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Sechzehntes Kapitel.
Tischreden

Die Reihe der Tischreden und Trinksprüche eröffnete Altringer. In richtiger Würdigung der noch hochgehenden Wogen siegreicher Erhebung gab er den Ehrenvortritt der deutschen Nation, welche, um den alten Glanz des Namens und der Macht wieder herzustellen, gleich dem Griechengott der Stärke, zwölf Arbeiten aufgenommen habe, von denen zwei, der Löwenkampf gegen den Erbfeind und das Ringen gegen die Hindernisse der Reichseinigung, gleichzeitig und erfolgreich aufgenommen wurden. Die deutsche Nation sei eben daran, die dritte Herkulesarbeit, die Verjagung der »Stymphaliden«, ungeheurer schwarzer Raubvögel, vom deutschen Boden zu vollziehen, wo sie in den Sümpfen der Reaktion und veralteter Regierungssysteme nur zu lange genistet und sich vermehrt. In sinniger Mythenbezeichnung fortfahrend, erwähnte er der weiteren großen Aufgaben des neuen Reichs und der Kultur und schloss seine maßvolle und wohltuend schwungvolle Rede mit einen Hoch auf den Tag des endlichen Sieges über alle Hindernisse und Feinde im Innern und nach Außen. – Der Exminister nahm das Bild der dritten Arbeit wieder auf und führte es in dem Sinne weiter aus, dass zur Bekämpfung dieser in der Luft, im Wasser und auf festem Boden heimischen, Leib und Seele verderbenden Ungeheuer die Keule der Staatsmacht nicht ausreiche, dass in diesem Kampfe die Pfeile des Geistes zu Hilfe kommen müssen, welche, von der Wissenschaft geschmiedet und von der Wahrheit gefeit, auch den dicksten Panzer dieser Raubvögel durchdringen. Er brachte sein Hoch der deutschen Wissenschaft, die mit unschätzbaren Erfolgen endlich auf das Leben unmittelbar einwirke, jährlich Tausende und Tausende mit geistigen Waffen ausrüste und in die Reihen der Kämpfer für Recht und Wahrheit stelle. – Der Medizinalrat sah auch mit Hilfe dieser trefflichen Waffen das Ziel noch nicht erreichbar, solange die Sümpfe des Aberglaubens und mystischer Verdummung nicht ringsum ausgetrocknet würden mit Hilfe der Naturwissenschaft, durch rastlos verbesserten Volksunterricht. Die aus diesen Sümpfen aufsteigenden Nebel seien es, welche die Bevölkerung ganzer Länderstrecken in ihre vergifteten Schleier hüllen, Leib und Seele in dumpfer Gefangenschaft halten und den »Stymphaliden« als Beute liefern. Sein Hoch gelte daher dem Tage, an welchem in deutschen Landen kein Sumpf und Nebel des Aberglaubens mehr zu finden sein werde, dem Tage, an welchem die »Stymphaliden«, Licht und reine Luft fliehend, für ewig in die Finsternis zurückkehren, der sie entstammen! – Der Oberschulrat gab eine treffliche Umschau über die Leistungen der deutschen Schule seit fünfzig Jahren und bezeichnete mit scharfen Linien die weiten Strecken deutschen Landes, welche aus »Stymphaliden-Sümpfen« in gesunde Gebiete mit hellschauenden Bewohnern umgewandelt worden sind. Gestützt auf entsprechende Daten und Erfahrungen, sah er die Zeit der nachhaltigen Trocknung und Lichtung der vielnamigen Sümpfe des Aberglaubens nicht so ferne mehr und hieß sie, wie ein Seefahrer auf stürmischer See das ersehnte, blühende Gestade, erfreut und gerührt willkommen! – Mit diesen warm aufgenommenen Reden war der durchaus ernste Teil der Tischreden abgeschlossen und fand, während der Wein seiner Wirkung zu äußern begann, in Toasten auf die Redner selbst, auf hohe Personen, Staatsmänner, Heerführer, Heroen der Wissenschaft usw., die sich in neuester Zeit um das Deutsche Reich, um Freiheit und Aufklärung verdient gemacht, seinen lebendigen Nachhall. – Der Pastor eröffnete die zweite Serie von Tischreden, welche, zwischen Ernst und Heiterkeit wechselnd, an erhebenden, munteren, aber auch peinlichen Momenten reich war; sie bildete den Übergang zur dritten Serie durchaus ergötzlicher Reden und Trinksprüche, welche der Ruinenwirt begann, der Theaterdirektor auf die Höhe des Erfolgs brachte, und ein ganz unerwarteter Redner zu einer Zeit abschloss, als der Wein bereits jeder lustigen Tollheit ausgiebigen Beifall sicherte. – Der Pastor gedachte mit salbungsvoller Eintönigkeit der schönen und aufmunternden Worte, mit welchen soeben der Wissenschaft und der Aufklärung gedacht und der Hoffnung Ausdruck gegeben worden sei, dass bald alles Dunkel aus den Köpfen und Gemütern verschwunden sein möge. Allein, fuhr er fort, er fürchte, fürchte sehr, die lieben Freunde und Kollegen hätten hierbei nicht bedacht, dass mit einem gewissen Dunkel der Geister und Herzen ein guter, ja der beste Teil der Religion und Poesie aus dem Vaterlande, aus der Welt vertrieben werden würde. Denn wie die Erde im Dunkel der Nacht liegen muss, um das Auge mit dem Anblick der himmlischen Sterne zu erfreuen, so bedürfe es eines gewissen Unschuldsdunkels der Gemüter, um die Sterne des Glaubens zu sehen und durch deren Anblick gestärkt und beseligt zu werden. »Die Armen im Geiste« seien es daher, die er glücklicher schätze als die Kinder des weltlichen Lichts, ihr Herz allein sei fähig, wie die Spiegelfläche des Sees, das Bild des Himmels und seiner Herrlichkeit in sich aufzunehmen. Die Missionare, fuhr er fort, erzählten Wunder von den Wirkungen der Heilslehre, die, in die Dunkelheit der Heidengemüter fallend, alle Himmel öffnet. Je mehr man daher in unserem Vaterlande das prosaische Tageslicht in die Geister und Gemüter leite, desto mehr sei die innere Mission angewiesen, die falschen Ideale zu bekämpfen, das fromme Unschuldsdunkel überall zu fördern und selbst in Heidenländern Ersatz an empfänglichen Gemütern aufzusuchen! Sein Hoch gelte daher den Armen im Geiste! – Es war ein peinlicher Augenblick, als der Pastor, sein Glas erhebend, um anzustoßen, kein zweites ringsherum entdeckte, das ihm zustimmend entgegengebracht wurde, daher er gezwungen war, allein zu trinken und unter lautloser Stille sich auf seinen Platz niederzulassen. Damit war aber das Schlimmste noch nicht abgetan. – Der streitbare Professor der Philosophie erhob sich plötzlich zu einem »kritischen Gange«, und was je an vernichtenden Geisteswaffen aufgeboten wurde, um die alles Edle und Hohe unter der Fahne der Religion bekämpfenden Feinde der Menschheit hinzustrecken, fuhr jetzt sausend nieder auf da in steinerner Resignation stille haltende Haupt des »Bruder Pastors«. Erbarmungslos flogen die Pfeile der Vernunft, der bittersten Satire, nach den geist- und herzverfinsternden Zielen des Jesuitismus; die schwarzen und blutigen Blätter der Geschichte wurden schaudererregend, zornentflammend aufgeschlagen, und nicht eher endigte der streitbare Professor seinen Waffengang, als bis die Lehren und Taten des Jesuitismus scharenweise und abschreckend dalagen, gleich den von Odysseus wohlgetroffenen Freiern. – Von dem rauschenden Erfolg dieses geistigen Straußes eifersüchtig gereizt, erhob sich nun auch der Kathederkollege des Redners und begnügte sich nicht, die etwa noch übersehenen Schuldigen des Jesuitismus zu erledigen, er griff auch die Säulen der moralischen Weltordnung an und begrub, mit Schopenhauer'schem Radikalismus rüttelnd, Schuldige und Unschuldige unter einem Trümmerhaufen der Negation. – Es entstand eine schwer zu schildernde Pause allgemeiner Verlegenheit; kaum dass hie und da ein schüchterner Höflichkeitsbeifall laut zu werden wagte. Den Himmel zu entvölkern und die Erde als trostloses Totenfeld mit einem Leichentuche zu bedecken, das ging denn auch den freidenkenden Jubilaren zu weit; vor dieser Philosophie des Nihilismus fühlte man alle Keime des Lebens erstarren. Nur der Ruinenwirt war voll freudiger Genugtuung. Das mörderische Niedermachen des »Kirchenheulers«, des »Muckers«, wie er dem Nachbarn bemerkte, war ihm wieder einmal eine wohltuende Erinnerung an die Kraftproben des Bewegungsjahres, und er schien nicht übel Lust zu haben, um das Wort zu bitten und, was der logische Kopf des Philosophen in geschlossener Gedankenreihe vorgebracht, mit Achtundviertiger-Phrasen populär breit zu treten, als eine launige Bosheit des Theaterdirektors dieser Unliebsamkeit zuvorkam. Letzterer hatte schon längst die lebhafte und ausschließliche Unterhaltung der schönen Schwestern mit ihren Nachbarn, insbesondere mit Hilarius, übel vermerkt und war stets, wenn eine beifällig aufgenommene Tischrede schloss, nach der andern Seite des Tisches geeilt, um mit den schönen Schwestern anzustoßen und so wenigstens auf Augenblicke die Glücklichen zu stören und durch witzige Einfälle ein Lächeln, einen Blick der wunderbaren Augen zu erobern; jetzt wollte er beiden Teilen, insbesondere wieder Hilarius, eine empfindliche Verlegenheit bereiten, klopfte an sein Glas, und da alles aufsah, froh, dass ein Redner der stockenden Geselligkeit zu Hilfe komme, sagte er: »Meine Herrschaften! Nicht ich will so kühn sein, das Wort schon jetzt zu erbitten; sondern ein anderer – ein Würdigerer als ich – der junge Herr von Altringer wünscht seine Tischrede zu halten!« – Allgemeine Stille trat ein. Aller Augen waren auf Hilarius gerichtet, der, in ein Gespräch vertieft, erst durch seine Nachbarschaft aufmerksam gemacht werden musste, wozu er ganz unvorbereitet herausgefordert war. Altringer, der Vater, welcher sich eben selbst erheben wollte, um, gegen seinen ursprünglichen Vorsatz, das Wort nochmals zu ergreifen und die Stimmung aus ihrem Banne zu befreien, musste nun seinem Sohne das Wort lassen und betrachtete ihn teilnahmsvoll und besorgt; doch dieser, eine augenblickliche Verlegenheit und Betäubung abstreifend, erhob sich rasch entschlossen und nahm die Herausforderung an. Ein vielsagender, tief teilnehmender Blick der älteren Schwester Wahrberg streifte an ihm empor, dann sah ihr Auge unbeweglich vor sich hin, während die jüngere Schwester langsam erblasste und vor sich niedersah. – Hilarius erinnerte an die Ideale, welchen die Jubilare vor fünfundzwanzig Jahren zugeschworen, unter deren hochgehaltener Fahne, gleichsam mit klingendem Spiele, sie in den Kampf des Lebens gezogen und mehr oder weniger erfolgreich gefochten haben. Er sei weit entfernt, in seinen jungen Jahren sich ein Urteil zu erlauben über die Beharrlichkeit und Tapferkeit im Kampfe, über die Trophäen, die jeder einzelne Jubilar an diesem Tage mit sich führe, aber er könne sich der Wahrnehmung nicht verschließen, dass die einst hochgehaltene Fahne jener Ideale von mancher Hand nur noch schwach emporgehalten werde, mancher Hand zu entsinken drohe – von mancher Hand mitten in der Schlacht fallen gelassen – ja, wie der Unglückliche aus Sonndorf getan – fliehend von sich geworfen worden sei! Mit Schrecken gedenke er solcher, die ohne Ideale ins Leben treten, sie müssten ohne Widerstand den Kläglichkeiten und Abgründen des Lebens verfallen. Wie daher in der Feldschlacht aus der Hand des sinkenden Fahnenträgers der aufrechte Nebenmann das wehende Banner, so nehme er die halbverlorene Fahne jener Ideale mit jugendlicher Begeisterung, die einst die Jubilare erfüllt, im Namen der deutschen Jugend, die stets in neuen Kolonnen nach dem Lebenskampfplatz stürme; möge diese Fahne von jungendlichen Händen stets wieder frisch und froh aufgenommen werden, wenn die voranstürmenden Kolonnen ermüden, verzagen, fallen. Solang die deutsche Nation, voran ihre Jugend, ihre Ideale noch hegt und verteidigt, werde es ihr nie fehlen an Männern, Erfolgen und Ehren! Diesen Idealen, vermehrt durch eines: das Ideal weiblicher Vollkommenheit und Schönheit, gelte sein Glas und sein begeistertes Hoch! – Diesen, mit gehobener, wohlklingender Stimme und mit Nachdruck vorgetragenen Worten folgte stürmischer Beifall, alles erhob sich, dem wackeren Sohne eines trefflichen Vaters seine Sympathien zu bezeugen, mit ihm anzustoßen und ihm Glück zu einer schönen Zukunft zu wünschen. Vater Altringer sah dem herzlichen Tumulte stillvergnügt zu; die ältere Schwester Wahrberg vergaß anzustoßen und blickte wie selbstverloren vor sich hin, die Wimpern senkten sich langsam und füllten sich mit Tränen, gedachte sie doch des jungen Mannes, der ihr grausam entrissen worden, der sonst wohl ebenso gefeiert im Leben dastehen könnte. In die Wangen der jüngeren Schwester aber kehrte das besorgt entwichene Blut in raschem Andrang zurück und färbte sie mit hellem, glückseligem Rot. Ihrem in zitternder Hand gehaltenen Glase folgte, da es leise anstieß, ein Blick so unsäglichen Ausdrucks, dass Hilarius Mühe hatte, sich nicht zu vergessen und zu verraten, wie sehr er bereits im Banne dieser Augen lag. – Auch der Theaterdirektor kam anzustoßen, aber nur mit den schönen Schwestern Wahrberg; denn als er dem Glase Hilarius' begegnen sollte, wich er demselben aus und sagte mit köstlich imitierter Ärgerlichkeit: »Sie haben mich enttäuscht, ja beleidigt. Ich habe Sie in Verlegenheit setzen wollen, und Sie haben einen Triumph gefeiert und stürmischen Beifall geerntet. Aller Beifall dieser Welt gehört aber mir; ich habe ihn en gros gepachtet – und Sie haben mir unbefugt fünfzehn Ellen davon abgeschnitten!« – Schon lange hatte die Justizrätin zeitweise fragend ihren Mann angesehen, ob er denn immer noch zögern würde, eine Lanze für die Frauen einzulegen; jetzt, da ein Wort über weibliche Vollkommenheit gefallen war, wurden ihre Blicke herausfordernd, und der Justizrat musste an sein nicht freigewählte Aufgabe, die er indessen zu Lob und Ehren deutscher Frauen und deren Wirksamkeit als Gattinnen und Mütter rühmlich löste. Freudig-verschämte Röte ergoss sich langsam den halt der Justitzrätin entlang, als ihr Gatte unter Beifall sich setzte und die Jubilare kamen, um mit der deutlich bezeichneten Mustergattin anzustoßen … Im Anschluss an die Tätigkeit der Hausfrauen hob nun der Verwaltungsrat die Verdienste des Mannes hervor, der nimmer ruhend der Behaglichkeit im Hause die Mittel zuführe; unter Hinweis auf die besten und kürzesten Wege, Vermögen zu erwerben, pries er – Altringers Voraussicht peinlich bewährend – einige Unternehmungen »höchster Fruktifizierung« an, deren Gründer und Leiter er selber sei! – Aus der Unbehaglichkeit, in welche dieser Toast versetzte, befreite bald darauf der Ruinenwirt, der um das Wort bat und es unter heiterer Zustimmung erhielt. Schon nach den ersten Worten glaubten die Jubilare, sich mitten im Bewegungsjahre 1848 zu befinden, so dicht fielen die damaligen Tagesphrasen. Aus allen bisherigen Reden und Toasten, sagte der Sprecher, hätten ihm keine Worte angenehmer herausgeklungen als: »Sümpfe der Reaktion«. Sie hätten ihn wieder »wie frische Morgenluft« angeweht. Aus diesen Sümpfen stiege sie auf, die berüchtigte »Kamarilla«; darin entstünden sie, die »Fürstenknechte«, die »vertierten Söldlinge« und »Finsterlinge«; unter ihren Einwirkungen entwickelten sich die Scharen von »Heulern«, gleich den Fröschen im stehenden Gewässer. Und nun gab der lustige Wühler zu großem Ergötzen, oft unter schallendem Gelächtere, eine Klassifizierung von »Heulern«, die unter Anwendung des tollsten Küchenlateins umso drastischer wirkte. So fände man, fuhr er fort, sogenannte Mondheuler (ululatores lunares), die nur in stiller Mitternacht dem Monde ihr Herzeleid klagten; Waldheuler (silvestres), die nur im Walde, wo er am dichtesten ist, ihrem Jammer Worte leihen; Parlamentsheuler ( parlamentares), die in allen großen Momenten der Opportunität huldigen; Ordensheuler (stellares); Beförderungsheuler (parforce-processionales); Kirchenheuler (Loyolales); Börsenheuler (bourse-ou-la vieenses); Ernteheuler (agrarii-fexales) usw. Solange es solche Heuler gebe, werden die Wühler nicht ruhen, bis die gemütliche Anarchie zur herrschenden Staatsform geworden; ihr, der gemütlichen Anarchie, gelte sein Glas und sein Hoch! – Die heiter-ironische Stimmung, welche dieser Rede folgte, veranlasste den Theaterdirektor, nun seinerseits der Festbankettpflicht zu entsprechen, und so klopfte er an sein Glas, erhob sich und hielt nachstehende, von den Blättern nach seiner eigenen Redaktion später gebrachte Rede:


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