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Elftes Kapitel

»Was ist denn vorgefallen zwischen dir und ihr?« sagte Eleonora sehr erschrocken und leise zur Toni Fähringer, sie geheimnisvoll bei Seite führend – »Mir scheint, diese Ohnmacht schreib sich von eurer Unterredung her!«

Toni Fähringer, plötzlich sehr ernst geworden und wahrscheinlich von der Baronin nichts Gutes befürchtend, legte ihren Zeigefinger über ihre Lippen und sagte, indem sie besorgt nach der sich wieder erholenden Ohnmächtigen schielte:

»Bst! Um alles in der Welt; sage nichts, sie still, sei still ... Ich will dir später einmal ... Sieh' sieh', es wird besser, sie kommt zu sich, sie schlägt die Augen auf ... Komm, dass sie mich nicht gleich erblickt – ich will dir später alles sagen: weg, weg – oder bleib du hier, ich will mich eine Weile verlieren ...«

Sie ließ die Han der Baroness los und schlich gegen die Waldbaumgruppe des Parkes davon.

Minnele hatte sich so weit erholt, dass sie, gestützt auf den Arm der Baronin, nach dem Hause und auf ihr Zimmer gehen konnte.

Sie bat dringen, nicht nach dem Doktor zu schicken, denn es sei ihr so schon besser; aber lieb und gut wäre es, fügte sie hinzu, wenn sie ein wenig allein sein dürfe, denn sie wolle zu Bette.

Die Baronin ging bereitwillig auf diese Bitte ein und sorgte dafür, dass Minnele allein und von allem Lärmen sicher auf ihrem Zimmer bleiben konnte.

Auf die Frage der Baronin, wie sich ein so schnelles Unwohlsein habe einstellen können, erwiderte Minnels ausweichend, sie könne es nicht sagen, es werde aber bald und vorüber sein.

Indessen war die Baronin kaum aus dem Zimmer, als sich Minnele, angekleidet, wie sie war, über ihr Bett hinwarf und in einen Strom von Tränen ausbrach.

Die bodenlos rohe Beleidigung einer Erzfeindin, die statt alte Vergehen gut zu machen, dieses neue, größer hinzugefügt hatte, schmerzte Minnele unaussprechlich.

Welch' ein grässlicher Sinn lag in den Worten der Toni Fähringer! Welche Anschuldigung! Und mit welcher schändlichen Frechheit waren diese Worte nach Minneles schuldlosem Haupte geschleudert worden!

Aber nun – nun diese beim ersten Blick, nach dem ersten Wort erkennbare Elende sollte das Kind einer adeligen Dame vom Lande, eine Freundin der Baroness, eine Schutzbefohlene der Baronin sein; man hatte sich die Mühe gegeben, diese Verworfene feierlich anzukündigen, liebevoll aufzuführen, in Minneles Kleider zu stecken und als künftige Freundin bestens anzurühmen!

Ah! ... Ah! ...

Wie sich auf einmal gewisse Erinnerungen in Minneles Gemüt regten!

Hatte nicht ihre Mutter vor der Abreise aus der Heimat schon Winke fallen lassen über die großen Gefahren für Mädchen in den Städten? Hatte nicht Justus Erdlein am ersten Morgen der Wanderung wie ein väterlicher Freund über dasselbe Kapitel zu den Mädchen wohlmeinende Worte gesprochen? War nicht das Gespenstergesicht Seiner Exzellenz halb und halb in Folge dieser Verwarnungen dem Minnele eine so Schauder erregende Erscheinung geworden?

Ach, gleich die erste Frau, bei welcher Minnele in Dienste treten wollte, die Frau des Hofadvokaten hatte dem schönen Kinde laut und liebevoll den Segen mitgegeben: Mögest du bewahrt bleiben vor den Gefahren dieser großen, schlimmen Stadt ...

Minnele prüfte erschrocken und mit schnellem Überblick das Leben im Hause der Baronin, besah die seltsamen Vorfälle desselben zum ersten Male nicht mit dem verklärenden Auge eines von Dankbarkeit erfüllten Kindes, verweilte mit Unruhe bei den Szenen des Balles, gedachte mit neuer Verwunderung der Verkleidung der Zofe, sah mit verstärktem Schauder den jungen Mann aus dem Fenster der Baroness Eleonorens steigen. –

Ah! Man hatte sich nicht gescheut, offenbare Lügen mit Kaltblütigkeit und Würde vorzutragen – man hatte sich betrunken – man hatte im Taumel des Rausches Bruchstücke gemeiner Lieder gelallt – man hatte eine Elende, eine Verworfene, in der Voraussetzung, dass sie Minnele nicht kenne, zu einer Vertrauten und Freundin auserlesen und empfohlen – wie? Geschah das wohl, um Minnele durch sie in guten Sitten unterweisen zu lassen?

Nein, an gemeinen Umgang dachte man sie zu gewöhnen.

Wer stand nun dafür, dass Eleonora und ihre Freundinnen etwas Besseres waren als diese Fähringer? Wer stand dafür, dass die Baronin selbst – o schrecklich, entsetzlich, entsetzlich! ...

Was war am Ende die ganze Geschichte mit dem sterbenden Onkel, die Szene mit dem Heiratsakt am Sterbebette? ...

Minnele setzte sich auf einmal, als ob sie ein markerstarrendes Gespenst vor Augen hätte, am Rand des Bettes steif empor, presste ihre rechte Hand krampfhaft in die Decke des Bettes, fuhr mit ihrer linken Hand langsam vor ihren starr gewordenen Augen nach links hin, als zöge sie sachte, sachte, sachte einen Schleier von einem ungeheuren Geheimnis weg – erschauderte plötzlich, drückte ihre beiden Hände eine Weile heftig in die Augen, sprang dann empor –

Und stand auf einmal zwei Schritte vor ihrem Bette da: ein anderes Wesen als einige Sekunden zuvor; ruhig, fest und klar, körperlich scheinbar größer, geistig aber wunderbar reif und selbständig geworden.

Die außerordentlichen Umstände hatten ihre Charakterreife beschleunigt; Minneles Wesen hatte in diesem Augenblicke die zweite Geburt gefeiert.

Bald darauf kamen Schritte die Treppe herauf, und die Baronin trat ein.

»Nun, Minnele, wie geht dir's jetzt?« sagte sie mit gewohnter, herzlicher Würde.

»Gut, besser, Frau Baronin«, erwiderte Minnele mit einem Tone, der die Baronin stutzen machte.

»Bist du denn nicht zu Bette gegangen?« sagte die Baronin, einen erschrockenen Blick auf Minnele werfend.

Minnele erwiderte:

»Im Bette ist mir schlimmer geworden. Ich will in die Luft.«

Dabei ging sie, um die Baronin nicht ansehen zu müssen, von einem Fenster zum anderen und öffnete sie.

Die Nähe der Baronin war ihr drückend; ihre Freundlichkeit hatte auf einmal etwas entschieden Widerwärtiges für sie.

»Willst du ausfahren, Minnele?«

Minnele wurde plötzlich von einem Gedanken ergriffen, wollte schon lebhaft mit »Ja« antworten, bedachte sich wieder und sagte:

»Nein, Frau Baronin.«

»Kannst dir jetzt Gesellschaft im Garten um dich sehen?«

»Nein, ich will allein sein.«

»Aber ich muss in die Stadt, um zur morgigen Abreise alles noch zurecht zu machen; du wirst dann gar zu allein sein, Minnele.«

»Ich bin am liebsten allein.«

»Auch die Baroness ist nicht mehr hier; der Freundin vom Lande ist ebenfalls nicht ganz wohl geworden, beide sind bereits nach der Stadt gefahren.

»Ruhe und Luft, Frau Baronin, so wird es mit am besten werden.«

Alle diese Antworten waren mit einem ernsten, festen, etwas melancholischen Tone gesprochen worden.

Die Baronin sah noch einige Augenblicke verwundert auf das veränderte Kind und sagte dann, die Hand zum Abschied reichend:

»Dann ade, mein Kind, ich komme erst um acht Uhr wieder aus der Stadt zurück, du wirst allein zu Mittag speisen müssen.«

Minnele zog fast zuckend ihre Hand wieder an sich und erwiderte:

»Ade, Frau Baronin, ich werde meine Zeit bis dahin schon wohl verbringen ...«


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