Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Indessen ging die Nacht ruhig vorüber; Minnele erfreute sich eines erquickenden Schlafes.

Am nächsten Morgen hielt der Wagen der Baronin vor dem eichenen Tor des Parkes; die Baronin und Minnele fuhren nach der Stadt, um sich vor einigen sehr vornehm betitelten Damen, Freundinnen der Baronin, zu zeigen.

Es würde nicht schwer sein, eine lebendige Galerie seltsamer Portraits hier aufzustellen, wäre uns Raum für solche außer dem Rahmen unseres Lebensbildes liegende Charakterschilderungen gegeben; nur so viel sie im Vorübergehen angedeutet, dass Minnele trotz aller Pracht der Toiletten und sonstigen Umgebungen nicht freundlich erbaut war, weder von dem Anblick der Personen noch von deren Gebaren und Unterhaltungen.

Gegen ein Uhr hielt der Wagen der Baronin in der sehr lebhaften Brigittenstraße.

Beim Aussteigen und während ihren Vortretens unter die Wölbung des Hauses 67 sagte die Baronin zu Minnele:

»Du hast nun in kurzer Zeit fünf Damen des besten Rufes und Charakters gesehen; ob sie dir gefallen, kann ich nicht wissen und will deiner Neigung auch keinen Zwang antun. Die Dame aber, welche wir jetzt besuchen, mein Kind, empfehle ich deinem Umgang ausdrücklich und mit der besten Absicht; sehe sie dir genau an und wähle sie dir später zur vertrauteste Freundin.«

Die so angelegentlich empfohlene Dame wohnte eine Treppe hoch.

Zufälliger Weise war daselbst die Türe der Vorhalle offen, und die Baronin trat, wahrscheinlich in der Zerstreuung, ohne weiteres Zeichen der Anmeldung durch die Türe in ein Vorzimmer, wo sich seltsam genug im Augenblicke auch nicht ein dienstbares Wesen sehen ließ.

»Wunderlich. Was ist denn das?« sagte die Baronin, sich nach allen Seiten umsehend – »Kein Mädchen – kein Diener, der uns melden könnte.«

Da erblickte sie auf einmal zu ihrer geringen Erbauung durch eine offene Zimmertüre ihre durchaus ehrenwerte Frau und Freundin, wie sie, noch im Morgenkleide, von einem jungen Manne ziemlich lustig verfolgt, ergriffen und ohne viele Umstände geküsst wurde.

Die Baronin drehte sich schnell zur Seite, wo Minnele stand, um zu sehen, ob diese von der Szene schon Notiz genommen – als ihr ein zweites Bild häuslicher Liebe in die Augen stach; indem das Kammermädchen dort in des Korridors sanfter Biegung keinen Anstand nahm, den Lippen eines zweiten Herrn ungestörten Zutritt zu den Lippen ihres eigenen Mündchens zu gestatten.

Die Baronin, im Augenblicke der Gefahr von jeher am entschlossensten, gab durch ein etwas lebhaftes Husten den arglosen »Wanderern auf der Freude Spur« ein Zeichen:

»Dass nicht jeglichem jedes wohl geziemt vor anderen« –

Und siehe da!

Plötzlich floh der Herr aus dem Zimmer, es floh auch die Fraue;
Und es floh auch der Herr Nummer II vor dem Mädchen. Das Mädchen
Selbst, so geziemte es sich, enteilte dem Arme des Schlimmen ...

Minnele hatte alles gesehen.

Was war zu tun?

Man traf eben, wie es bei Bankerotten zu gehen pflegt – ein »Arrangement«.

Was die Tatsachen verdorben hatten, das konnte ja eine gewisse weltmännische Ruhe und Würde im Betrgagen zur Not wieder ins Gleiche bringen.

Eine Glocke tönte jetzt heftig aus dem Zimmer; das Kammermädchen führte die Baronin und Minnele ziemlich gefasst in ein Gelass und bat sie mit einem Anstande, der nur je in einem Vorzimmer blühte, die Gefälligkeit haben zu wollen und einige Augenblicke zu verziehen – flog dann mit des Sturmwindes Eile an die Quelle des Glockenschalles und kam nach wenigen Augenblicken mit der frohen Kunde zurück, die Frau Gräfin freue sich, die Damen zu empfangen!

Die »Frau Gräfin« hatte nur in aller Geschwindigkeit ihren idealen Morgenanzug etwas geordnet und kam den eintretenden Damen bis an die Türe so gefasst und »jovial« entgegen, dass es eine helle Freue war zuzusehen, wie sie an den Hals der Baronin flog, sie küsste und mit liebholdester Herzlichkeit ausrief:

»Meine Freundin! Liebe Baronin! Schwester!«

Die Baronin blieb der Freundin an Zärtlichkeit nichts schuldig, stellte dann Schön-Minnele als ich süßes Kind und »verwittibte Lohenstein« vor, worauf man Platz nahm und jene Art Konversation begann, welche gewissen Staatsvisiten eigen zu sein pflegt.

Die »Gräfin« war eine noch junge Frau, kaum über siebenundzwanzig Jahre hinaus.

Sie war dunkelblond, trug sehr glatte Scheitel, welche ihr zwar feines, aber fast zirkelrundes Gesicht wahrscheinlich kleiner erscheinen lassen sollten. Große, hellblaue Augen, die etwas ungewöhnlich hervortraten und von dunklen Wimpern und Brauen beschattet wurden, ein allerliebstes Stumpfnäschen und ein kleiner Mund, dessen rote, schwellende Lippen wohl begreiflich machten, dass von Zeit zu Zeit ein Räuber Jaromir nach diesem Granatenschatz lüsterte – das einzeln und zusammen berechtigte das Gesicht der Frau Gräfin unbedingt zu einer Ehrenstelle in der Galerie weiblicher Schönheit; leider war die Gestalt der Dame bereits weit über das Ebenmaß einer frohen Fülle hinaus.

Im Ganzen war der Eindruck, den die Erscheinung der Gräfin machte, ein angenehmer; er wäre ohne Frage ein gewinnender gewesen, wenn aus dem Gespräche und aus dem Betragen der Dame ein von wahrer Würde getragener Charakter hervorgeleuchtet hätte.

Aber da fehlte es doch überall.

Ein so leichtfertig-sinnlicher Geist wehte aus der heiteren Lebendigkeit der schönen Dame hervor, dass Minnele, die mit Herzlichkeiten überhäuft wurde, sich doch einer Anwandlung von Abneigung nicht erwehren konnte.

Nach einer halben Stunde etwa sagte die Baronin:

»Minnele, unsere Besuche sind zu Ende. Ich habe noch in der Stadt zu tun. Du magst also jetzt allein heimfahren, dann sendest du mir den Wagen wieder hierher zurück; ich werde nachkommen.«

Minnele stand auf und empfahl sich, nicht ohne noch bestens liebkost und wiederholt zu künftigen Besuchen und zu inniger Freundschaft von der schönen Gräfin eingeladen zu werden.

Als Minnele langsam die Treppe des Hauses herunterging, wurde sie über manches nachdenklich, was ihr während dieser Besuche aufgefallen war.

Sie vertiefte sich in diese Betrachtungen so sehr, dass sie kein Auge und Ohr zu haben schien für das, was um sie her vorging.

Erst auf den untersten Stufen der Treppe wurde Minnele aufmerksam auf die seltsam unsicheren Schritte, welche hinter ihr die Treppe herunter kamen.

Minnele hielt sich daher, halb noch in Gedanken, an das Treppengeländer, um denjenigen, der etwa zugleich mit ihr die Stufen hinunter wollte, neben sich vorüber zu lassen.

Indessen beeilte sich der geheimnisvolle Treppenwanderer nicht, an Schön-Minnele vorüber zu kommen. Es zeigte sich nur einmal links neben Minnele der Saum eines Männerhutschirmes, der sich aber schnell wieder zurückzog, worauf – tripp, trapp, trapp, tripp – die behutsamen, ängstlichen und schweren Schritte wieder ein und zwei Stufen hinter Minnele hörbar wurden.

Minnele eilte nun die letzten Stufen rasch hinab und blickte dann verwundert zurück – sie blieb aber gleich vor Erschütterung, Freude und Wehmut wie angewurzelt stehen.

»Justus Erdlein«, rief sie – »Erdlein!« und vermochte keine Silbe weiter hervorzubringen.

Erdlein, das Blaumeisle, war es wirklich.

Er hatte zuvor seinen Esskorb nach dem vierten Stock des Hauses tragen wollen, war auch schon einige Stufen über die Treppe des zweiten Stockes emporgekommen, als er eine Vortüre des ersten Stockes aufgehen hörte – und Schön-Minnele heraustreten sah.

Fieberhaft von Gefühlen aller Art geschüttelt, stellte er seinen Esskorb nieder und schlich – vielmehr wankte der Erscheinung Minneles nach wie Hamlet dem Geiste seines Vaters; – sein Atme stockte, seine Lippen zuckten – und als er sich auf der Treppe, seitwärts vortretend, noch einmal versichert hatte, dass es Minnele wirklich, leibhaftig sei, der er folge, da kannte seine Verwirrung, sein Jubel, seine gutmütige Raserei keine Grenze mehr, und es war in der Tat unvergleichlich, wie er auf Minneles herzliche und gerührte Anrede in der Halle dastand, zitternd an allen Gliedern, die Hände krampfhaft reibend, zweifelhaft, ob er vor Minnele stehen oder lieber gleich auf seine alten, bebenden Knie niedersinken solle –

»Minnele, Minnele«, jubelte er in allen Tonarten vor Entzücken – »Minnele! Ha! Ha! Ha! Ich habe dich gesucht, Minnele und gesucht, Minnele – und nicht gefunden – und, o Minnele, habe für dich so viel auf dem Herzen gehabt – o lass mich deine Hand fassen und sie drücke und dir sagen und erzählen, Minnele – o Gott, o Gott – es erstickt und erdrückt mich, wo soll ich anfangen, wo soll ich aufhören?«

Er tat nun doch seine alten Beinen den Gefallen und sank auf die Knie nieder und erfasste Minneles beide Hände und rief:

»Gelt, Minnele, gelt? Und ich bin dir auf und davon und bin dir ausgerissen auf der Wanderung damals wie ein Spießgeselle des verschworenen Feindes; wie ein elender Wicht, ein unsauberer, wortbrüchiger, herzloser, schöntuerischer und doch am Ende treuloser, lumpiger, jämmerlicher Mensch« –

»Ei, lieber Erdlein, was klagt Ihr um das noch an! Das ist lang vergeben und vergessen – stehet auf, stehet auf«, sagte Minnele im Tiefsten gerührt.

»Wie kann ich aufstehen, wenn du glaubst, ich bin doch schuldig, ich bin doch fort damals wie ein lotteriger, scheinheiliger, Ja sagender und Nein tuender Bösewicht, der von Sünde und Schande rotglühend durch die Welt läuft wie ein Feuerzeichen aus der untersten Hölle« –

»Erdlein«, sagte Minnele und entzog ihm ihre Hände, die sie bittend faltete: »Erdlein, stehet auf, stehet auf, es gehen immer fremde Leute hin und her, unser Kutscher wird euch sehen – stehet auf und redet nicht so wütig, Erdlein, ich hab' mir ja immer gedacht, Ihr seid nicht schuldig, Ihr könne nicht schuldig sein – mein Weh damals ist bald vorüber gewesen. Jetzt steht auf und lasset uns anderes reden, und wie ihr lebt und wie es unseren Landsleuten geht – ich habe ihnen alle vergeben – und was es daheim Neues gibt und was Ihr sonst noch – Stehet auf! Stehet auf!«

Erdlein erhob sich und schien auf einmal gefasster zu werden.

»Du hast mich niemals für schuldig gehalten – gut, o gut Minnele, gut ... Was es sonst gibt? O Minnele, deine Mutter – Wolfgang Granach – Minnele – ach, was soll ich nur zuerst sagen? – die Fähringer Toni ...«

Im ersten Stock des Hauses ging die Vortüre auf, und die Baronin wurde hörbar, wie sie sich von ihrer Freundin empfahl, um einen Gang zu machen und wieder zu kommen.

»Gott, mein Gott«, sagte Minnele voll Bedrängnis, »Da höre ich droben die Baronin kommen – Erdlein, ich muss jetzt fort, lieber Erdlein« –

»Minnele, sag', sag', hast du deiner Mutter daheim  ...«

Die Vortüre oben wurde geschlossen, die Schritte der Baronin wurden auf den obersten Stufen der Treppe hörbar-

»Erdlein, ich muss Euch verlassen, ich muss Euch bitten, Erdlein – ich habe den strengen Befehl, dass ich mit niemand, wo es sei, wer es sei  ...«

»Nur das eine, nur das eine, Minnele, hast du deiner Mutter daheim keine Nachricht geschickt?«

Ich habe – Lebet wohl, o lieber Erdlein – meiner Mutter habe ich  ...«

Die Fußtritte der Baronin wurden näher und näher hörbar – Minnele ging, floh dem Tore zu... 

»Hast du deiner Mutter daheim geschrieben?« stöhnte Erdlein atemlos ihr folgend.

»Lebet wohl – ich habe ihr geschrieben« –

»Ihr Gruß geschickt?«

»Ich habe ihr geschrieben« –

»Ihr Nachricht – Geld geschickt?« –

»Geschrieben und Geld geschickt – Lebet wohl, Erdlein, lebet wohl«, rief Minnele noch am Tore mit gepresster Stimme.

»Wo bist du? Wo wohnst du?« fragte Erdlein noch in fieberischer Freude über Minneles letzte Antwort; aber es war zu spät, in der nächsten Minute saß Minnele im Wagen, der Kutscher schloss den Wagenschlag, schwang sich auf den Bock, und die Pferde zogen an.

In der Verzweiflung, wieder nicht zu erfahren, wo Schön-Minnele wohne, erwachte in Erdleins Busen ein fanatischer Entschluss, der denn auch mit Blitzesschnelle ausgeführt wurde.

Bis auf diesen Entschluss alles um sich herum vergessend und Hut und Esskorb im Stiche lassend, sprang Erdlein mit wenigen Sätzen zum Tore hinaus und auf den Wagen zu und schwang sich noch im Augenblicke, als derselbe schon in Gang gekommen war, rückwärts auf eine schmal hervorstehende Eisenplatte; er hätte augenscheinlich wieder herunterfallen müssen, wenn er sich nicht rechts und links zugleich mit nervigen Händen krampfhaft festgehalten und so in seiner Lage um jeden Preis erhalten hätte.

Es war denn nun ein wunderliches Schauspiel, den grauköpfigen Alten bloßhäuptig, mit vor Anstrengung fast verzerrten Zügen, aber ein reines, herrliches Feuer der Begeisterung in den Blicken, einer pfeilschnell hinfliegenden Equipage hintenauf sitzen zu sehen.

Minnele hatte keine Ahnung von der Nähe Erdleins, bis man außerhalb der Vorstädte ins freie Feld gekommen war, wo der Wagen rechts einbog und eine einsame Straße nach der Anhöhe mit Landhäusern dahinfuhr.

Hier drehte Erdlein, soweit es anging, seinen Kopf gegen die Vorderseite des Wagens und rief leise:

»Minnele – Minnele« –

Die Angeredete, ohnehin eben lebhaft mit ihren Gedanke bei dem guten Alten, den sie fern in der Stadt wähnte, erschrak nicht wenig, dessen Stimme so auf einmal hinter sich zu hören.

»Erdlein – um Gotteswillen, seid Ihr da – seid Ihr mitgefahen?«

»Minnele«, fuhr Erdlein fort – »Minnele, ich werde mich nicht mehr lange halten können – Minnele, ich muss wissen, was du bist, wem du gehörst, wo du wohnst?« –

»Ja, Erdlein, wir müssen noch reden miteinander – wir müssen uns bald, bald wieder sehen ... Könnt Ihr dort die Landhäuser unterscheiden, Erdlein?«

»Ja!«

»Auch das mit den Säulen vor dem Tore und mit der weißen Mauer um den Garten? Es hat kein Haus mehr solche Säulen und eine Gartenmauer so hoch« –

»Ich seh's, ich seh's  ...«

»Erdlein, unten gegen die Straße hin – in einer Ecke steht ein großer Nussbaum, er legt seine Äste auf die Mauer – Erdlein, wenn Ihr Euch morgen oder übermorgen ein Stündchen Schlaf abbrechen könntet« –

»Den Schlaf einer Nacht, einer Woche, Minnele« –

»Gut, Erdlein, gut ... An dem Nussbaum würde ich über die Mauer sehen und mit Euch reden, Erdlein, um elf Uhr oder um zwölf Uhr in der Nacht« –

»Ich komme heute, so wahr ein Vater im Himmel ist ...«

»Versprecht es nicht mit einem Schwur, Erdlein, Ihr könntet gehindert sein, kommt, wann Ihr könnt – ich will jede Nacht an den Nussbaum schleichen« –

»Heute, Minnele, heute ...«

»Gut, heute, Erdlein ... Aber nur eins noch, warum habt Ihr Wolfgang Granach genannt – warum wegen meinen Briefen an die Mutter nachgefragt?«

»Weh mir, Minnele... Meine Handkraft verlässt mich... Ich muss hinab vom Wagen – ich muss hinunter – lebe wohl – ich komme, Minnele, ich komme ...«

Plumps!

Erdlein sprang und fiel zugleich vom Wagen, taumelte wie betrunken hin und her, machte einen Fehltritt und fiel in das hohe, trockene Gras des Straßengrabens.

Da er sich nicht wehgetan hatte und sonst auch nach solcher Anstrengung sanft gebettet lag, so ließ sich's Erdlein wohl sein in seiner neuen Lage und beschloss, so lange liegen zu bleiben, bis der Schwindel seines Gehirns und die schwellende Freude seines Herzens etwas verdampft sein würden.

Man kann wohl sagen, dass noch niemand so sanft und glücklich gelegen, der in einen tiefen Straßengraben gefallen.


 << zurück weiter >>