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Das Pfarrhaus

Pfarrer bin ich auch einmal gewesen, aber zu einem Pfarrhaus habe ich es nicht gebracht, und die Pfarrhäuser, die ich in Amerika kennen lernte, verhielten sich zu den deutschen wie das Wirtshaus des Mississippi zu dem am Rhein. Ottilie Wildermuth, selbst schwäbische Pfarrerstochter, hat den Pfarrhäusern ihrer Heimat ein gar schönes literarisches Denkmal gesetzt, aber wenn uns diese Schilderungen jetzt wieder in die Hand kommen, so drängt sich uns das Gefühl auf, als ob der Humor durch »Rücksichten« beschnitten und das Ganze mit Absicht so gehalten sei, daß man es auch »höheren Töchtern« und der »reiferen Jugend« in die Hand geben kann. Ich will es also trotz dieser Vorbilder versuchen, ein Pfarrhaus zu schildern, nicht in Hohn und Feindschaft, wie etwa Luzifer die Herrlichkeiten des Himmels, aus dem er für immer vertrieben, sondern in Liebe und Wahrheit wie ein freier armer Teufel, der selbst der Kirche die Dankbarkeit nicht vorenthält, wenn sie ihm einmal Leibes- und Herzensnahrung geboten hat.

Daß das Pfarrhaus nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei verwandten germanischen Nationen mit einem gewissen idealen Schimmer bekleidet wurde – Ferienbesuche, Glanzpunkte der Jugenderinnerung, entweder in Mondscheinbeleuchtung in einer Sommernacht im Walde oder mit glänzend weißem Schnee und dem Klange ferner Schlittenglocken – ist mir bei einer Stelle des Kiellandschen Romans Schiffer Worse ins Auge gefallen. Ich erinnere an die Stelle:

»In diesem Rahmen stand der Prediger – hell, freundlich und doch so wohltuend ernst. Welch muntere Tischreden konnte er nicht halten, wie konnte er nicht auf einen unschuldigen Scherz eingehen, wie herrlich war nicht der Aufenthalt in dem geräumigen, mit allem reichlich versehenen Hause, das von der Fröhlichkeit der Jugend erfüllt und von des Vaters mildem Ernst überwacht war! Er war der Mittelpunkt von allem. Nicht bloß der Mutter und der Tochter Fürsorge drehte sich um ihn, sondern an allen Freuden und Spielen der Jugend mußte der Vater teilnehmen, wenn es die rechte Bedeutung haben sollte; man stopfte ihm gern seine große Meerschaumpfeife, man lief nach Fidibussen, wenn sie ausging, und alles sammelte sich teilnehmend im Kreis um ihn, während die Mutter ihn mit geübter Hand in die Überröcke, Shawls und Pelze einhüllte, wenn er am zweiten Weihnachtstage zur Filialkirche fahren sollte, um dort zu predigen.

Wer mochte sich nicht der stillen Sonnabendnachmittage erinnern, wo man eigentlich am liebsten außerhalb des Hauses war, um den Pastor nicht zu stören, der seine Predigt im Studierstübchen ausarbeitete, so daß der Tabaksrauch gleich einer blauen Schlange aus dem Schlüsselloch wirbelte; oder der Sonntagmorgen, ehe man zur Kirche ging, wenn man auf den Vater wartete, der sein Ei mit Rum verzehrte, um seine Stimme klar zu machen.«

Kiellands Absicht ist aber durchaus nicht, diese Poesie ungestört auf die Kinder unserer Zeit wirken zu lassen; er macht weiterhin darauf aufmerksam, daß diese freigebigen Pfarrherrn gar geizig mit den Bauern um ihren Zehnten hadern konnten, daß die liebenswürdigen, Untergebenen gegenüber, sehr grob werden konnten, und daß es, wie zur Zeit Jesu, keine größeren Feinde wahrer Religiosität gab als die offiziellen Priester der Offenbarung. Als Schulmeistersohn könnte ich davon auch ein Lied singen; mein Vater hat in seiner langen erzieherischen Laufbahn mit Kindern und Eltern in Frieden gelebt, fast niemals aber mit den Pfaffen. Wohl mir, daß der Pfarrer gerade dieses Pfarrhauses, das mir in schönster Erinnerung blieb, auch in dieser Hinsicht die Schilderung vertragen kann.

Noch waren die Ferien nicht zu Ende, wohl aber das Geld, es war also in Erwartung eines gastfreundlichen Pfarrhauses, als ich von Langenbrücken durch das Hügelland zwischen Odenwald und Rheinebene nach Eschelbach wanderte und, bescheiden durch den Torweg eintretend, an der Seitenpforte des rebenumsponnenen Pfarrhauses anklopfte. »Die Herren sind im Garten«, gab mir eine wohlbehäbige Matrone, der man nichts von den Sorgen einer zahlreichen Kinderschar bei geringem Gehalt ansehen konnte, den Bescheid; und wenn ich noch Zweifel an der Gastfreundschaft gehabt hätte, so hätten dieselben schwinden müssen beim Anblick der im Garten versammelten Gesellschaft. Unser geistlicher Herr, ein kleines, vertrocknetes Männchen, hatte nämlich, das Kleinzeug abgerechnet, drei große, starke, mit gesundem Appetit und noch gesünderem Durst ausgestattete Söhne, von denen der älteste, der schöne Louis, gerade mit knapper Not beim dritten Versuche das theologische Staats-Examen hinter sich gebracht hatte, der zweite im fünften Semester studierte und der dritte mein Klassen-Genosse der obersten Klasse des Lyceums war. Da sich Jeder der beiden älteren Söhne schon einen Besuch zugelegt hatte, so ergab sich mit mir ein Kontingent von sechs waffenfähigen Jünglingen, und wenn wir unsre langen Pfeifen aufpflanzten, so war der Witz des Bauern durchaus nicht unangebracht, wenn er über den Zaun herüberrief: »Mer sieht, daß Feiertag sin, Herr Parre, bei Ihne wird orndlich gebacke!«

Das Cerevis stand den Söhnen dieses Pfarrhauses gar stattlich zu Gesicht, aber daß sie studieren mußten, das war ein Frevel an der Menschennatur, den freilich die etwas komplizierte Armut dieser Familie entschuldigen mußte. Ein Bruder des Alten nämlich, der, aus fernen Weltteilen zurückgekehrt, als reicher Sonderling gestorben war, hatte für seine Neffen Legate hinterlassen, unter der Bedingung, daß dieselben dem Universitätsstudium sich widmeten. Und so mußten denn die guten Jungen, die zu allen praktischen Verrichtungen entschiedenes Talent hatten – mein Freund Ferdinand z. B. war ein tüchtiger Zeichner, welcher im Pfeifenmalen Besseres leistete als die Künstler dieses Faches, die wir teuer bezahlen mußten – den ganzen unnötigen Wust einer gelehrten Erziehung in ihre armen Schädel pressen, auf der dürren Weide des Abstrakten mühsam grasen, während sie so recht geeignet waren, Früchte zu pflücken von des Lebens goldnem Baum und – nützliche Menschen zu werden. Wie sie es fertig brachten, bei totaler Talentlosigkeit für das verlangte Material und bei unerschütterlicher Faulheit in allen geistigen und geistlichen Dingen doch durch die Examina, wenigstens teilweise, sich durchzuschwindeln, ist mir ein Rätsel; genug, der schöne Louis, ein gewaltiger Schläger, Jäger, Reiter, Don Juan, ist heute Landpfarrer, der andre hat es zum Amtsschreiber gebracht, und der dritte führt den Titel Kassen-Rendant. Hab ich den Söhnen einige Worte gewidmet, so will ich auch den Alten nicht vergessen. Das war ein gar kurioser Geistlicher. Seine Bibliothek umfaßte gewiß nicht mehr als zwanzig Bände, seine Predigten waren kurz und trocken, und wenn ihn Gäste beleidigen wollten, durften sie nur zu ihm in die Kirche gehen. Außer dem vorgeschriebenen Altargebet hat er gewiß nie gebetet, und die dogmatischen Streitigkeiten seiner Amtsgenossen waren ihm gleichgültig wie die hohe Politik. Aber als bester Blumenzüchter und Bienenvater war er weit und breit bekannt. Und so oft der Bauer in den Nöten des Daseins einen Rat brauchte, wenn das Mädel zwei füttern mußte, wenn sie aß und trank, wenn der Bub nicht parieren wollte, wenn der Mann soff oder das Weib zänkisch war, wenn Nachbarn sich verfeindeten, da war der Pfarrer der Ratgeber, der Schiedsherr, der Richter, und so glaube ich, wird er wohl mehr seine Pflicht getan haben als mancher große Theologe und Kanzelredner.

Im Pfarrhaus zu Eschelbach stand man auf, wenn das Hühner-Gegacker und das Gebrüll des Rindviehs die aufgehende Sonne begrüßte. Unter dem Klavier im guten Zimmer stand eine mächtige, mit Tabak gefüllte Kiste. Hatte man dort geladen, so fand man im Garten den Alten schon bei seinen Blumen und Bienen. Nachdem man das stereotype Frühstück – Kaffee, Butterbrot, Honig, eingenommen, wurden einige alte Plempen und sonstige Paukutensilien hervorgeholt – auch aus den Jugendtagen des Alten war noch derartiges vorhanden, und bald hallte der Torweg von Terzen und Quarten, wobei einige alte Bauern, die in die Geheimnisse des Paukens sehr wohl eingeweiht waren, die Unparteiischen spielten. Darauf offizieller Frühschoppen beim Kronewirt, wobei es vorkam, daß der Krösus des Ortes, der sonst stundenlang bei einem Kreuzerschnaps karteln konnte, trotz seines Geizes, für das Privilegium, eine rote Mütze auf seinem struppigen Schädel zu balanzieren, ein Fäßchen auflegte und mancher Flurentreter die Prüfungen des Fuchsrittes über sich ergehen lassen mußte. Freilich mußten wir uns dafür gefallen lassen, daß sie uns beim Zego (sonst auch Tarock genannt), trotz unserer Gelehrsamkeit die letzten Batzen abnahmen. Nach dem Mittagessen – Suppe, Suppenfleisch, Gemüse und jene Mehlspeisen, denen nur ein Homer gerecht werden könnte, Spaziergänge in der Umgegend, etwa nach dem benachbarten Michelbach, dem Heimatort des auf allen Tanzböden beliebten Michelbacher Schottisch – das Bier war zwar schwach, beizend aber der Tabak (o ihr grün und schwarz gefleckten Pfälzer Cigarren!), wackre Dirnen, wo gibt's die nicht in badischen Landen! und sechs Mann hoch, konnten wir uns jeder Zeit auf eine Prügelei mit Vorteil einlassen.

Den Höhepunkt aber dieser Erlebnisse bildete die wöchentlich zweimal stattfindende Wallfahrt nach dem Kasino in Eichtersheim. Voraus schritt, den ehrwürdigen Zylinder auf dem Haupte, das Meerohr in der Rechten, die Pfeife in der Linken, der würdige Pfarrherr; im Gänsemarsch wir hintendrein, die biblische Wolke zog nicht vor uns her, sondern hinter uns drein, und der Alte zwinkerte vergnügt mit den Augen, wenn uns die vom Felde heimkehrenden Bauernmädchen schon von weitem auswichen. Im Kasino aber saßen die Honoratioren – zwei, drei Pfarrer, der Förster, der Amtsrichter, Doktor und Apotheker am oberen Tisch, unten gruppierten sich die Herren Studenten. Erst lauschten wir ehrerbietig den Gesprächen über der Welt Lauf, aber wenn erst einmal der Wein seine Schuldigkeit getan und der Doktor einen Ganzen in die Welt steigen ließ und der verliebte Amtsrichter die Kellnerin um die Hüfte faßte, dann wurden wir Herren der Situation. Gaudeamus, das Zauberlied, verwischte alle Unterschiede, und ich hab es erlebt, daß die alten Herrn – »Wollen mer noch e mal heirassassa« – mit auf den Tisch stiegen und unter dem Tisch den Salamander rieben. Der alte Pfarrer aber behielt immer klüglich die rechte Zeit des Aufbruchs im Auge, und mit sicherer Hand entnahm er dem ledernen Geldbeutel die Zeche für sich und seine sechs Schutzbefohlenen. Ja, das war noch ein Mann von echter deutscher Art, der hatte es noch nicht vergessen, wie es mit fahrenden Schülern in den Ferien bestellt ist. Es war der Stolz des Pfarrers, uns wohlbehalten nach Eschelbach zurückzubringen, und ein Deserteur hätte seine Gunst auf immer verscherzt. Waren wir einmal dort, so kümmerte er sich nicht weiter um uns, und in der Krone wurde tüchtig exgekneipt, und mancher Bauersmann, zu ungewohnter Stunde über die Schwelle seines Hauses stolpernd, wußte dem bekümmerten Weib keine andre Entschuldigung, als »die Studenten sind wieder im Land!« ... Lernen kann man aus all dem nichts, sagt der wißbegierige Leser. Höchstens Schlechtigkeit, sagt der Moralische. Es gibt aber auch solche Leser, aufweiche sich Goethes Wort: »Werd ich auch nur halb gelehrt, werd ich doch doppelt beglückt« – in der Form anwenden läßt: Werd ich auch gar nicht belehrt, hat mich Erinnerung beglückt; und diese dürften mich fragen: Aber wo bleibt denn die Liebe? Von Kinder- und Jugendliebe wolltest du doch erzählen! Geduld, das Beste kommt immer zuletzt. Ein Pfarrhaus ohne Pfarrerstochter wäre gar kein richtiges Pfarrhaus.

Die Pfarrerstochter spielt in der deutschen Literatur dieselbe liebenswürdige Rolle wie im Leben jedes Musensohnes, dem die Menschen interessanter waren als die Bücher und der, fern dem Schulstaub, auf der von Obstbäumen bekränzten Akademie der Landstraße ab und zu studierte und vom Forschungstrieb durch des hohen Kornes Gassen oder auf verschwiegene Waldpfade geführt wurde. Ich habe das Urbild der Pfarrerstochter von Taubenheim mehr als einmal gefunden; ich habe einmal einen kurzen Traum erlebt in einem orthodoxen Pfarrhaus, aus dem später ein Zuchthäusler hervorging, eine Prostituierte und eine katholische Nonne. Wohl mir, sage ich abermals, daß mir jene Eschelbacher Frühlingstage auch in dieser Hinsicht rein und unverzerrt im Gedächtnis bleiben durften.

Ich habe es bisher vermieden, zu berichten, daß ich nicht immer an den Spaziergängen teilnahm, daß ich auf Stunden für die Freunde total verschwunden war, und daß ich selbst bei den offiziellen feierlichen Ausmärschen nach dem Kasino es für gut befand, unter den überhängenden Bäumen ein wenig zurückzubleiben. Es gab nämlich noch etwas im Pfarrhaus, das vom ersten Anblick an mein ganzes Herz ausfüllte, »es isch e Sie, es isch kei Er«, sagt Hebel, des Pfarrers jüngstes Töchterlein, Auguste.

Wenn das Eschelbacher Pfarrhaus trotz der Gastfreundschaft nichts weniger als an dasjenige des wackeren Landpredigers von Wakefield erinnerte, so hatte auch Auguste, trotzdem sie wie Goethes Friederike ein Stumpfnäschen hatte, nichts von dem an sich, was sie wie die selig-unselige Pfarrerstochter von Sesenheim zum Ideale zweier großer Dichter qualifiziert hätte. Sie war ein frischer, fröhlicher Backfisch, mit lustigen braunen Augen, das Kleid durch die größere Länge die schon stattgehabte Konfirmation andeutend, aber die Zöpfe noch frei über den Rücken herabbaumelnd. Ich hatte Glück wie Jeder, der dem Leben nur bescheidene Anforderungen stellt, ich hatte keine Nebenbuhler, da die anwesenden Herren Studenten sich über die Beachtung eines Backfisches schon erhaben dünkten. Die Eltern ließen die wilde Hummel gewähren und hatten über der Jüngsten das Damoklesschwert des »Was sich schickt und nicht schickt« noch nicht aufgehängt. Nur mit den Brüdern lag ich in beständigem Kampf. Die Auguste (in jener Gegend wird die Betonung auf die erste Silbe gelegt) wollte überall dabei sein und weinte bittere Tränen, wenn sie sich unseren Ausflügen nicht anschließen sollte. Da ich aber mit ihr bei den Eltern zu petitionieren pflegte, so mußten sich die Brüder meistens dazu bequemen, »das dumme Mädel mitzuschleppen«, und wir hatten dann durchaus nichts dagegen, wenn sie uns beide irgendwo unterwegs im Stiche ließen. Nur von der Eichtersheimer Wallfahrt blieb sie unbarmherzig ausgeschlossen; und ich hätte unsterblichen Hohnes sicher sein können, wenn mir eine der Tränen im Auge geblieben wäre, die ich bei solchen Gelegenheiten schnell noch mit dieser Ariadne weinte, um dann im Galopp, wie Freiligraths Giraffe den Staub aufwirbelnd, der Kolonne nachzueilen.

Von der Liebe, wie ich sie auffaßte, von meiner Sehnsucht, konnte Auguste nichts verstehen; sie war gern bei den Buben, daraus machte sie kein Hehl, und die Kameradschaft eines solchen, der für ihre wichtigen Kindergeheimnisse das höchste Interesse zeigte, war ihr sehr angenehm. Als ich sie einmal im Garten über einem Aurikelstock zu küssen wagte, war sie durchaus nicht »süß erschrocken«, sie sagte nur: »Du, vom Fenster aus kann man uns sehen!« und machte mich nachmittags mit einem neutralen Grund bekannt, wie ihn Goethe in Sesenheim sich nicht schöner hätte wünschen können. Hinter dem Garten rauschte ein Bach, über den Bach ging ein Steg, dann kam in einem großen Obstgarten ein wunderlich alt Haus, vor dessen kleinen, bleieingefaßten Scheiben Levkojen blühten. In diesem Hause wohnte eine alte Frau, die mit der Geschichte der verschiedenen Pfarrfamilien, mit den Leiden und Freuden derselben aufs innigste verknüpft war. Ihr beichteten die Herren Studenten, was sie den Erzeugern nicht zu offenbaren wagten, an ihrer alten Brust hatte der schöne Louis sich ausgeweint, als ihm die Braut untreu geworden war, und jede Tochter, die sich Einer aus dem Pfarrhause holte, hatte ihr zuerst über denselben Steg den Erkorenen zugeführt, über den ich mit Auguste Hand in Hand gegangen. Die Dekoration des Zimmers bildeten seltsamerweise die Silhouetten und Photographien alter und junger Heidelberger Studenten, große, in schwarz-weiß-rot ausstaffierte Kommers- und Paukbilder; und wenn die alte Frau von vergessenen Mensuren oder den studentischen Auszügen der revolutionären Zeit erzählte, so klang uns das wie der alten Deutschen Heldenlieder aus der Heroenzeit. Ich sehe die kleine Stube jetzt noch vor mir. Silbern glänzt der mit reinem, weißem Sand bestreute Fußboden, wenn ein Sonnenstrahl den Weg durch das blumenverhüllte Fenster findet. Von dem erhöhten Fenstersitz, auf dem die alte Frau unzählige Strümpfe strickt, hat sie immer dieselbe Aussicht in den Pfarrgarten, dieselbe und doch eine so verschiedene im Winter und Sommer, in Sturm und Regen, im Frühlingsglanz und im schimmernden Schneegewand. Ein Kanarienvogel zwitschert ihr zu Häupten die Stimmungen seines kleinen Vogelherzens, ein paar steiflehnige Stühle, ein runder Tisch, der jedenfalls aus dem Pfarrhause seinen Weg herübergefunden hat, und reinlich weiß lugt zwischen den dunklen Umhängen im Hintergrund das Bett hervor. Das Prachtstück aber ist eine mächtige Truhe, mit großen roten Rosen und grell schimmernden Vergißmeinnichten bemalt. Das ist die Schatzkammer der Alten, welche nur an besonderen Tagen profanen Augen eröffnet wird, ich glaube ein vergilbter Brautkranz ist drinnen und ein paar silberne Löffel und ein Totenkranz und ein paar Briefe des einzigen Sohnes, der schon lange in das ferne Amerika gezogen ist. Für uns aber wird die Truhe zum Kanapee, und eng aneinandergedrückt, die Arme umeinander geschlagen, lauschten wir den Erzählungen von den anderen Paaren, die hier schon in blühender Jugendlust saßen, und von den Studenten, die jetzt schon lange alt oder verdorben, gestorben sind und doch so freundlich im Dämmerschein von den Wänden uns zunicken. Sie ist keine Martha Schwerdtlein, aber sie hat es doch noch nicht vergessen, wie süß für junge Liebe die Minute des Alleinseins ist, und wenn sie, Gastfreundschaft übend, um etwa eine dicke Milch zu holen, in den Keller hinabsteigt, so verschwindet sie gerade lange genug, um uns ein paar jener unschuldigen Küsse zu ermöglichen, welche die Poesie der Jugend sind. Dann aber stürmt es polternd die Treppe herauf – Juchheirassassa, die Allemannen sind da! – kräftige Jünglingsarme schwingen das Mütterchen in erzwungenem Tanz, ein kräftiger Schmatz ihres wildesten Lieblings zaubert dunkle Röte auch in das verwelkte Greisengesicht, der Sand wirbelt auf, der Kanarienvogel schmettert Protest, und wir zwei, wir sind entdeckt und müssen den Spott zum Schaden tragen und schämen uns und glühn, als ob wir uns einer Schuld bewußt wären.

Nur ein paar Frühlingstage – dann habe ich die braunen Augen erst wieder gesehen, als sie einem Anderem bräutliche Liebe strahlten, nur ein paar Frühlingstage – im Rundgesang des Kneipabends: »Bruder deine Liebste heißt?« stieg mir noch einige Mal »Auguste« aus der Seele auf die Lippen, dann wurde, ohne daß ich es merkte, auch dieser Name von einem anderen abgelöst.

Eine schöne Liebe! – aus den Augen aus dem Sinn! und der sittliche Ernst, der immer fürs ganze Leben baut, rümpft die Nase. Ich aber sage: Was mir allezeit das reinste Vergnügen bereiten kann und in träumerischen Gedächtnisstunden wie eine blühende Insel der Vergangenheit entsteigt, ist das nicht ewig?

Kaum ein Menschenleben wird zu verzeichnen sein, welches nicht einmal zur Schuld, zu dem dämonischen Trieb in der Menschennatur, zu dem Verbrechen in irgend welche Beziehungen getreten wäre. Auf dem lebensfrischen Grund einer fröhlichen Studentenfahrt hebt sich in meiner Erinnerung der Untergang einer ganzen Familie. Nicht daß die Ereignisse in ursächlichem Zusammenhang gestanden hätten, aber schon dem Jüngling mußten bei den nachfolgenden Abscheulichkeiten die Beobachtungen bedeutungsvoll werden, welche er früher gemacht. Ich kann eine Schilderung dieser Herbstfahrt um so weniger unterlassen, als orthodoxes Christentum und Judentum damals zum erstenmal in mein Leben in ihrer Eigenart hineinragten.

Wir hielten in einem Dorfe, das zwischen Berghausen und Pforzheim liegt, einigen Weinbaues und starker jüdischer Bevölkerungs-Beimischung sich erfreut, einen Kommers ab. Bei der Wahl des Ortes hatte der Umstand mitgewirkt, daß einer unsrer Kommilitonen, ein exzentrischer aber äußerst gutmütiger Mensch, aus dem dortigen Pfarrhause stammte. Das war aber kein gastfreies Pfarrhaus, und schon der Ruf großer Frömmigkeit bewirkte, daß ohne Not kein fahrender Schüler demselben nahte. Unser Kommers vertagte sich bald aus dem Wirtshaussaal auf die Straße; die Bauern waren unsere Gäste; und alsbald erschienen auch sie, die der Herr durchs rote Meer und die Wüste geführt hat, damit sie mit uns Germanen Geschäfte machen könnten: die Juden. Diesmal aber Geschäfte eigener Art; sie waren erschienen, uns die Töchter des Landes zu verhandeln; und es möchte wohl vorgekommen sein, daß einer oder der andere von unsern weniger Skrupulösen auf solchen Handel eingegangen wäre, wenn es sich nicht herausgestellt hätte, daß einer dieser edlen Semiten seine eigene Tochter um einen Gulden an den Mann zu bringen versuchte. Da wuchs uns der tugendhafte germanische Groll, mit Stöcken und Reitpeitschen ging es über das auserlesene Volk her, und die Bauern benützten auch reichlich die Gelegenheit, Zinsen zu zahlen, die man nicht in Wertpapiere umsetzen kann. Es war eine »lütte nüdliche« Judenhetze. Meine moralische Entrüstung war freilich eine inkonsequente, mußte ich doch als Theologe hochhalten den Vater Abraham, der aus Klugheit die Sarah als seine Schwester ausgab und sie dem heidnischen Fürsten überließ, damit ihn derselbe nicht töte, diesen Vater Abraham, der mit dem ewigen Gott in freundschaftlichem Verkehr stand. Später habe ich mich auch überzeugen müssen, daß man aus der Hetze gar nicht mehr herauskäme, wenn man all die Väter prügeln wollte, welche ihre Töchter verhandeln.

War man aber der Gemeinheit solcher mercenären Liebe nicht fähig, so war doch der Geist von Wallensteins Lager in uns gefahren: »Eines Mädchens schönes Angesicht muß allgemein sein wie das Sonnenlicht«, – und als des Pfarrers Ida schüchtern und neugierig auf der anderen Seite der Gasse vorüberhuschte, stieß ich auf sie um das Wegerecht fahrender Gesellen wie der Falk auf die Taube. Meine Taube floh in einen Bäckerladen. Ach, Fräulein Ida! (dort Idda ausgesprochen) rief die Bäckerfrau und, durch den Bruder des Namens der Schwester wohl inne, erkannte ich, daß ich es hier mit einem Florbesen statt mit einem gewöhnlichen Besen zu tun hatte, warf mich reuig auf die Kniee und erhielt nur zu rasch die Verzeihung. Da nun die Sache doch ruchbar werden mußte, so entschloß ich mich, den Löwen in seiner Höhle aufzusuchen; d. h. in Begleitung eines Freundes und des Pfarr-Sohnes besuchte ich am nächsten Tage, nachdem ein solenner Frühschoppen etwaige feige Katerstimmung verscheucht hatte, das Pfarrhaus.

Das war nun freilich schön hoch gelegen, aber drinnen war's kahl und kalt wie in einer protestantischen Kirche. Der Herr Pfarrer, ein grobknochiger, finsterer Mann, hielt uns eine Predigt über die Laster der Völlerei und der Unzucht in seiner mit dem Bilde Luthers gezierten Studierstube, war aber gezwungen, uns zum Essen einzuladen. Das war ein trauriges Mahl, dürftig die Speise wie die Gestalt der Pfarrerin und sauer der Wein wie des Pfarrers Gesicht. Aber die Töchter, welche ihre Augen nicht aufzuschlagen wagten, waren üppig wie die Sünde, die ältere eine geradezu junonische Schönheit; und ehe uns der Pfarrer nach einem salbungsvollen Tischgebet entlassen, ohne nach der Wiederkehr zu fragen, hatte es doch die jüngere fertig gebracht, mir ein Zettelchen in die Hand zu drücken, darauf gedruckt stand: »Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist. P. 51 V. 12«, während mit Bleistift darunter gekritzelt war: »Nachher im Garten.« Den Sohn hatte der Pfarrer in sein Zimmer gesperrt, er sprang aber durchs Fenster herab, und ist damals drei Tage nicht nach Hause gekommen. Wir aber fanden den Weg in den Garten, ob wir gleich das halbe Dorf umgehen und über ein paar Mauern klettern mußten, und wir fanden dort auch die Töchter und knüpften unter vielen Tränen und Küssen den bekannten ewigen Bund.

Arme Ida! sie hat mich sehr geliebt und hat viel für mich gebetet. Religion und Liebe bildeten in ihrer Seele ein seltsam Gemisch. Was Wunder, daß sie schließlich den Seelenbräutigam sich erkor, der die höchste Wonne verheißt. Als sie volljährig wurde, entfloh sie der Tyrannei des Elternhauses zu einer katholischen Verwandten, und sie, die protestantische Pfarrerstochter, trat zum Katholizismus über und ließ über ihre sehnsüchtigen Augen und ihre Gesundheit strotzenden Backen den Nonnenschleier fallen. Die ältere Schwester wurde mit dem reichsten und frömmsten Manne der Gemeinde verheiratet. Nach einjähriger Ehe entfloh sie, wurde in einem Bordell wieder gefunden, entfloh wieder trotz strengster Bewachung und ist in dem Höllenstrudel einer großen Stadt untergegangen. Der Sohn bestand glücklich das theologische Examen und wurde Pfarrer. Als ich aber schon in Amerika war, las ich eines Tages in einer Zeitung die Notiz (wie krampfte es mir das Herz zusammen!), daß derselbe ... in ... wegen eines Notzucht-Versuches zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Ein Freund bestätigte mir brieflich dieses Schicksal des Unglücklichen und fügte hinzu, daß etwa zur selben Zeit der Alte, einer der angesehensten Pfarrer des Bezirks, seine Stellung niederlegen mußte, weil er sich von gewissen Anklagen der Grausamkeit gegen Schüler und des Mißbrauches von Konfirmanden nicht ganz reinzuwaschen wußte.

Mich aber ergreift ein Grausen, selbst wenn ich jenes unschuldigen, fröhlichen Herbstkommerses gedenke, und ich will den Namen des Dorfes gar nicht nennen, wo fromme Juden uns zuerst in den Abgrund der Gemeinheit blicken ließen, und das orthodoxe Pfarrhaus stand, das solche Früchte trug.


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