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»Scheußlich! schauderhaft! gräßlich!« hatte Oppermann, der doch wahrscheinlich auch in dieser Beziehung viel vertragen konnte, gesagt, und es verhielt sich ganz so, wie er sagte: der Vater Konstantius, der Waldbruder, war ein Anblick zum Rücküberfallen. Versuchen wir es nunmehr, uns ihm zu nahen, ohne die Augen zuzukneifen, wie ein Kind, das überredet worden ist, einen Igel anzurühren.
Auch wir haben einen Igel anzurühren und überlassen es der Leserin, in ihren naturhistorischen Schulerinnerungen nachzublättern und sich ins Gedächtnis zurückzurufen, daß es mehrere Arten von Igeln gibt, und darunter eine, vielleicht dann und wann auch von ihr, der liebenswürdigen, reinlichen Leserin, bildlich verwendete, sehr bedenkliche Sorte.
Der Vater Konstantius saß vor der Tür seiner Hütte, strickend an einem blauwollenen Strumpf. Einen zweiten Strumpf, ebenfalls von Wolle, aber von graubrauner Farbe, hatte er sich vermittelst eines rotbraunen und außerdem mit dem Porträt des regierenden Landesherrn geschmückten Taschentuches auf die geschwollene Backe gebunden, und wer da weiß, wie unter solchen Umständen der ehrwürdigste Langbart sich präsentiert und zu einem Schrecknis wird, und wer dabei auf seine äußere Erscheinung etwas hält, der geht sofort hin und läßt sich das zierlichste Bärtchen glatt wegrasieren. Auch wir sind dann und wann Heiligenmaler gewesen, auch wir können idealisieren, wir könnten sogar den Vater Konstantius idealisieren; aber wir tun es nicht! Wir malen ihn nach der Natur, die nach einem alten bekannten Liede in jedem Kleide schön sein soll: Einen gibt es ja vielleicht doch wohl unter den vorbeiziehenden Geschlechtern der Menschen, der mit der Hand grüßend winkt und dabei lächelt, wie wir uns es wünschen! – dem Einen oder der Einen werden wir dann selbst den Teufel nicht zu schwarz malen. –
Da der Vater Konstantius gezwungen war, seine Wäsche im Waldbache selber zu besorgen, und er überdem keine Gabe dafür hatte, so übertraf sein Weißzeug manches Schwärzliche an Düsterheit. Seine, wie schon zu Anfang bemerkt, durch einen Strick um den Leib zusammengehaltene Kutte war arg geflickt und nicht von einer Hand, die geschickt mit der Nadel umzugehen wußte. Wenn auch er nach Art der Eremiten Sandalen trug, so steckten heute doch, seines Unwohlseins halber, seine Füße in zwei umfangreichen Filzschuhen.
Er sang kein Abendlied, kein weißes Täubchen saß ihm zärtlich auf der Schulter; er fütterte kein frommes Reh mit frommer Hand; – er hatte auf eine zu harte Eichel gebissen, er hatte fürchterliches Zahnweh, er hatte seinen Freund Oppermann mit dem strengsten Befehl fortgeschickt, ihm wenigstens heute keine Menschenseele auf dreitausend Schritte nahe kommen zu lassen, und – das einzige Glück war momentan, daß – Hilarion und Ernesta nicht drei oder mehr Monate nach ihrer Hochzeit um Rat, Trost und Hülfe zu ihm geschickt worden waren.
Das würde dann vielleicht auch eine schöne Geschichte geworden sein; aber wahrlich keine wie die, welche wir jetzt erzählen! – – – – – – – – – – – –
Es soll möglich sein, ein heftiges Zahnweh in reinem Quellwasser zu vertrinken; uns ist es noch nicht gelungen. Man soll auch ein Zahnweh verstricken können; dieses haben wir bis jetzt noch nicht probiert; der Vater Konstantius aber schien eben den Versuch zu machen.
Er strickte mit einer schier wütenden Verbissenheit an seinem Winterstrumpf; er strickte wie wahnsinnig; – weder bei Zahnweh noch bei irgendeinem anderen Weh haben wir mit einer derartigen dumpfig verstörten Ingrimmigkeit an einer Novelle weiter geschrieben!
Er sah nicht auf, als es seinen Maßregeln und seiner Verabredung mit Oppermann zum Trotz doch wieder im Busch und im welken Laube von Tritten näher kommender Menschen rauschte. Er hatte sich freilich auch die Ohren verbunden; und empor schaute er erst ob des schrillen Schreies, den Ernesta ausstieß, als sie seiner ansichtig wurde.
Ihrer und ihres jungen hübschen Begleiters ansichtig werden und, Strumpf, Nadeln und Wollenknäuel in die Tasche seiner Kutte zwängend, aufspringen, die Kapuze über Schädel, Stirn und Nase herunterreißen und den Rückzug gegen seine Tür antreten, war dem Eremiten – eins. Mit kaninchenhafter, dachsartiger Hast suchte er unterzuschlüpfen. Er stürzte sich Hals über Kopf in seine Hütte hinein; – noch ein Moment und es wäre ihm gelungen, die Tür zuzuschlagen und den Riegel vorzuschieben, als Hilarion, seinerseits gleichfalls mit aller Hast zuspringend, ihn hinten am Gürtelstrick ergriff, sein Entweichen verhinderte, den Fuß zwischen die Tür der Klause klemmend, die Verbarrikadierung der letzteren unmöglich machte und dem scheuen Greise flehentlich zuschrie:
»Nur auf ein kürzestes Wort, ehrwürdiger Vater!«
»Pax vobiscum – alle Hagel – o, es ist nicht auszuhalten! – Man lasse mich ungeschoren!« kreischte der Heilige, fast geifernd in Verdruß und nervösester Wildheit. »Ich will nichts wissen! nichts hören! nichts sehen! nichts, nichts riechen! Nichts, nichts, nichts!«
Mit der Schulter seitwärts vordrängend, suchte er den jungen trostsuchenden Hausfriedensbrecher wieder über die Schwelle seiner Wohnung zurückzuschieben; und bangend die Hände ringend, sah Ernesta diesem Konflikt zwischen der Welt und der Weltabgeschiedenheit zu, ohne etwas anderes dazu geben zu können als ihre Tränen und ihre Angst.
Ihr Geliebter aber, während er im Innersten seiner Seele ächzte: »Das ist ja in der Tat ein unausstehlicher, ein ganz gräßlicher Kerl!« blieb nach außen hin, abgesehen von seinem hartnäckigen Standhalten auf der Schwelle, die Höflichkeit und liebenswürdige Zutraulichkeit selber.
»Nur auf drei ganz kürzeste Wörtchen, Hochwürdigster!« flehte er. »Ich bitte ganz gehorsamst – Ernesta, Liebe, bitte mit! – Er muß uns hören! es ist seine heilige Pflicht, uns anzuhören!«
Dabei packte er den zappelnden Waldbruder aber immer fester; und dieser, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sein Drängen der jugendlichen Kraft des Eindringlings nichts abrang, schien das, was Hilarion eben noch seine heilige Pflicht genannt hatte, nochmals anders aufzufassen.
Plötzlich sich mit einem letzten Ruck losreißend, trat er drei Schritte zurück in das Innere seiner Klause, senkte sodann das bekapuzte Haupt und war eben im Begriff, es als einen Sturmbock zu gebrauchen und im heftigen, unvermuteten Ansprung den überleidigen Gast kopfüber, kopfunter wieder in die freie Natur hinaus zu schleudern, als Hilarion rief:
»Ich bringe ja nur einen Gruß! Die Geisterwelt sendet uns! Fräulein von Krippen und Signora Innocentia schicken uns! Wir –«
Statt zu springen, setzte sich der Vater Konstantius, und zwar auf die platte Erde. Mit beiden Händen auf den Boden sich stützend, sah er empor zu dem Jüngling. Die Kapuze war ihm zurückgefallen, und kein Muskelspiel seines in der höchsten Überraschung aufgespannten Gesichts blieb dem Assessor und der von neuem zitternd an den Geliebten sich schmiegenden Jungfrau verborgen. Beide aber, Hilarion wie Ernesta, gaben ihm in der Beziehung im vollen Maße zurück, was sie empfingen.
Mehrere Minuten hindurch starrte man sich wortlos an; und dann, als der ehrwürdige Greis noch immer keine Anstalt machte, sich wieder zu erheben, überwand Hilarion die letzten Regungen seines Schauders. Er griff dem Alten unter die Arme, und vollständig traktabel geworden, ließ sich der Einsiedler emporziehen und auf den einzigen Stuhl seiner Behausung, den ihm Ernesta zuschob, hinsetzen. Es dauerte aber noch eine geraume Zeit, ehe er die Sprache wiedergewann und sein Stupor sich löste in dem langgedehnten Seufzer:
»Innocentia!«
»Und Rosa von Krippen!« fügte Hilarion hinzu.
»Ist es denn möglich?« stammelte der Alte. »Habe ich den Schlag vor den Kopf wirklich noch verdient nach einer dreißigjährigen Buße in der Wildnis?«
Wieder nach einer Weile stöhnte er:
»O liebes Fräulein, würden Sie wohl die Güte haben, mir einen Topf voll Wasser aus dem Quell nebenan zu holen? Ich würde selber gehen, aber die Beine sind mir wie abgeschlagen.«
Ernesta ging mit dem Topf, und der Vater Konstantius sammelte immer noch an seinen Geistes- und Körperkräften, als sie mit dem klaren, kühlen Trank zurückkam und ihm denselben, ohne daß sie sich sagen konnte, woher ihr der Mut dazu kam, an die Lippen hielt.
»Gießen Sie ihn mir gefälligst über den Kopf!« ächzte der Eremit und Hilarion, den Krug am Henkel ergreifend, führte aus, was man von seiner Braut verlangte.
»Huh – prr – ah – prr – uh! Ariston men hydor!« kreischte der Einsiedler, sich schüttelnd, und dann mit einem Male frisch emporspringend und beide Hände gegen die Decke seiner Waldhütte emporstreckend, schrie er:
»Wenn die Toten in der Weise zurückkehren, so komme ich auch zurück. Meine lieben, teuren jungen Freunde, bitte, nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir das Nähere. Mein gutes, schönes Fräulein, ich bitte Sie inständigst um Verzeihung wegen meiner Aufführung – ich meine wegen des unhöflichen Empfangs so werter Gäste. Aber ich versichere Sie, liebes Fräulein, Sie haben keine Ahnung davon, wie man von den Leuten hier in der Einsamkeit überlaufen wird. Schöne Einsamkeit – wahrhaftig! Wenn ich hier eine Waldwirtschaft mit einem Schilde ›Zum Einsiedler‹ eingerichtet hätte, so könnte es rundum im Holze nicht lebhafter zugehen! Wenn ich ein Heiratsbureau in den Zeitungen angekündigt hätte, könnten nicht mehr ratlose Hülfsbedürftige meine Vermittelung in Anspruch nehmen wollen. Sie kommen nun wahrscheinlich nebenbei auch mit der Absicht; aber mit Ihnen ist das in diesem Falle ganz etwas anderes. Rosa! – Innocentia! – ich beschwöre Sie, junger Herr, erzählen Sie, berichten Sie, lassen Sie nichts aus! Erzählen Sie mir alles vom Anfang an; – ich bin ganz Ohr!«
Daß wir nun auch noch einmal alles vom Anfang an erzählen, kann und wird niemand von uns verlangen. Ein dahin bezüglicher vereinzelter Wunsch gereichte uns selber zwar zur großen Ehre, aber der großen Mehrheit unserer Leser gewiß nicht zum Vergnügen. Wir erzählen deshalb nur weiter.
Der Eremit war nicht nur ganz Ohr, sondern auch ganz Quecksilber während des Berichtes seines Besuchs. Es zuckte ihm in den Armen und in den Beinen; es zuckte ihm durch alle Glieder, und er sprang nur auf, um sich von neuem zu setzen, er setzte sich nur, um von neuem aufzuspringen.
Anfangs ein wenig befangen und der eigenen Relation nicht trauend, trug der Assessor Hilarion die Geheimnisse dieser und der andern Welt, soweit sie ihm zwischen gestern und heute bekannt geworden, nach und nach immer fließender vor. Liebe und Geist war das Thema. – Die Villa Piepenschnieder, das Gartengitter und die Geliebte; – die hartherzigen Eltern, der schlimme Onkel und Baron Püterich, der Widerwärtigste aller Sterblichen (wie Ernesta drein warf), der Herr von Magerstedt; – das Junggesellenstübchen im Püterichshof, die Mondnacht und Rosa von Krippens Erscheinung, – die Droschke vor dem Walde, Oppermann und das liebliche Phantasma am Weiher im Walde. –
»Halt,« rief der Vater Konstantius, »das ist die Hauptsache! Das übrige war Ihre Geschichte, meine jungen, armen, guten Freunde, – hier aber beginnt die meinige! Lassen Sie sich jedoch nicht unterbrechen, erzählen Sie weiter; es dreht sich alles um mich her, und dazwischen begreife ich Dinge, die mir bisher vollkommen unbegreiflich hier in der Wildnis gewesen sind. O Innocentia, Innocentia, schöne Sünderin! Du warst es, a matronis detestata, die hier vor meine Tür gebannt war deiner Buße wegen, und um dich lustig über mich machen zu können? – Großer Gott, und die andere hatte ihre dreißig Jahre hinter der Tapete, hinter Philiberts Sofawand absitzen müssen?! Kinder, Kinder, wenn ihr mit eurem Bericht fertig seid, will ich euch meinesteils alles, alles klar machen! Gütiger Himmel, mir selber ist es so klar, daß der Verstand mir still steht, das Zwischenreich für mich beginnt und ich in jedem beliebigen Augenblick von meinem Bürgerrecht in Dschinnistan Gebrauch machen kann!«
»Wir sind zu Ende, – nicht wahr, Ernesta!« fragte Hilarion.
»Und wir wollten nur bitten, uns jetzt zu sagen, was wir tun sollen; – es wird so sehr Dämmerung!« fügte die Jungfrau scheu hinzu.
»Davon später,« rief der Einsiedler. »Wir kommen glücklich wieder aus dem Walde heraus! Nehmen Sie Platz, da, setzen Sie sich auf den Rand meines Lagers. Lassen Sie es ruhig Dämmerung, lassen Sie es Dunkelheit, lassen Sie es Finsternis werden, aber lassen Sie auch mich jetzt zum Worte! Ich kenne den Wald durch und durch, ich führe Sie auf einem Richteweg zu Ihrem Wagen, und morgen – komme ich in die Stadt und spreche mit Papa und Mama, und alles wird gut werden; aber augenblicklich muß ich mir Luft machen! Die Wände in der Stadt und die Bäume im Walde haben Zungen bekommen; und wenn die Wände und die Bäume anfangen zu reden, so will und muß ich auch sprechen! Setzen Sie sich und hören Sie zu und nehmen Sie sich ein Exempel dran.«
Hilarion und Ernesta ließen sich auf dem ihnen angewiesenen Platze nieder, und der Einsiedler, Vater Konstantius, entäußerte sich seiner Historie.
Und was kam zum Vorschein?
Alle Glieder fliegen auch uns, und bitterer Zweifel bestürmt uns, ob je die Menschheit sich soweit bezwingen wird, Vernunft anzunehmen.
Nichts anderes kam natürlich heraus als die Trivialitas trivialitatum, die uralte, abschmeckige Geschichte, daß ihn, den Waldbruder, die eine liebte, daß er die andere liebte, daß diese andere einen Dritten liebte, und daß dieser Dritte, nämlich der Baron Püterich, der einzige Verständige unter der ganzen Gesellschaft war, da er nur sich selber liebte, jedoch sein Vergnügen nahm, wie er es fand und wo er es fand!
Wir verschweigen an dieser Stelle diesmal den Familiennamen des Vaters Konstantius, da dieser Name sonst noch existiert. Sonderbare Erfahrungen haben uns in der Hinsicht vorsichtig gemacht, und wir lassen unsern Eremiten hin und her hüpfen in seiner Klause und seine Beichte hervorstoßen, ohne uns die Finger zu verbrennen.
»Daß ich einer der elegantesten Gardeoffiziere in der Armee, zugleich ein Weiser und ein Held, war, sehen Sie mir nicht an, Fräulein; aber es verhielt sich so, und daß ich immer ein Mensch von meiner eigenen Fasson war, mögen Sie dreist daraus abnehmen, daß ich seit dreißig Jahren hier sitze, und mich lächerlich mache, und mich von Innocentias Geiste necken lasse. O, mir geschieht schon recht! Wenn ich daran denke, wieviel Politik, Karriere, Wissenschaft und Kunst ich während dieser Zeit versäumt habe, so möchte ich auf der Stelle rasend werden! Und Rosa, Püterichs Verlobte und meine Geliebte, hinter der Tapete! und Innocentia – sie, der Stern in den Nächten von hunderttausend Narren von einer andern Art als ich, Innocentia in dem Weidenbaum am Froschpfuhl! – Und die Süße, die Lichtglänzende, die Arme hat meinetwegen ihrerseits ihre Karriere verfehlt! Sie hätte als Prinzessin XX. sterben können, und sie ist meiner Dummheit wegen am gebrochenen Herzen gestorben! Du liebster Himmel, unglaublich ist es; aber die Bäume sprechen, die Wände reden, und wenn mir die Ohren nach meinem Verdienst wüchsen, würden sie sofort das Dach mir über dem Kopfe durchstoßen! Das also hat mich gezupft? Das also hat mir über alle Pfade geglänzt? Das also hat auf allen Wegen durch diese Langweilerei hinter mir drein gelacht? – O Innocentia, und um was für eine geschraubte und verschrobene Gans habe ich das schönste Glück des Lebens nicht aus deinen Händen und deinem Herzen annehmen wollen?«
»Siehst du, so muß man sein, wenn man wirklich liebt, Hilli!« flüsterte das Fräulein dem Assessor zu, doch dieser hatte keine Zeit, acht darauf zu geben. Mit offenem Munde sah er auf die Sprünge und horchte auf die Worte des Einsiedlers.
Auch dieser auf nichts, als was er selber hervorsprudelte, achtgebend, schrie weiter:
»Und Püterich lebt noch! und Püterich fühlt sich noch immer wohl in seiner Haut! Er, dem Rosa – meine Rosa mit ihrer ganzen Seele sich hingegeben hatte! – Dreißig Jahre hinter seiner Tapete! es ist nicht auszudenken; – man fängt an, an allem zu zweifeln; an Kant, an Hegel, an Schopenhauer! Zweimal zwei ist fünf, und Humboldts Kosmos ist entweder gar nicht geschrieben oder ist vom Freund Magerstedt, den die Kameraden wegen Wechselreiterei, Wucher und lacheté aus dem Regiment stießen! Nathan der Weise ist ein Produkt des Patriarchen von Jerusalem; Goethes Werke sind Wagners Erzeugnisse, und Schiller – Schiller ist auf seinem Sterbebett zum Katholizismus übergetreten! Ich selber bin gleichfalls nur das Erzeugnis einer aus Rand und Band geratenen Phantasie, und der letzte Rettungsanker, den ich auswerfen kann, ist einzig und allein, daß ich morgen in die Stadt komme und mit Erbacher, meinem Bankier, spreche. Mit meinem Bankier und Vermögensmandatar –«
»Und mit Papa und Mama!« flüsterte Ernesta verschämt. »Unseretwegen!« fügte sie noch verschämter hinzu.
»Gewiß, mit dem größten Vergnügen! Alles werde ich tun, was in meinen Kräften steht!« rief der Einsiedler, und der Assessor Hilarion Abwarter sprach zu seiner Verlobten gewendet:
»Siehst du, die Geisterwelt hielt nicht umsonst ihre Hand über uns! Er hat einen Bankier! der Herr von Erbacher ist sein Vermögensverwalter! Alles, alles wird gut, und der Onkel Püterich und sein Freund Magerstedt setzen ihren nichtswürdigen Willen nicht durch. Rosa von Krippen wollte es nicht, und Innocentia hat uns lachend im Walde begrüßt.«
»Wozu sie nach allen Richtungen hin die Berechtigung hatte!« schloß der Vater Konstantius, von neuem mit beiden Händen nach dem Kopfe greifend. »Bei allem, was den Menschen zusammenhält, ich denke, wir reden von etwas anderem; – was kann ich Ihnen zur Erfrischung vorsetzen, meine lieben jungen Freunde?«
Zu den Eicheln des vergangenen Jahres riet er selber nicht, und was er sonst noch seinen Gästen anzubieten hatte, wird leider für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben, und zwar durch die Schuld Hilarions und Ernestas. Beide dankten eifrig und herzlich für alles. Es war jetzt in der Tat vollständig Dämmerung geworden, und der Abendwind fing bedenklich an, im Walde rund um die Hütte des Klausners zu rauschen. Sie hatten es alle nicht gemerkt, doch nun blickten sie alle in demselben Moment empor und sahen, daß die Nacht gekommen war.
»Was werden Papa und Mama sagen, und was soll ich ihnen sagen?« wiederholte das Fräulein, ihre Hände zusammenlegend.
»Grüßen Sie beide von dem Vater Konstantius und kündigen Sie ihnen meinen Besuch an, liebes Kind,« tröstete der Eremit; und dann führte er sie auf seinem »Richtewege« durch die Wildnis, die liebliche, kühle, lispelnde, rauschende Waldnacht, bis wieder unter die letzten Bäume des Forstes; und die Droschke hielt wirklich noch an der früheren Stelle. Der Kutscher hatte seine jungen Fahrgäste nicht verloren gegeben. Er hatte seinesteils gleichfalls mit Oppermann gesprochen, und Oppermann als ein verständiger, nachdenkender Mensch hatte gesagt:
»Verfluchter Kerl, für die Hälfte des Trinkgeldes, das dir Grobian in diesem Kasu bevorsteht, wartete ich bis ans Morgenrot, wie's im Orgelliede stehet. Und wenn Leonore, oder wie die hübsche kleine Mamsell sonst heißt, erst um Mittag fahren wollte, so wär's mir auch recht. Mein Name ist Oppermann, Herr Oberförster.«
Das hatte dem Kutscher eingeleuchtet, und er riß den Wagenschlag jetzt mit einer Dienstbeflissenheit auf, die wir begründen mußten, um sie glaublich zu machen. Der Assessor hob das Fräulein in das Gefährt, der Einsiedler schob den Assessor hinein, und zu dem Vater Konstantius sprach der Rosselenker:
»Sie steigen wohl lieber zu mir auf den Bock?« Professor der Philosophie war der Bursche nicht, aber er hätte es in jedem Augenblick werden können; und wenn wir je in der Philosophie dieser unserer Geschichte stecken bleiben, wenn uns durch einen schnöden Zufall die vorliegenden Dokumente vernichtet werden sollten, so würden wir uns zur Wiedervervollständigung des Materials dreist und ruhig an ihn wenden können, zumal da er seiner Frage hinzulog:
»Na, drei Fuhrbestellungen habe ich aber der Herrschaften wegen in den letzten drei Stunden verabsäumen müssen.« – –
Die Sterne vom Himmel, und ein Trinkgeld für das nächste Bedürfnis!