Wilhelm Raabe
Vom alten Proteus
Wilhelm Raabe

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Achtes Kapitel.

Es war eine Luft, eine Beleuchtung und ein Weg, die das misanthropischste Menschenkind lockend aufforderten, immer tiefer hereinzukommen in den Wald und sich niederzulassen in der süßen Einsamkeit fern des Lärms der Städte, aber – als Zweisiedler! ein Männlein und ein Fräulein in Einem Birkenhüttchen!

Der treffliche Oppermann war selig seines Weges weitergestolpert, in Ernestens Herzchen wurde es allmählich wieder ruhiger, und Hilarion zerdrückte eine Träne in jedem Auge; er hatte sich noch nie so ganz als Dichter und so ganz und gar nicht als Assessor bei der Regierung empfunden.

Sie gingen auch immer weiter hinein in die Wildnis, wie die gute Stunde sie lockte. Die Villa Piepenschnieder und Papa und Mama, der Püterichshof mit dem Onkel Püterich und dem Herrn von Magerstedt, die da draußen vor dem Walde sie erwartende Droschke samt dem mürrischen Kutscher wurden zu vor langen, langen Jahren in einem Märchen belächelten Unwirklichsten und Vater Konstantius mit und ohne seine Eichel im hohlen Backenzahn die einzige Realität in der ganzen weiten Welt.

Da kicherte es zum zweiten Mal, doch diesmal ganz zweifellos dicht vor ihnen, – und Es zeigte sich! Die beiden jungen Leute standen still – sie erblickten Es, und wir – wenn wir Es unsern Lesern und vor allen der Leserin zeigen könnten, würden auf der Stelle unsere Feder ausspritzen und unser Tintenfaß aus dem Fenster gießen: wir hätten absolut nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu schreiben, nichts mehr zu beschreiben! Innocentia würde uns all und jeder Verpflichtung und Verantwortlichkeit entledigen! – – –

Da lag in der jetzt in röteres Licht sich kleidenden Abendsonne vor dem jungen Paare das, was das Volk eine Untiefe oder Grundlose nennt; nämlich ein stehend Gewässer von geringem Umfange, aber einer nicht ausgemessenen Tiefe. Der Busch, aus dem sie, die Liebenden, hervortraten, zog sich dicht heran, doch der Hochwald umzirkelte das stille Wasser erst in einer Entfernung von dreißig bis vierzig Fuß und ließ infolge eines alten Windbruchs, gegen Westen zu, der sinkenden roten Sonne sogar einen ganz freien Raum zu einem letzten Blick in den gründunklen Spiegel. Von Sumpfpflanzen, Wasserspinnen und Wasserkäfern haben an solchen feuchten Stellen und bei solchen Gelegenheiten andere geredet: wir erzählen, was Hilarion und Ernesta sahen.

Ein einzelner knorriger Weidenstamm lehnte sich von der westlichen Seite her über das Waldwasser und streckte weithin seine wunderlichen Zweige und hing sie fast bis zu dem kühlen Spiegel hinunter; und auf einem dieser Zweige schaukelte sich ein Wesen, das jeglichem Anspruch an eine Geister- oder Heiligen-Erscheinung Genüge leistete, nur nicht durch die Bekleidung.

Unbeschreiblich lieblich von Miene und Figur, aus Minne, Luft und Duft gewoben und von der roten Sonne durchleuchtet – ein Zauber – ein Spuk sondergleichen! ein lächelnd Nymphchen und – vollständig im vergeistigten Kostüm einer ersten Tänzerin der königlichen Bühne, wie sie vor einem Menschenalter in dem damals neuesten Ballett vor den Augen und Operngläsern des damaligen entzückten Publikums umherschwebte! – – – – – – – – – – –

Innocentia – in diese alte Weide in der Waldwildnis gebannt zur Strafe ihrer Sünden, wie Rosa von Krippen wegen der ihrigen hinter die Tapete im Zimmer des Barons und Onkels Püterich im Püterichshofe! – »O, es gibt noch eine ewige Gerechtigkeit!« dürften dreist sämtliche Moralisten und Moralistinnen des Weltalls ausrufen. –

Die zwei Liebenden im Fleisch, Hilarion und Ernesta, standen aneinander gedrückt, zurückweichend und doch nicht im mindesten ob des Anblicks schaudernd.

»O Hilli!« hauchte die Jungfrau, und der Assessor flüsterte:

»Still, Herz! Wir wären nicht auf dem Wege zum Vater Konstantius, wenn wir nicht alles für möglich hielten!«

»Es lebt! Sieh doch, es winkt!« flüsterte wieder die Jungfrau atemlos, und der Assessor flüsterte seinerseits:

»Und Es winkt uns!«

»Uns!« hauchte Ernesta. »O Himmel, Es will uns doch nicht in den Sumpf locken?«

In diesem Augenblick lachte Innocentia; und der Wald, das stille Wasser im Walde, die Sonne in dem Wasser, die Sonne an den hohen Stämmen des Hochwaldes lachten alle mit, wenngleich unhörbar; wäre Oppermann noch vorhanden gewesen, so würde der gleichfalls mit gelacht haben, jedoch aus vollem Halse.

»Ich bin die gute Seele – die verkannte gute Seele! Ich bin der Welt Fröhlichkeit, und recht ist mir geschehen!« sang der liebliche Spuk. »Ich hab mein Erdenherz an einen Narren gehängt und bin in eine hohle Weide zu meiner Besserung gesperrt worden, und mein Narr hat heut ein Stück von einer Eichel in einem hohlen Zahn! Willkommen in der Einsamkeit, Hilarion und Ernesta!«

»Rosa von Krippen sendet uns, Madonna!« stammelte der junge Mann, den Strohhut in der Hand; und der reizende Spuk erhob beide durchsichtige Hände, legte die eine dann an die Stirn, die andere auf den Busen und hatte alle Mühe, sich auf seinem Zweige im Gleichgewicht zu halten vor Lachen:

»Rosa von Krippen! – Rosa hinter der Tapete?!«

»In dem Püterichshofe!« rief Hilarion.

»Wo der Onkel Püterich wohnt,« setzte Ernesta, immer mutiger werdend, hinzu.

»Dann ist uns beiden die Erlösung nahe!« sang die Erscheinung in der Weide. »So ist die Zeit der Prüfung vorüber – willkommen im Walde, junges Volk! Es ist gut sein im Walde, selbst in der Verbannung, Hilarion und Ernesta! und wenn ihr sündigt, sündigt aus einem guten Herzen, auf daß ihr auch in den Wald, in eine hohle Weide gesperrt werdet, und nicht hinter eine Tapete im Püterichshofe! Arme Rosa! arme Rosa! arme Rose hinter der Tapete! Ich hätte es lieber tausend Jahre hier ausgehalten als einen Tag an ihrer Stelle!«

»Zu Konstantius, dem Einsiedler, schickt uns Fräulein von – schickt uns Rosas – Geist,« stotterte der Assessor bei der Regierung; aber er hatte sich im hellen Schrecken platt an die Böschung der Grundlose in das hohe Gras gesetzt und seine Braut mit sich niedergezogen, denn Innocentias Geist tat bei seinen Worten auch einen Sprung der Überraschung auf dem Weidenbaum und schwebte fast eine Minute lang, Kopf unten, ungefähr sechs Fuß hoch über dem höchsten Zweige in der stillen warmen Abendluft. Ein Anblick, wiederum gar nicht zu beschreiben!

Wenn junge Mädchen in freudigem Entzücken lachen, so klingt das ungemein lieblich; aber der silberne Klang der Lust, der jetzt durch den Wald zitterte, war mit keinem Laut einer Menschenstimme, auch der lieblichsten nicht, zu vergleichen. Und die Wirkung auf die zwei jungen Leute war um so größer, als in dem nämlichen Augenblick die Sonne hinter dem Horizonte, das heißt dem Walde im Westen versank, der rotgelbe Schein aus den Wipfeln und von den höchsten Stämmen des Forstes forthüpfte, und hier auf einen schönen Tag ein womöglich noch schönerer Abend folgte. Das freie Land draußen lag natürlich noch längere Zeit in den roten Strahlen.

Die Erscheinung über der alten Weide war verschwunden; aber das vibrierende Kichern in der stillen Luft dauerte noch einige Sekunden fort.

Dann klang es geisterhaft melodisch und seltsamerweise ein wenig spöttisch:

»Konstantius! Konstantius! – Bitte, grüßen Sie Konstantius!« und nun war alles still, und die schöne Wildnis war von neuem bereit, ruhig jede Bemerkung, jedes kluge Wort, aber auch jede Dummheit anzuhören, in denen, ihrer erneuten Verwunderung Luft zu machen, die zwei armen Kinder, Ernesta und Hilarion, sich gedrängt fühlen mochten.

»Oh!« seufzte Ernesta, ohne fähig zu sein, sich eine weitere Bemerkung zu gestatten. Zu letzterer war Hilarion imstande; ja ihm als dem stärkeren Mann gelang es sogar, alle seine Geistesfähigkeiten allen Gesichtern und Klängen aus Dschinnistan zum Trotz zusammenzuraffen und vermittelst einer Dummheit von neuem in der Wirklichkeit festen Fuß zu fassen.

»Es ist verschwunden!« sagte er, und das war die Bemerkung.

»Wir sind wieder unter uns allein!« fügte er hinzu, und das war die Dummheit.

 


 


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