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Dieses Wiedersehens unsichtbarer Zeuge stand um diese Stunde an Hilarius' Fenster im Klosterhof und sah umflorten Blicks und frohbewegt nach den Bergen, die ihn von Hallbach, von der Hütte der wiedergefundenen Mutter seines Sohnes trennten.
Genauso, wie es gekommen, schwebte ihm das Zusammentreffen der beiden vor: das Nahen, Begrüßen, sachte Erratenlassen des Sohnes und die freudig befangene Aufnahme des Gastes, die betroffene Spannung, jäh auflebende Hoffnung und wieder Furcht vor übereilter Freude der Mutter – bis in jubelndem Ausruf, durch keinen Rückhalt, keinen Zweifel mehr gebändigt, Sohn und Mutter sich am Halse lagen.
Mächtig war Altringers Verlangen, als Dritter jetzt in die Hütte treten zu können und die nach dem ersten Entzücken nächste und natürliche Frage: »Wo ist Dein Vater?« durch persönliches Erscheinen beantworten zu können; allein der Jubiläumsmorgen war angebrochen, Altringer sah, wie unentbehrlich er im Klosterhofe sei, wo seit sechs Uhr morgens eine feierliche Bewegung herrschte, die bis gegen acht Uhr weniger in den äußeren Räumen des Klosterhofes, als in den Zimmern, Zellen und improvisierten Gelassen vor sich ging. Man machte festtäglichen Staat und sammelte sich innerlich wie zu einer weihevoll-gottesdienstlichen Handlung. Diese Stimmung, welcher sich auch das frivolste Gemüt nicht entziehen konnte, benützte mit bezeichnendem Spürsinn einer der Gelobenden, Pastor seines Zeichens, der pietistischen Richtung angehörend, um den Präsidenten zu bestimmen, die Versammlung mit einer gottesdienstlichen Handlung eröffnen zu lassen. Als Altringer unter Hinweis auf die verschiedenen Bekenntnisse der Gelobenden auf den aller kirchlichen und politischen Nebenzwecke baren Akt des Jubiläums diesen Vorschlag ablehnte, wollte der Pastor wenigstens mit einer, der Eröffnungsrede des Präsidenten vorhergehenden kurzen Predigt – und als auch diesem Ansinnen nicht willfahren wurde – mit einem von ihm vorgesprochenen Gebete einleiten. Der Präsident widerstand auch diesem Antrag, da die wohlgemeintesten heiligen Handlungen und Kirchenakte, zur unrechten Zeit und am unschicklichen Ort, namentlich bei weltlich-privaten Gelegenheiten vorgebracht, sich selbst um die Weihe und Würde bringen und den Zweck eines weltlichen Vorgangs eher beeinträchtigen als fördern. Er selbst, bemerkte Altringer, werde nicht ermangeln, in seiner Eröffnungsrede allen dem Jubiläum entsprechenden Stimmungen Ausdruck zu geben und dann jedem Kollegen anheimstellen, im Zusammenhange mit seinem Lebensumriss seinen Vortrag mit den aus seinen Erfahrungen und Forschungen resultierenden Lehrmeinungen zu durchleuchten und zu zieren, womit der wunderliche Kollege, die Hände über der Brust kreuzend und sich verneigend, endlich zufrieden schien, was bei einem andern Gaste des Jubiläums nicht der Fall war, der gleich nach dem Pastor mit burschikoser Lebhaftigkeit vor den Präsidenten trat und sich als Sohn eines im Revolutionsjahre viel genannten, während eines Straßenkampfes gefangenen und unter Aufsehen erregenden Umständen erschlossenen Agitationsmannes vorstellte.
Altringer erinnerte sich seines durch ausgezeichnete Rednergaben wie durch männliche Charakterstärke rühmlichen Kollegen mit warmer Anerkennung und war erstaunt, ja empört, als der Sohn völlig pietätlos, ja unverschämt die väterlichen Prinzipien verurteilte und sich bis zur frechsten Verunglimpfung des Namens und Lebens seines Vaters verirrte, dessen wohlverdienter Tod noch das einzig Befriedigende sei, das ihm das Andenken an den Vater biete. Mit Würde und Nachdruck verwies Altringer dem, wie unschwer zu ersehen war, durch ultramontane und sozialistische Giftlehren entarteten Sohne diese verdammenswerte Impietät gegen den Vater, hob hervor, wie in öffentlichen Dingen nur derjenige richtig urteilen könne, welcher die politischen Taten eines Mannes mit reifem und vorurteillosem Geiste, im Zusammenhange mit seinen Zeitverhältnissen abschätze, dass es unter allen Umständen, auch wenn die Überzeugungen sich widerstreiten sollten, vom Sohne unverantwortlich sei, das Andenken eines Vaters zu verunglimpfen, der seine Überzeugungen mit dem Leben besiegelt! Durch den herausfordernden Widerspruch des jungen Mannes in selten Bewegung geraten, wies Altringer darauf hin, wie der Verewigte zu jenen Bewegungsmännern zähle, welche als politische Vorkämpfer ihren Wert und Ruhm erst in späteren Zeiten behaupten werden; denn ohne dieses ernste, blutige Vorspiel würden jetzt nicht in Land- und Reichstagen ruhig, ohne Staaten zu erschüttern, die Fragen des Volkswohls, der bürgerlichen Freiheit, der menschwürdigen Humanität verhandelt und in Gesetzesform verwirklicht und das Bestreben, das deutsche Reich zu einigen, sei bei jenen Märtyrern mindestens so rein und so erhaben gewesen wie der Ernst und die bewunderungswürdige Tapferkeit der deutschen Armeen, die im großen Jahre 70 den Rhein überschritten, um durch beispiellose Siege auf französischem Boden das Hauptwerk der deutschen Reichseinigung zu vollbringen!
Aber gerade dagegen und gegen die ruhige Kulturarbeit der Verfassungsstaaten erhob der junge Mann in heftiger Aufregung seine Stimme. Er halte es, rief er, für seine Pflicht, zur Sühnung väterlicher Verirrungen als Apostel höherer Aufgaben zu wirken, den Kleinstaaten die ihre Kulturzwecke besser zu erfüllen wüssten, Beistand zu leisten, der bedrängten Religion zu Hilfe zu kommen und den Parias moderner Zivilisation, der arbeitenden Bevölkerung, den Weg zur vorherrschenden Stellung im Staate zu erkämpfen! Darum müsse er verlangen – und habe ein Recht, es zu tun – in die Versammlung der Jubilare zugelassen zu werden, da sein Vater ein Kollege der Letzteren gewesen! Altringer lehnte dieses Ansinnen rundweg mit dem Bemerken ab, dass nur Söhne von Gelobenden den Zutritt beanspruchen dürfen, der Verewigte aber zu diesen nicht gezählt habe.
»Selbst wenn dieser Beschluss der Jubilare nicht bestände«, fuhr Altringer mit Heftigkeit fort, »würde der Widerstand gegen Ihre Zulassung mit Recht beschlossen werden müssen. Denn Sie zählen, wie ich aus Ihrem Benehmen ersehe, zu jenen gemeingefährlichen Geschöpfen, die von entartet kirchlichen Tendenzen und sozialistischen Verirrungen infiziert und, von unsichtbarer Hand geleitet, die ruhige Kulturarbeit derer zu stören suchen, welche die Revolution geschlossen wissen wollen, damit auf dem Wege der Reform Staat und Volk friedlich und rührig zum Wohle der Menschheit zusammenwirken!«
Als der junge Eindringling sich so durchschaut und gezeichnet sah und an der Festigkeit Altringers erkannte, dass sein Versuch, in die Versammlung zu dringen und Zerwürfnis zu stiften, vergeblich sei, entfernte er sich tobend und drohte, in öffentlichen Blättern Revanche zu nehmen – gleich den Franzosen, welche noch kommen würden, der deutschen Gottlosigkeit ein Ende zu machen und das ihnen gewaltsam Entrissene sich wieder zu holen! …
Altringer stand noch, starr über solche Verworfenheit, in seinem Zimmer da, als sich mehr und mehr Jubilare um ihn sammelten, die eben erst aus der ihnen zugestellten Visitkarte ersehen hatten, dass er angekommen sei. Sie waren festlich angetan, in feierlicher Stimmung und begrüßten ihren Freund und Kollegen aufs Wärmste. – Insbesondere der Untersuchungsrichter und Roland, der Freihofsbesitzer, gaben ihrer Freude den lebhaftesten Ausdruck, wobei sie nicht unterließen, nach Hilarius zu fragen, den sie ebenfalls zu treffen meinten.
Altringer machte kein Hehl daraus, dass sein Sohn ausgezogen sei, seine eben erst entdeckte Mutter aufzusuchen, und versprach den verwundert aufsehenden Freunden in seinem Lebensumriss Ausschluss über diese abenteuerlich lautende Kunde zu geben. Auf die freundlichen Äußerungen über seines Sohn erwiderte Altringer mit der Bemerkung, dass man sich allerdings Glück wünschen dürfe zu dem Wohlverhalten eines Sohnes, wenn man sehe, bis zu welchen Verirrungen die Kinder vortrefflicher Eltern oft gedeihen. Er schilderte das eben stattgehabte Zusammentreffen mit dem jungen Manne und fand die lebhafteste Zustimmung zu seiner bündigen Abwehr des Zerwürfnisjüngers.
Die immer zahlreicher eintretenden Jubilare wurden hier durch einen Zwischenfall überrascht, der eben so viel Befremden als Heiterkeit erregte.
Meinböck erschien mit einem Zeitungsblatte und wies betroffen und erregt auf einige Telegramme hin, welche den Lesern von dem interessanten Jubiläum im Klosterhof Nachricht gaben, die ganze Feierlichkeit, die noch gar nicht stattgefunden hatte, ausführlich schilderten, den Inhalt der Eröffnungsrede des Präsidenten skizzierten und dann mit bewunderungswerter Ausführlichkeit die, wie es hieß, »von Geist, Witz, Humor strotzenden« Lebensbekenntnisse des Schauspieldirektors resümierten.
Einige der Jubilare belächelten die jedenfalls nur zu früh losgegangene Reklame eines Mitjubilars, von welchem offenbar die Mitteilung herrührte; sie machten kein Hehl daraus, dass sie den anwesenden Schauspieldirektor im Verdachte hatten, diese Telegramme verfasst und übermittelt zu haben. Andere nahmen die Sache ernster und tadelten das Hinauszerren einer unter Freunden beschlossenen und am besten mit Ausschluss der Öffentlichkeit zu begehenden Feier als ärgernisgebende Profanierung.
»Ich dächte«, rief der Anhänger der Lehre von den Monaden, »unser Freund hätte genug daran, das ganze Jahr in den Blättern ruhmredig auf der Mensur zu liegen, und würde es als Wohltat empfinden, einmal auch unberäuchert einen Tag unter Freunden zuzubringen!«
Einer der Jubilare ließ sich in seiner Entrüstung sogar zu der Äußerung hinreißen, dass es unter solchen Umständen besser wäre, das Jubiläum zu vertagen und durch Ausscheidung unwürdiger Elemente das hohe Freudenfest vor solchen Verunglimpfungen zu bewahren.
Diesen Misston beseitigte Altringer rasch. »Sind wir nicht zusammengekommen«, sagte er mit ruhiger Würde, »uns nach fünfundzwanzig Jahren den Freunden zu zeigen, wie wir sind? Hat unser Freund, der Bühnenbeherrscher, durch Veröffentlichung jener Telegramme etwas anders getan, als einen Zug seines Charakters schon vor seinen Bekenntnissen bloßgelegt? – Eitelkeit, Schein, Reklame sind ja fast unentbehrliche Bestandteile des Bühnenlebens geworden, und wie das leichtlebige Völkchen der Bühne erst das Publikum an diese ruhelose Reklame gewöhnt hat, so zwingt das Publikum wider den würdigsten Künstler, von sich reden zu machen, wenn er nicht unbeachtet und ungewürdigt bei Seite stehen will. Überlassen wir also unserem berühmten Freunde, sich in der Versammlung selbst zu schildern und die voreilige Veröffentlichung zu entschuldigen, wenn er sie wirklich verschuldet hat.«
Meinböck, der wie auf Kohlen stand, entschuldigte sein unberufenes Verweilen unter den Jubilaren; allein er halte es, bemerkte er, für seine Pflicht, zu melden, dass zwei Journalisten angekommen seien, welche Frau Heimann als Festberichterstatter telegraphisch berufen habe.
Diese Nachricht rief die kaum beschworene Aufregung unter den Jubilaren wieder wach.
Der Monadologe rief: »Soll nun auch die Ohrenbeichte nicht mehr sicher sein vor dem Hinausschleppen auf den öffentlichen Markt? Sollen wir rückhaltlos unser Leben den Freunden anvertrauen, um es andern Tages frivol beleuchtet oder boshaft entstellt in öffentlichen Blättern zu lesen? Wenn die Zulassung von Berichterstattern beschlossen wird, so bin ich der Erste, der auf Teilnahme an dem wohlgemeinten schönen Lebensfeste verzichtet!«
In diesem Sinne, mehr oder weniger entschieden, sprachen sich alle Anwesenden aus, und der Präsident ergriff erst das Wort, als sich einige Freunde, gereizt durch die Erinnerung an unbillige Verletzungen, die sie früher durch öffentliche Blätter erlitten, den Antrag stellten, den Berichterstattern nicht einmal den Aufenthalt im Klosterhofe zu gestatten.
»Dies würde das Übel gerade herbeiführen, das wir vermieden wissen wollen«, sagte Altringer. »Lasst mich raten, eine scheinbar bedenkliche Tatsache tunlichst unschädlich zu machen oder gar zu unseren Gunsten umzuwandeln. Bei Beurteilung der freien Presse, deren hohe Macht und unschätzbaren Nutzen kein billig Denkender leugnen wird, muss das Verdienstliche im Allgemeinen nie vergessen werden über den kleinen Übeln, deren Urheberin sie leider oft genug ist. Ich wenigsten habe es oft erwirkt, dass ein Mann der Presse böswillig an mich herangetreten und mit wohlwollender Gesinnung von mir geschieden ist; und nicht durch unlautere Mittel, sondern durch die richtige Art des Entgegenkommens. Die Berichterstatter sind einmal hier, gerufen durch die Gattin eines Mitjubilars, und dürfen deshalb weder abgestoßen noch ignoriert werden. betrachten und behandeln wir sie als unsere Gäste; mögen sie ihre Eindrücke über die Äußerlichkeiten des Festes, die ja ohnehin nicht verborgen bleiben können, niederschreiben; mögen sie an unserer Festtafel, an unserem gemeinsamen Ausfluge teilnehmen, dies wird uns sicherlich nicht stören, den beiden Gästen vielleicht angenehme Stunden bereiten und ihnen freundliche Gesinnung einflößen. Der Mensch wird milde, wenn er sich geachtet findet. Was unsere Bekenntnisse anbelangt, die allerdings unbedingte Vertrauenssache bleiben müssen, so gibt es einen Ausweg, auch sie im gewissen Sinne der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir beauftragen einen unserer Freunde, eine allgemeine, würdige und zulässige Mitteilung hierüber zu verfassen und sie, wenn ihr die allseitige Billigung zuteilgeworden, nicht nur den anwesenden Berichterstattern, sondern mit einer kurzen Jubiläumseinleitung den wichtigsten Blättern zur Verfügung zu stellen.«
Diese Ansicht fand Zustimmung, und als von dem Präsidenten der Monodologe selbst zum Festberichterstatter vorgeschlagen und angenommen wurde, fand sich dieser dadurch geehrt und befriedigt, da er es in der Hand hatte, sich selbst in das gehörige Licht zu setzten und seinen Gegner um eine Schattierung minder günstig erscheinen zu lassen.
»Und wo sind die beiden Fremden?« fragte Altringer den Hauswirt Meinböck.
»Sie waren kaum angekommen, so hatte sie der Schauspieldirektor schon entdeckt und mit Beschlag belegt; sie befinden sich bei ihm.«
Eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich angesichts dieser Behändigkeit, sich der öffentlichen Meinung zu bemächtigen; diese Heiterkeit fand noch ihren treffenden mehrfachen Ausdruck, als der Schauspieldirektor selbst eintrat und mit liebenswürdiger Geschäftigkeit den Präsidenten begrüßte, einige Freunde umarmte, andere umarmte und küsste – darunter den Monodologen – den minder Ansehnlichen aber nur die Hand reichte oder sie mit unrichtigen Namen anredete.
Er war in tadelloser Toilette, duftete von Rosenwasser und trug eine frische Nelke im ordensbedürftigen Knopfloch. Noch bevor jemand zu Worte kam, empfahl er die »Ihm befreundeten Journalisten«, machte sie durch satirische Bemerkungen lächerlich, nannte sie ein notwendiges Übel, das man ausnützen müsse, und glaubte die Zulassung der »Freunde« in den Versammlungssaal befürworten zu sollen.
Altringer teilte mit, was in Bezug auf die Berichterstatter beschlossen worden sei, worauf der Bühnengewaltige den Zwicker auf die Adlernase setzte, »auch gut!« sagte, und mit den Worten sich entfernte: »Da Frau Heimann abgereist ist, will ich vorläufig für die Bewirtung der trefflichen Freunde sorgen!«
Er beeilte sich, den Journalisten mitzuteilen, dass er zwar »trotz aller Energie« ihre Zulassung in den Versammlungssaal nicht habe durchsetzen können, dass er aber – nicht ohne Aufwand seiner ganze Überredungsgabe – zu erwirken in der Lage gewesen sein, dass die »Freunde« als »Gäste« behandelt und – wie er sarkastisch hinzufügte – durch offiziöse Mitteilungen auch über das »Konklave« beglückt werden sollen!
Damit hatte er sich den besonderen Dank der journalistischen Freunde erworben und ich den Vorteil gesichert, von allen Jubilaren am günstigsten in den Berichten behandelt zu werden.