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Erstes Kapitel

Dies geschah denn auch.

Eleonora hatte bereits nach einem Fiaker geschickt; nach Verlauf einiger Minuten hielt er vor dem Hause; die Baroness und Minnele stiegen ein und fuhren in der Richtung nach einem öffentlichen Parke, so sie ausstiegen und einige Gänge im Schatten der Hauptallee machen wollten.

Während der Fahrt wurde Eleonore seltsam gesprächig.

Sie sprach natürlich vom Zustande der Baronin und sprach vom sterbenden Onkel; indessen fehlte es auch nicht an Bemerkungen über andere Dinge, wenn hier oder dort ein Gegenstand ihre Aufmerksamkeit anzog.

Vom sterbenden Onkel erwähnte die Baroness unter anderem, dass er über die Maßen reich, nicht verheiratet und etwa siebzig Jahre alt sei.

Schon dreißig Jahre lebe er wie ein Einsiedler in einem prachtvoll erbauten und sorgfältig erhaltenen Landhause vor der Stadt; ein weitläufiger Park herum halte ihm alles lästige Geräusch des Lebens ferne; der geistige Verkehr mit sehr wenigen Menschen aus der Stadt ersetze ihm den Umgang mit der übrigen Welt.

»Wahre Neigung hegt er eigentlich nur für die Frau Baronin«, fuhr Eleonora fort – »ihr gehört sein ganzes Herz, sein Reichtum und seine Sorge. Sie allein ist jeder Zeit willkommen; den Doktor will er nur in Augenblicken des Schmerzes und den Priester nur in Stunden ernster Betrachtung sehen. Stirbt er heute, so ist es gewiss, dass die Frau Baronin seine Erbin und morgen im Besitze von einigen Millionen ist.«

In diesem Augenblicke kam ein junger Reiter dem Fiaker entgegen, der Minnele und Eleonoren führte; der Reiter hielt auf einmal die Zügel straffer, spornte seinen Rappen, dass er Männchen machte – und zog den Hut, indem er am Wagen vorüber trabte.

Schön-Minnele wurde feuerrot.

Es war derselbe junge Mann, der von wenigen Stunden in der Rom-Julie-Szene einen der Hauptrollen übernommen hatte.

Eleonora aber, ihrer Unschuld wohl bewusst, senkte weder den Blick, noch wechselte sie die Farbe, sie dankte vielmehr dem Reiter ernst und würdig durch züchtiges Verneigen des Kopfes und sagte dann zu Minnele unbefangen:

»Freiherr von Wetter, ein Herr, welcher gestern auch auf dem Balle war, aber unwohl wurde und den Ball schon früh verlassen musste.«

Am Eingang in der Hauptallee des öffentlichen Parks verließen Minnele und Eleonora den Fiaker und gingen zu Fuß einige Male im Schatten der Doppelreihe wilder Kastanienbäume auf und nieder.

Etwas müde geworden, rasteten sie auf einer Bank, erhoben sich dann wieder, um ihren Streifzug seitwärts durch die Windungen verschiedener Nebenwege des Parks fortzusetzen

Eleonora führte das Wort noch immer lebhaft, wenn auch beinahe zerstreut, ihre großen, unruhigen Augen waren fort und fort auf Beobachtung von Spaziergängern aus; Minnele aber ging still und befangen nebenher. In allerlei Nachsinnen versunken, ließ sie ihre Begleiterin gerne reden und die Wege wählen, welche sie gehen sollten.

Plötzlich blieb Baroness Eleonora stehen und sagte, ihren Sonnenschirm wie einen Kreisel über dem Kopfe drehend:

»Minnele, was meinen Sie? Das schöne Landhaus des Onkels ist nicht weit von hier; wie wäre es, wenn wir uns hinfahren ließen und persönlich anfragten, wie es dem Kranken geht? Die Baronin Mutter wird auch bereits dort sein, und so erfahren wir zugleich, wie es auch mit ihrem Befinden steht.«

Der Gedanke war gut; er gefiel auch Minnele so sehr, dass sie ausrief:

»Ja, Baroness! Wir wollen hinfahren, vielleicht ist es am besten, sogleich!«

Mit der Ausführung des Gedankens wurde nun nicht mehr gezögert. Beide gingen nach dem Eingang in die Haupthallen zurück, stiegen in ihren Fiaker, gaben Richtung und Ziel an und fuhren in Eile von dannen.

Das Landhaus »des Onkels« befand sich eine halbe Stunde Weges außerhalb der Linie der nächsten Vorstadt.

Eine schön gelegene Hügelreihe, welche sich in südwestlicher Richtung halbrundförmig um die Vorstadt zieht, ist mit Landhäusern besät. Die Gebäude sehr bunten Stiles krönen die Spitzen der Hügel, an denen abwärts sich geschmackvolle Parkanlagen ziehen.

Unter diesen beneidenswerten Landsitzen bildete jener des Onkels der Baronin einen der schönste.

Eine hohe Mauer um den Fuß des Hügels verschloss jedem Unberufenen den Eintritt; selbst das gewöhnliche Gittertor, welches dem neugierigen Auge einen Teil der Gartenanlagen in der Nähe hätte enthüllen können, war hier einem hohen, schweren Eichentore gewichen, so dass in diesem einzigen Umstande schon eine Bestätigung dessen zu liegen schien, was die Baroness dem Minnele von derm Einsiedlerleben des Onkels berichtet hatte.

Vor diesem Eichentore hielt auch nach ziemlich kurzer Fahrt der Fiaker, welcher Minnele und Eleonoren führte.

Der Fiaker musste absteigen und die Glocke ziehen.

Auf einen sehr heiseren Ton derselben wurde nach einer Weile von Innen ein Schlüssel in das Tor gesteckt und geöffnet.

Ein schwarz gekleideter Kammerdiener mit blauem Gesicht (derselbe, der uns vom Balle her bekannt geworden) trat zwischen das Tor und fragte leise und mit niedergeschlagener Miene, wer da sei und was man wünsche.

Eleonora hob ihren Schleier auf, stieg aus dem Wagen und erwiderte:

»Wir wünschen in den Park zu kommen und Nachricht über das Befinden Seiner Exzellenz und der Frau Baronin zu erhalten.«

Das blaue Gesicht schien Eleonora zu kennen, verneigte sich schweigend, wich zurück und ließ die Damen in den Park treten.

Minnele sah mit starren Augen auf das blaue Gesicht des Kammerdieners, sie glaubte es gestern auf dem Balle bemerkt zu haben.

Das Eichentor wurde wieder geschlossen, und der Kammerdiener sagte, indem er die Damen einen breiten Sandweg des Parkes weiter führte:

»Der Zustand Seiner Exzellent lässt noch jeden Augenblick das Schlimmste befürchten; der Frau Baronin ist etwas besser. Doch will ich sogleich für neue Nachricht sorgen und die Damen melden, wenn sie es wünschen.«

Die Baroness erwiderte:

»Melden Sie uns und sagen Sie, dass uns Kummer und Besorgnis in dies Heiligtum eines Sterbenden trieben. Wir wollen hier warten.«

Der Kammerdiener ging, und die Baroness und Minnele ließen sich in der Nähe einer Blumenterrasse in einer Laube von Nachtschatten nieder und genossen des herrlichsten Ausblicks auf die tieferliegende, türmereiche Stadt.

Nach Verlauf einiger Minuten kam anstatt des Kammerdieners der Geistliche von der Villa herab, welcher heute schon im Hause der Baronin bemerkt worden war.

Er trat an den Eingang der Laube, in welcher Minnele und Eleonora saßen und sagte:

»Ich komme im Namen der Frau Baronin, meine Damen, um Ihnen zu danken für die Aufmerksamkeit, welche Sie hierher geführt. Leider ist der Kranke nicht in der Verfassung, dass ihm Ihre werte Gegenwart gemeldet werden kann; allen die Frau Baronin, die sich um vieles besser fühlt, ist außerordentlich erfreut über Ihre Nähe. Sie hat mir aufgetragen, Sie zu veranlassen, dass Sie so lange hier verweilen, bis sie selber auf einige Augenblicke vom Lager des ehrwürdigen Kranken abkommen kann.«

Während der Geistliche dies sagte, wickelte er ununterbrochen seine Hände in- und auseinander, blickte abwechselnd empor und zu Boden und setzte sich zuletzt den beiden Damen gegenüber, indem bald ein weltliches Lächeln und bald ein frommer Ernst um seine Lippen spielte.

Er war ein Mann von etwa achtundvierzig Jahren, mittelgroß, blassen, runden Gesichts, immer sozusagen mit dem ganzen Körper in Wellenbewegung wie einer, der beständig in melodischen Redewendungen fühlt und denkt.

Auf die Frage Eleonorens, was der geistliche Herr von dem Zustand des Kranken halte, erwiderte er mit einem salbungsvollen Seufzer:

»Der leib wird fallen, der Geist wird sich erheben. Kein Zweifel, der Herr wird sich dessen freuen. Seine Exzellenz hat gelebt wie ein Sohn der Kirche, er stirbt wie ein Christ, er wird leben wie ein Auserwählter Gottes.«

Nach einer Pause fügte er hinzu:

»Dass eines so frommen, ehrwürdigen Mannes letzte Stunden durch wunderliche Bedenken getrübt werden, ist sehr zu bedauern.«

Baroness Eleonora erlaubte sich zu fragen, worin diese Bedenken bestünden.

»Sein Exzellenz«, fuhr der Geistliche fort, »beklagt sein Leben wie ein halb und halb verlorenes, weil er ohne angetraute Lebensgefährtin auf Erden gewandelt und weil er nun hinüber soll vor das besondere Gericht, wo es heißen wird: Warum hast Du Deine Reichtümer an Dich gehalten wie ein Geiziger und sie nicht geteilt mit einer auserwählten Gattin und sie nicht angewendet zur Erziehung und Beglückung leiblicher Kinder? Wehe denen, die da im Schoße ehrbarer Familien beglückt und frommen Sinnes wandeln könnten, aber im Überflusse alleine wandeln, verödet im Gemüt und ohne den Trost einer Mutter- und Kindesstimme am Bette des Todes.«

Die Stimme der Baronin, welche in einiger Entfernung rief: »Wo sind sie? Wo finde ich mein Minnele?« unterbrach die salbungsvollen Worte des Redners.

Der Geistliche stand auf.

»Die Frau Baronin kommt«, sagte er aus der Laube tretend: »Sie verzeihen, dass ich mir erlaubt habe, Ihnen einige Augenblicke Gesellschaft zu leisten, meine Damen.«

Minnele und Eleonora hatten diese Worte kaum mehr gehört, denn sie waren der Baronin bereits mit offenen Armen entgegengeeilt.

»Mein Kind! Mein liebes, holdes Kind!« rief die Baronin, Minnele mit scheinbar sehr großer Bewegung in die Arme schließend: »O, dass ich Dich endlich wieder sehe, wieder in meine Arme schließe, wieder habe!«

Minnele war erschüttert von diesem Empfange, sie blickte mit feuchten Augen zur Baronin empor, die aber bestrebt war, hinter exaltierten Gebärden der Freude und Rührung etwas Unheimliches in Blick und Wesen zu verbergen.

»Es ist mir nicht erlaubt gewesen«, fuhr sie fort, »Dich vor einigen Stunden zu sehen und Dir selbst zu erzählen, was vorgefallen sei, mein Kind; jetzt aber lasse ich Dich nicht so leicht von meiner Seite, Du sollst entschädigt werden, Du sollst alles wissen, da ich ja weiß, was mich erschüttert, das geht auch Dir zu Herzen!«

Sie gab nun auch der Baroness die Hand und sagte:

»Es war ein wahrhaft kindlicher Einfall von euch, dass ihr gekommen seid, uns hier zu überraschen. So kommt denn, auf dass ich euch weiter über des armen Onkels Befinden Auskunft gebe!«

Zwischen Minnele und Eleonoren ging nun die Baronin einen breiten Sandpfad auf und nieder und erzählte Folgendes zu dem, was wir schon wissen.

»Der Onkel«, sagte sie, »hatte vor einer halben Stunde wieder einen lichteren Augenblick, der Schmerz hatte nachgelassen, und Geist und Herz waren gesammelt. Da fing der Arme sein bitterliches Klagelied wieder an, dass er so allein durch die Welt gewandelt und nun weder Frau noch Kinder an seinem Sterbebette sehe. Hätte ich Dich nicht, liebe Hermine, sagte er zu mir, ich hauchte meine traurige Seele in den Armen fremder Menschen aus, und kaum eine Träne würde meinem Angedenken fließen. Ich nahm all meine Trostgründe zusammen, um ihn zu beruhigen, aber meine Mühe wollte nicht verfangen. Hermine, fuhr er nach einer Weile fort, und zwei Tränen zitterten in seinen Wimpern: Hermine, ich glaube, ich wäre schon gestorben, meine Seele hätte sich schon hinübergeschwungen, und alles wäre überstanden, wenn nicht diese Bedenken meine Seele furchtsam machten, so dass sie unnatürlich sich an meinen Körper klammert und nicht scheiden und weichen will. O, dass ich nicht sterben kann wie ein vollkommen Reiner, dass ich keine Ruhe werde finden können jenseits des Grabes, dass ich nicht jetzt noch, an der Pforte des Todes einem reinen, kindlichen Wesen meine Hand reichen, sie zu meiner Gemahlin ernenne – dann sterben und sie als Erbin eines Teils meines Vermögens im Glück der Erde zurücklassen kann! Freier könnte ich vor das Gericht des Herrn hintreten, und ich würde den Vorwurf über das große Versäumnis meines Lebens milder hören, denn ich hätte mich beeilt, noch etwas Weniges vor dem Tode gut zu machen! Bei diesen Worten sah der Doktor den Priester, der Priester mich an – unsere Blicke verstanden sich – ich stürzte vor Überraschung und Freude an dem Bette des Kranken auf die Knie, ergriff mit beiden Händen seine bebende Rechte und rief unter Schluchzen und Weinen: Onkel! Teurer geliebter Onkel! Dein Engel hat aus Deinem Munde gesprochen, er hat uns den Balsam Deines Herzens gezeigt, wir werden ihn bringen, teuerster Onkel, und Deine Seele, muss sie nach Gottes Ratschluss von uns scheiden, wird in Ruhe und Frieden scheiden! Und nun bat ich ihn, dem würdigen Priester und mir zu erlauben, dass wir ein reines, unschuldiges Kind, welches Namens oder welcher Herkunft immer, ausfindig machen dürften, um es an sein Sterbebett zu bringen und ihm als Gattin antrauen zu lassen. Der Onkel nickte lebhaft mit dem ehrwürdigen Haupte, er drückte mir dankbar die Hand, ein Schimmer überirdischer Freude zog über sein Gesicht, und er sagte: »Tut das und ruft mir meinen Rechtsfreund, dass er die Eheakte verfasse und bereit halte – aber ach, beeilt euch, denn ungewiss ist jede Minute meines armen Lebens! Sogleich wurde um den Rechtsfreund gesendet, schon ist er oben an dem Bette des Onkels, die Papiere werden in Ordnung gebracht, längstens morgen bis elf Uhr unterzeichnet das erste beste brave Kind ihrerseits den Ehekontrakt, auch für Zeugen wird gesorgt, und der Onkel wird vermählt seine Seele aushauchen und wird die reinste Jungfrau-Witwe hinterlassen mit Reichtümern und durch das Bewusstsein gesegnet, dass sie ein Werk der Barmherzigkeit an einem armen Sterbenden geübt!«

Diese Mitteilung war mit musterhaftem Pathos vorgetragen.

Minnele war sehr gerührt, und die Baroness drückte zu wiederholen Malen ihr Schnupftuch an die Augen; ob sie weinte, ist damit noch nicht gesagt.

Aber nun schien die Baronin nicht länger mehr bleiben zu können. Mit einer plötzlichen Wendung gegen Minnele sagte sie:

»Ich muss wieder zu dem Kranken, süßes Kind, fahre Du mit der Baroness wieder heim. Wenn ich kann, werde ich folgen – ade, ade, mein armes Kind – ade, meine liebe Eleonora – auf Wiedersehen!«

Während dieser Worte umarmte sie die Mädchen hastig, winkte dann dem Geistlichen, der in bescheidener Entfernung auf- und abgegangen und sagte, indem sie ohne Zögern dem Hause des Onkels zuschritt:

»Folgen Sie, ehrwürdiger Herr!«

Minnele und Eleonora verließen den Park und fuhren heim.

Droben aber, hinter den großen Scheiben eines Erker-Spiegelfensters stand der »sterbende Onkel« – Niemand anders als Seine Geister- oder Gouverneurexzellenz – und verfolgte mit flammenden Blicken durch seine goldene Lorgnette Minneles Erscheinung, solange sie im Garten zu sehen war.

Erst als Minneles Rosakleid hinter dem eichenen Gartentore verschwand, ließ er sein Auge nach der Baronin suchen, welche ihm Leben und Tod zu überbringen hatte.

Als diese in das Erkerzimmer trat, rief er lebhaft aus:

»Nun, göttliche Hermine, wie steht's mit meiner Seligkeit und meinem ewigen Leben? Wie hat Minnele die Dinge aufgenommen?«

Die Baronin winkte lachend mit dem Schnupftuch und warf sich auf einen hochlehnigen Sessel.

»Gut«, antwortete sie, »gut, mein Herz. Der erste Eindruck hat vortrefflich gewirkt. Sie weint. Sind nur erst die Garben ihres Mitleids recht in Reife, dann ernten wir sie mitsamt dem Acker ehre ganzen Wesens.«


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