »Sie wissen ja, ich kenne ihn – ich kam aus seinem Dienste hierher –, das ist ein kühler Mann, und sein drittes Wort zu Hause an die Frau Stadträtin ist: Ich lasse mir den Kopf nicht warm machen.«

»Der Schafskopf! Nächstens machen sie Ühleken zum Bürgermeister«, sagte die Kollegin Eckerbusch, setzte die jüngere Kollegin sanft auf dem Sofa nieder, schob ihr Linchen vom Fenster weg und sah nunmehr selber nach einem kühlen Kopfe über ihre Rosen- und Geraniumstöcke weg aus.

»Guten Abend, lieber Stadtrat. Ein Wort – was halten Sie denn von dem dummen Gerede in der Stadt?«

»Ich, Frau Konrektorin? Nun – Sie wissen, ich halte mir gern so lange als möglich die Stirn kalt; aber – leider – sagt man diesmal wirklich so!«

»Bitte, empfehlen Sie mich Ihrer lieben Frau«, erwiderte die Proceleusmatica, wendete sich zu den beiden in dem Gemache zurück und rief:

»Da habt Ihr es! Hab ich ihn nicht richtig taxiert?« In ihrer Seele aber setzte sie dumpfgrimmig hinzu:

»Irgendwo hört der Mensch einmal auf, und diesen vergnügten Abend vergebe ich meinem Alten nicht.«

In demselben Augenblick bog der Kollege Neubauer um die Marktecke und kam ausnahmsweise ganz zur rechten Zeit – auch für die Kollega, Frau Ida Eckerbusch.

Der Mensch lebt wahrlich nicht in dem Getöse, was er um sich herum macht oder hört, sondern in der Stille, die er sich in seinem Busen erhält; und wer den Herrn Oberlehrer Neubauer mit den Händen auf dem Rücken, unbewegter Miene und ruhig-hellen Auges dahingehen sah, der mußte sich sagen, daß hier in der Tat ein Mann schreite, der sich schon aus Prinzip seine Gemütsruhe unerschüttert zu erhalten wünschte. Den letzterzeugten Hexameter der Sechsundsechsiade auf der Rückfläche der linken Hand nachfingernd und das Wort Predsmirzitz nochmals nachkostend hineinskandierend, kam der Kollege um die Ecke, wenn nicht so schön, so doch mit der gesamten göttlichen Verachtung des Fernhintreffers Apollo um die Nasenflügel.

»Da kommt der Kollege Neubauer!« rief die Frau Konrektorin Eckerbusch, zum allererstenmal bei seinem Anblick aufatmend. »Der kommt mir wie gerufen! Der ist wahrscheinlich außer mir wirklich noch der einzig kühle Mensch in der Stadt! Der Mann ist mir bis dato immer ein Greuel gewesen; aber – so geht es! Das Schicksal hat mir ihn wahrscheinlich nur deshalb hierher ans Gymnasium geschickt, um mir an ihm zu beweisen, was alles zu einer Birne für den Durst werden kann... Herr Oberlehrer! Herr Kollege! Herr Kollege! Ich bitte, auf einen kürzesten Augenblick. – Nun aber, Hedwig, nehmen Sie sich zusammen, machen Sie sich und mich nicht lächerlich vor dem Doktor Neubauer. Sie kennen ihn so gut als ich; also seien Sie ein liebes, verständiges Kind; – da haben Sie ein frisches Taschentuch, jetzt trocknen Sie sich Ihre Tränen und sehen Sie wie eine räsonnable Frau aus. Ich höre ihn schon auf der Treppe – tapp, tapp! Das ist der einzige Mensch, der sich nicht aus seinem Tempo bringen läßt. So – das ist recht, Kleine! Für mich selber habe ich den Mann wahrhaftig nicht gerufen. Klopf, klopf! Da ist er!... Herein, lieber Neubauer! Oh – der alte Sünder, der Werner, soll mir nur nach Hause kommen!«

Der Oberlehrer Dr. Neubauer, durch den merkwürdig freundlichen Anruf vom Fenster der Kollegin Eckerbusch auf seinem poetischen Wege nach Sadowa aufgehalten, hatte natürlich erst nach allen vier Weltgegenden hin umgeschaut, ehe er sich dem Orte zuwendete, von welchem ihm die Bitte erscholl, doch einmal heraufzukommen.

Den hohen schwarzen Hut erhebend und wieder sinken lassend, hatte er das wohlgelockte Haupt geneigt:

»Mit dem größten Vergnügen.«

Dazu aber zitierte er:

»Ja, glauben muß ich Armer, was unglaublich scheint,
Sabellerbannspruch dröhnet dumpf ins Herz hinein,
Und wie von Marsermurmel ist zersprengt mein Haupt:
Was will sie denn?«

Er zitierte aber lateinisch, während er die Treppe im Hause des Kollegen Eckerbusch emporstieg.

»Ich habe Sie eigentlich nur dieses Kindes wegen heraufgebeten, lieber Doktor«, sagte Frau Ida. »Mein Vernunftreden hilft zu nichts. Nun reden Sie ihr einmal zu, Neubauer. Für diesmal sind Sie mein Mann; und als Sie da eben um die Ecke bogen, war's, als ob ganz Griechenland und Rom mir zuriefen: Wir hätten gleich zu ihm geschickt! Von vornherein hätten wir zu ihm geschickt.«

»Sie sind zu freundlich, liebe Frau Kollegin«, sprach der Oberlehrer mit seinem liebenswürdigsten Lächeln. »Und sobald ich weiß –«

»Sehen Sie doch nur das Kind an. Da liegt es außer sich wegen des umlaufenden albernen Gerüchtes.«

»Welches Gerüchtes wegen, wenn ich fragen darf, meine Damen?«

»Daß Horacker ihr ihren Mann totgeschlagen hat und mir meinen Eckerbusch obendrein«, sagte die alte Dame, den Herrn Oberlehrer doch ein wenig von der Seite ansehend.

»Wirklich? Ich habe zu einiger Verwunderung dieses soeben auch vernommen«, erwiderte der Kollege, den Halskragen zurechtzupfend. »Nun, hoffentlich bestätigt sich das Gerücht nicht.«

Die Frau Hedwig wimmerte leise; Frau Ida starrte den Kollegen mit immer größern Augen an:

»Sie halten die Geschichte nicht wie wir – wie ich, für eine nichtswürdige, niederträchtige, abgeschmackte Fabel?«

»Sie erlauben wohl, daß ich mich setze, beste Frau«, sagte der Doktor Neubauer sanft und tonlos. »Wann war es doch, als wir zuletzt über Horacker scherzten? Wenn ich nicht irre, neulich abend; Ihr Herr Gemahl, unser guter Konrektor, gab uns nachher noch in seiner schalkhaften Weise seinen vielbelachten geklemmten Kater zum besten! Sie, verehrte Kollegin, wenn ich mir erlauben darf, Sie so zu nennen, – sind hoffentlich überzeugt, daß ich mich Ihrer Meinung in betreff dieses drolligen Abenteuers vollkommen anschließe; aber –«

»Aber?« rief Frau Ida Eckerbusch, nur mühsam ihre Ungeduld im Zaume haltend.

»Aber in der Tat, wie ich auf meinem Wege durch die Stadt, natürlich ohne der Sache viel Aufmerksamkeit zu schenken, ebenfalls vernommen habe, stieg der Herr Staatsanwalt samt seinem Protokollführer eben vor der Posthalterei in den Wagen, um nach Gansewinckel hinauszufahren.«

Einen hellen Schrei stieß die junge Frau heraus und lief mit gerungenen Händen durch die Stube.

»Habe ich es nicht gesagt?« rief Jungfer Linchen; die Kollegin Eckerbusch aber sprach grimmig lächelnd:

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Neubauer, aber ein bißchen zu gelassen bleiben Sie mir jetzt doch! Ich hätte es mir übrigens gleich denken können, daß Sie auch in diesem Falle schlimmer als alle andern sein würden.«

»Ich halte es nicht aus! O ich halte es nicht mehr aus!« jammerte die arme Hedwig. »Ich fahre auch nach Gansewinckel! Ich will auch nach Gansewinckel – ich laufe zu Fuße nach Gansewinckel! Oh, mein Viktor, mein lieber, lieber Viktor!«

»Ihr habt sämtlich euern Kopf drauf gesetzt, mich verrückt zu machen«, rief die alte Dame. »Ist es denn möglich, daß die Menschheit so dumm und zugleich so boshaft sein kann?«

»Boshaft im höchsten Grade – dumm auch«, flüsterte der Herr Oberlehrer womöglich noch milder und freundlicher. »Man muß nur Philologie studieren, man braucht nur ein Schulmann zu sein, um täglich die Erfahrung – nicht zu machen, sondern sie zu vermehren.«

»Nach Gansewinckel, o Gott, nach Gansewinckel!« wimmerte Frau Hedwig; und jetzt fing auch Frau Ida Eckerbusch an, die Hände zu ringen und im Zimmer auf und ab zu laufen.

»Ich habe manches in meinem Leben und mit Eckerbusch erlebt; aber dieses habe ich doch nicht für möglich gehalten«, rief sie. »Wie ein Fieber steigt einem das Geschwätz zu Kopfe! Und Sie, Neubauer, hätte ich alte Närrin auch ruhig seines Weges weiter storchbeineln lassen sollen. Da Sie aber einmal da sind, so halte ich Sie auch, mein Guter, und – Sie fahren mit nach Gansewinckel!«

Schon hing ihr das junge Weib des Zeichenlehrers Viktor Windwebel am Halse und schluchzte krampfhaft: »O ja, ja, ja – bitte, gleich, gleich – lassen Sie uns gleich fahren, lassen Sie uns fahren, wie wir sind!«

Und die alte Dame, einen matronenhaft sachverständigen Blick auf die niedliche, jammergeschlagene, tränenfeuchte, zitternde Flitterwöchnerin werfend, murmelte:

»Sie reibt sich auf, und ich habe sie zu lieb, um nachher alle Verantwortlichkeiten allein zu tragen.«

Laut sprach sie ärgerlich-weinerlich:

»So beruhigen Sie sich doch jetzt, Gänschen. Ich sage es Ihnen ja: wir fahren. Ich will Ihnen zuliebe wirklich einmal so dumm sein wie die übrigen. Uh, finde ich aber meinen alten Eulenspiegel noch am Leben, so... Besorgen Sie auch uns auf der Stelle einen Wagen, Kollege Neubauer.«

Der Kollege Neubauer, der sich allen menschlichen Insinuationen in göttlicher Indifferenz gewachsen glaubte, stand augenblicklich gänzlich fassungslos.

»Ich? Ich, meine Beste? Mich wollen Sie mit sich hinausnehmen nach Gansewinckel?«

»Ja, Sie, Neubauer! Sie werden uns zwei arme Würmer unter solchen Umständen sicherlich nicht allein in die Nacht und den Wald voll von Mördern und Horackers hinauskutschieren lassen. Einen Trost will ich mir doch an Ihrem Gesichte auf dem Wege gegenüberhaben. Beeilen Sie sich; – Fricke soll uns fahren. Linchen, geh lieber gleich mit dem Herrn Doktor, daß sie ihm ja nicht die grüne Karrete mit den gelben Rädern aufhängen.«


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