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Der Kanonendonner auf den Boulevards und an der Kirche St. Eustach schwieg seit vier Stunden. Die gräßliche Nacht war vorüber, und Paris erwachte, um zitternd und besiegt seine Toten unter den Leichenhaufen zu suchen, die noch die Trottoirs und die Schwellen der Häuser bedeckten, an deren Thüren die Unglücklichen vergebens Hilfe und einen Rettungsweg gesucht hatten.
Es war ein entsetzlicher, grauenhafter Anblick, der sich in der sonst so prächtigen Straßenreihe bot. Viele Häuser waren von den Vollkugeln und Kartätschen äußerlich fast ganz demoliert, einzelnen drohte der Einsturz. Alle Fensterscheiben waren zerschmettert, in den Vertiefungen um die Bäume her stand das geronnene Blut zollhoch, auf den Trottoirs selbst konnte man nur mit Mühe den roten Lachen ausweichen; an einzelnen Stellen hatten die rohen Hände der Soldaten die Toten übereinander geworfen, an anderen lagen sie noch in derselben Stellung, wie die verderbliche Kugel sie getroffen; Männer in Blusen und im feinen Rock des Flaneurs, ein armer Wasserverkäufer mit seinem Horn; Frauen aus dem Volk, daneben ein junges, schönes Mädchen in glänzender Toilette, der eine Kugel Hut und Kopf von der Seite durchbohrt hatte; eine tote Frau, deren kaltes Gesicht ein kleines Kind weinend und hungrig streichelte; Bürger und Beamte, die irgend ein Geschäft zufällig vorüber führte, jene furchtbare Gemeinschaft des Todes, die alle Stände gleich macht!
Weiterhin über dem Boulevard Poissonnière nach St. Denis hin, an der Porte Saint Martin, mehrten sich die Zeichen der Zerstörung. Hier hatten die Barrikaden gestanden, auf denen sich die Roten – Männer, Knaben und Frauen – bis zum letzten Augenblick geschlagen, und die von den Jägern von Vincennes zuletzt mit dem Hirschfänger auf den Büchsen genommen worden waren. Die Balken, Bohlen, Möbel und Steine, die man dazu benutzt das Volk hatte selbst ein ganzes Baugerüst an einer Stelle zusammengestürzt – waren beiseite gebracht, um die Passage für das Militär und das Publikum wieder freizumachen.
Das letztere bestand aus zitternden, weinenden Frauen, die durch die Nebel des Dezembermorgens schlichen, und ihre Gatten oder Söhne zu suchen; aus Männern, die nach ihren Frauen, aus Kindern, die nach ihren Eltern jammerten; aus jenen Neugierigen, die selbst in den Schrecken des Todes, in dem starren Auge der Leiche ein Schauspiel suchen, jeden Schritt mit Zittern der Furcht und dem Erbeben der Nerven thuend und dennoch niemals von solchen Scenen zurückbleibend!
Auf der Mitte der breiten Straßen biwakierten noch die Truppen, welche die schreckliche Menschenjagd gehalten, die am Nachmittag des vergangenen Tages auf die Order des Kriegsministers Saint Arnaud begonnen und bis lange nach Mitternacht gedauert hatte. Andere Bataillone kamen mit klingendem Spiel, eine furchtbare, höhnende Leichen-Musik, heran, um die von Blut, Wein und Pulverdampf erschöpften Kameraden abzulösen. Paris war besiegt, zerschmettert, der rebellische Geist auf Jahrzehnte von der furchtbaren Lektion unterdrückt, die künftige Kaiserkrone für das Haupt des Präsidenten Louis Napoleon durch den Staatsstreich des 2. Dezember und die Massacre vom 4. aus Blut und Eisen geschmiedet!
Es war sieben Uhr morgens, das Wetter kalt und unangenehm; ein feuchter, widriger Nebel lag noch zwischen den Häuserreihen, und die auf der Mitte der Straße noch immer brennenden Wachtfeuer leuchteten unheimlich durch den Nebelschleier, der sich nur langsam hob.
An den Seiten des Straßendammes hielten von zwanzig zu zwanzig Schritten Kavallerieposten, die gespannte Pistole in der Hand.
Allmählich begann sich der Nebel zu lichten und die Personen, die das Trottoir entlang zogen, wurden erkennbarer.
Aus der Rue Richelieu kamen zwei Männer, ihrer Kleidung nach den wohlhabenden Ständen angehörend, und blieben an der Ecke stehen, um die Zerstörungen zu betrachten, die durch die Erbitterung der Soldaten auf einen Schuß, der angeblich aus den Fenstern des Café Anglais auf die Truppen gefallen war, hier an den elegantesten Etablissements des modernen Paris angerichtet hatte.
Das halbtrunkene Militär war in das Café Tortoni und das Café Frascati eingedrungen, und man sah deutlich von außen die Spuren der Verwüstung. Selbst bis in die Wohnung des bekannten Musikalienhändlers Brandts, die sich in dem Eckhaus des Rue Richelieu befindet, hatte man die Geflüchteten verfolgt, und es hatte der größten Anstrengungen der Offiziere bedurft, um die Hausbewohner zu retten.
Dennoch, trotz der schrecklichen, auf jedem Schritt sichtbaren Spuren, begann in den demolierten Kaffeehäusern bereits das gewöhnliche Leben sich wieder zu zeigen. Die Garçons mit den weißen, zum Teil noch blutbespritzten Schürzen und den gleichen Baretts lauschten aus dem Inneren hervor, wagten sich heraus, öffneten die verschlossenen, von Kugeln durchbohrten Jalousieen und versuchten die Ordnung einigermaßen wieder herzustellen. Offiziere und Sergeanten, ermüdet, vom Pulverdampf geschwärzt, von dem feinen Sprühregen durchnäßt, holten selbst Stühle und Tische herbei und lagerten sich, um sich von der Cantinière mit einem Glas Absinth oder Wein oder noch lieber, wenn es zu erreichen war, von den Garçons mit einer Tasse heißen Kaffee bedienen zu lassen.
Die beiden Männer, die auf dem Boulevard aus der Straße Richelieu erschienen, waren, obschon beide gut gekleidet, doch offenbar sehr verschiedener Stellung. Der erstere war ein Mann von einigen dreißig Jahren und von einer hohen kräftigen Gestalt, die trotz ihrer Konturen und der militärischen Haltung etwas Elastisches, Elegantes hatte, wie es der lediglich rohen Kraft selten eigen ist. Der zugeknöpfte Paletot zeigte eine breite, hohe Brust, die mit hellen Glacés bedeckte Hand und der Fuß, dessen Glanzstiefel sich sorgfältig vor einer Berührung mit den Blutlachen der Trottoirs hüteten, waren überaus klein und bestätigten durch ihre Form den aristokratischen Typus der Persönlichkeit. Der Kopf zeigte eine breite kräftige Stirn, von gelocktem dunklem Haar umgeben, das Gesicht verriet einen verwegenen, entschlossenen Ausdruck, das graue Auge hatte etwas Unstätes und Unheimliches. Sein Mund war voll, das Kinn auffallend, stark, einen kräftigen energischen Charakter verkündend, und erinnerte in seiner Form an den bekannten Typus der Familie, die zwei Jahrhunderte lang den Thron von Frankreich besessen.
Sein Begleiter war in den Körperformen gerade das Gegenteil von ihm; alles an der kleinen, mageren Figur schien Sehne, Muskel und Beweglichkeit. Die tiefe Bräunung des hageren Gesichtes, das feurige dunkle Auge, das pechschwarze, doch hin und wieder schon mit Grau gemischte Haar zeigten den Sohn des Südens an. Er war um mindestens zehn Jahre älter, als sein Begleiter, und obschon er wie dieser gut gekleidet war, lag doch in seinem ganzen Wesen, in seinen Bewegungen etwas, als fühle er sich geniert in der modernen Tracht und erinnere sich mit Sehnsucht an die freie luftige Kleidung des Lazzaroni oder des Fischers vom Golf von Lion und den weißen Küsten von Marseille.
» Ventre saint-gris, Bonifaz,« sagte der offenbar Vornehmere der beiden, indem er mit dem leichten Reitstock, den er in der Hand hielt, nach drei kaum zwanzig Schritte entfernt übereinander liegenden Leichen wies, »das scheint hier ziemlich scharf hergegangen zu sein. Monsieur Le Petit versteht sein Handwerk so gut, wie einst der Große.«
»Was wollen Sie, Herr Graf,« meinte der andere in dem weichen Dialekt von Avignon. »Jeder thut, was er kann. Hätten Ihre hohen Vettern ein bißchen solcher Energie gezeigt, ich will einen Spanier mit Haut und Haaren verschlucken, wenn nicht Frankreich noch an diesem gesegneten Tage gut königlich wäre.«
»Ich meine, es wird in sehr kurzer Zeit eine neue Auflage des Kaisertums erleben; aber still, man liebt die Politik auf den Straßen nicht mehr. Ich hoffe nur, daß Mademoiselle Suzanne sich nicht zu sehr geängstigt und Monsieur Louis die Nase nicht vorlaut aus dem Fenster gesteckt hat. Es war nicht möglich, diese Nacht zu ihnen zu gehen.«
»Ich habe es zweimal versucht, Herr Graf, doch das ganze Quartier war abgesperrt. Aber Madame Suzanne wohnt zwanzig Häuser weit von den Boulevards, und sie liebt den kleinen Louis wie ihren Augapfel und hat ihn während der ganzen Nacht sicher nicht von ihrer Seite gelassen.«
»Ich will es hoffen. Sieh da, bon jour, Kommandant! Ich komme, um mir Ihre Arbeit von dieser Nacht anzusehen. Es sieht verteufelt blutig aus!«
Er war zu einem älteren Offizier der Linie getreten, der einige Schritte entfernt auf der Straße nach den Boulevards vor der Thür des Cafés saß.
» Parbleu! Graf, was wollen Sie hier? Das ist keine Stunde für einen der Löwen des Faubourg Saint-Germain. Oder kommen Sie hierher, um uns legitimistische Moral zu predigen für das, war Sie da sehen? Ich sage Ihnen, wir können sie nicht brauchen, die Roten haben es selbst verschuldet.«
»Ich danke, lieber Rousselin, Sie wissen, von Avignon und Marseille her, daß ich mich nicht gerade vor Blut scheue. Hätte Karl X. oder selbst Louis Philipp es verstanden, sich beizeiten auf ähnliche Weise in Respekt zu setzen, sie wären wahrscheinlich heute noch in Paris. Eine tüchtige Lektion kann den Parisern zu keiner Zeit schaden, zu bedauern ist nur das unschuldig geflossene Blut.«
Er wies auf die Leichen der Kinder und Frauen.
Der Offizier nahm ihn am Arm und führte ihn einige Schritte auf dem Damm hin. »Glauben Sie, daß wir das weniger fühlen? Aber der Bürgerkrieg ist das Entsetzlichste und wenn die Furien einmal losgelassen find, ist kein Halt. Erinnern Sie sich an das, was der erste Napoleon gesagt. Mit Hundert, die fallen, rette ich Tausend das Leben, mit Tausend – Zehntausenden. Die Revolution hatte es darauf angelegt. Sie haben keinen Begriff, wie seit Tagen und Wochen der Soldat von diesen Canaillen, die sich dann immer wieder in der Menge verkriechen, gehetzt und gereizt worden ist. Wer hat den Kampf begonnen? Nicht das Militär. Man hat gestern morgen und mittag die einzelnen Soldaten und Gendarmen in den Nebenstraßen meuchlerisch überfallen und ermordet; man hat das anrückende Militär von den Barrikaden, aus den Fenstern der Häuser mit Schüssen empfangen – was wundert man sich jetzt, daß der Soldat, nachdem der Befehl gegeben war, schonungslos verfahren ist! Ich sage Ihnen, die Offiziere hatten alle Gewalt über die Truppen verloren, es war nicht möglich, Einhalt zu thun, bis der grimmig geschürte Haß gesättigt war. Wer kann in solchen Augenblicken für Unglück; oder soll sich die bewaffnete Macht offen Trotz bieten lassen? Nicht auf uns komme das unschuldig vergossene Blut, sondern auf jene, denen die Ruhe des Bürgers, die Ordnung und Sicherheit des Staates ein Greuel sind, und die mit dem Blute des thörichten, gaffenden Publikums ihre verruchten Pläne ins Leben setzen.«
Der Graf zuckte die Achseln. »Kennt man die Zahl der Opfer?«
»Es müssen an dreihundert Personen auf den Boulevards gefallen sein. Man ist noch beschäftigt, die Toten und Verwundeten zu suchen. An den Hallen und in der Straße Rambuteau soll es schlimmer hergegangen sein, dort haben die Canaillen wenigstens Courage gezeigt und es ist zum mörderischen Kampfe gekommen.«
»Kann man die Boulevards passieren?«
»Ich hoffe; nötigenfalls berufen Sie sich auf mich. Wo wollen Sie hin?«
»Nach dem Faubourg Saint-Denis. Ich bin besorgt um teure Personen, die dort wohnen und zu deren Schutz ich gestern durch meine Abwesenheit in Versailles und die Absperrung der Straßen während der Nacht nicht gelangen konnte.«
»Dann darf ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Graf. Soll ich Ihnen vielleicht eine Sauvegarde mitgeben? Ich, fürchte, das Trauerspiel ist mit der militärischen Aktion noch nicht zu Ende, und die Polizei hält jetzt ihre Nachlese. Das Erscheinen eines so bekannten Legitimisten könnte Verdacht und Ihnen Unannehmlichkeiten erregen. Das Kriegsgericht ist auf dem Quai d'Orsay in Permanenz, und die erste Hitze ist gefährlich.«
Der Graf lächelte spöttisch. »Das Blut der Bourbons ist jetzt etwas rar,« sagte er leicht. »Zu einem Experiment à l'Enghien in den Schloßgräben von Vincennes dürfte Ihr künftiger Imperator doch wohl keine Courage haben, wenn in meinen Adern auch nur ein Nebenstrom rinnt. Besten Dank, Freund, aber sobald die Passage nur gestattet ist, komme ich schon durch und lasse mich nicht gern eskortieren. Auf Wiedersehen in diesen Tagen, wenn es Ihr Dienst erlaubt.«
Er reichte ihm die Hand und ging, von seinem Begleiter gefolgt, so rasch vorwärts, als es die ihm überall in den Weg tretenden Hindernisse erlaubten.
Der feuchte, mit Sprühregen vermischte Nebel war noch immer nicht ganz gewichen, als der Graf über den Straßendamm ging und in die Rue St.-Denis einbog.
Das Militär war hier bereits zurückgezogen, nur einzelne Posten der Mobilgarden ritten auf und nieder, und eine Anzahl der Sappeur-Pompiers war beschäftigt, die Trümmer der Barrikade, die hier gestanden und genommen worden war, vollends beiseite zu schaffen.
Der Graf ging ungeduldig und rasch weiter, ohne angehalten zu werden.
Er war beinahe am Ende des ersten Viertels der Straße, wo die Gerüste eines Neubaues standen, der erst bis zum ersten Stock sich erhob, als das Weinen einer Kinderstimme und ein schwerer stöhnender Seufzer ihn unwillkürlich verweilen ließen.
» Santa Virgen Maria! wenn Ihr ein Christenmensch seid, so kommt mir zu Hilfe!« stöhnte eine Stimme.
Der spanische Ausdruck fesselte das Interesse des Grafen. Da er aus dem Süden Frankreichs stammte, sprach er die Sprache des Landes jenseits der Pyrenäen ganz geläufig. Es waren wahrscheinlich während des Morgens schon viele Personen an der Stelle vorüber gegangen und hatten den gleichen Klageruf gehört; der Schrecken und die Furcht waren aber noch zu groß gewesen, als daß jemand es gewagt hätte, der Stimme des Mitleids Gehör zu geben und hier zu verweilen.
Der Graf trat einen Schritt näher. In diesem Augenblick hörte er eine helle Kinderstimme im Innern des Hauses sagen: »Sei still, guter Freund, ich verlasse Dich gewiß nicht! Wenn es erst ganz hell geworden, werde ich Dich zu Mama führen. Ich weiß ganz gut unser Haus – nicht weit um die Ecke – sie wird Dich gewiß heilen – Du blutest ja auch nicht mehr!«
Der Graf erstarrte, als wäre er von Stein. »Um Himmels willen, Bonifaz, diese Stimme!«
Der Mann mit der Pariser Kleidung und dem Lazzaroni-Wesen war mit der Behendigkeit des Panthers in einem Sprung an ihm vorbei und über die Bretter, die vor den Eingang gelegt waren. Einige Augenblicke darauf stieß er einen Jubelruf aus.
Der Graf eilte vorwärts und stieg in den Raum, aus dem die Stimmen und der Ruf seines Gefährten erklungen waren. Im nächsten Augenblick hing ein Knabe von etwa zehn Jahren an seinem Halse.
»Louis, um Gottes willen, wie kommst Du hierher? Wo ist Deine Mutter? Du blutest. Du bist verwundet?«
»O, nicht ich, Onkel Graf, der arme Mann da, der mir das Leben gerettet, er hat leider einen Schuß auf der Barrikade erhalten. Nicht wahr, Onkel Graf, es wäre schlecht gewesen für einen Edelmann und künftigen Offizier, wenn ich ihn hätte verlassen wollen in seiner Not?«
»Aber Deine Mutter, Kind, wo ist Deine Mutter?«
»Bah, damit hat es keine Not; sie war gestern mittag in die Probe gegangen; Du weißt gewiß, daß die Polizei befohlen hat, daß die Theater alle Abende spielen müssen, wenn auch kein Zuschauer da sein sollte. Als der Spektakel auf den Boulevards losging, wollte ich die Mama abholen. Pardios – wie Du immer sagst – die alte Françoise wollte mich mit Gewalt zurückhalten und gar einsperren; aber ich werde in einem Monate zehn Jahre und komme im nächsten auf die Militär-Schule. Sie hätte andere Kräfte haben müssen, ehe sie mich halten konnte, ich habe sie selbst eingeschlossen in die Küche und bin davon gelaufen.«
»Leichtsinniges Kind! Deine arme Mutter –«
»Mama wird sich freilich geängstigt haben, als sie nach Hause gekommen ist,« unterbrach ihn schmeichelnd der Knabe, »aber dafür habe ich auch alles aus erster Hand gesehen, und Du und Bonifaz Ihr werdet es schon wieder in Ordnung bringen, daß sie nicht zu sehr schilt.«
»So warst Du auf den Boulevards?«
»Gewiß, Onkel Graf, hinter der Barrikade an der Porte Saint Denis, als die Jäger von Vincennes das erste Mal angriffen. Ich sage Dir, es war verteufelt hübsch, all der Pulverdampf und das Geknalle. Schade nur, daß ich die Vogelflinte nicht bei mir hatte, die Du mir geschenkt; als wir dann flüchten mußten und die Lanziers kamen, da ging es drunter und drüber. Onkel Graf, Kavallerist muß ich werden, das sage ich Dir!«
»Aber jener Mann?«
»Wir hatten nebeneinander hinter der Barrikade gestanden; jetzt sehe ich ein, wie gut es ist, wenn man etwas lernt, und daß Du immer mit mir spanisch sprichst. Er versteht nur wenig französisch, aber ich konnte mich ganz gut mit ihm unterhalten. Er kommt aus Mexiko, wie er mir gesagt hat und hat Mut gehabt wie ein Löwe.«
Der Graf näherte sich dem Verwundeten, welcher in dem Winkel der vier ein künftiges Gemach bildenden Mauern am Boden lag.
Bonifaz kniete bereits neben dem Manne und war bemüht, ihm einen Verband anzulegen.
»Sie sind verwundet, Señor?« fragte der Graf spanisch.
» Carajo, ich sollte es meinen! Der Stich in den Arm hat nicht viel zu bedeuten, als daß er ihn gelähmt hat, aber die Kugel des grünen Schurken ist tiefer gegangen, als mir lieb ist.«
»Er hat sie erhalten, Onkel Graf, als er mir das Leben rettete.«
»Einmal muß der Mensch sterben, nur hätte ich es lieber dort drüben gethan in meinem sonnigen Vaterland auf der freien Prärie oder in meinem Peru unter den goldenen Adern eines mächtigen Placero im Kampf mit meinen natürlichen Feinden, den Rothäuten. Der Teufel hat mich verblendet, daß ich diesem spitzbübischen Yankee getraut und mich von ihm hierher führen ließ, und noch mehr, daß ich mich in einen Streit eingelassen, der mich nichts anging.«
Der Graf wandte sich zu dem Knaben. »Wie ging es zu, Louis? sprich!«
»Als die Soldaten die Barrikade stürmten und alles niedermachten, was nicht davonlief, riß mich der Mann da mit sich fort. Ich glaube, es war in dem Augenblick schon, daß er den Schuß erhielt oder gleich darauf, denn sie schossen hinter uns drein, als wenn wir Hasen wären, und eine Kugel riß mir die Mütze vom Kopf. Mama wird schön schelten, denn sie hat sie mir erst vor drei Tagen gekauft – nun sie ist fort, heidi! Auch die Lanziers kamen hinter uns drein und ein Bursche mit einem großen Bart verrannte uns den Weg und stieß mit der Lanze nach mir. Aber der gute Mann hier fing den Stich mit seinem Arm auf und deshalb will ich ihn auch nicht verlassen, bis er geheilt ist.«
» Caramba!« sagte der Verwundete. »Wer so oft die Pfeile der Apachen mit der Hand pariert hat, wird wohl einen solchen Stock beiseite schlagen können. Unsere Lanzenreiter verstehen ihr Handwerk besser. Ich schoß den Schurken vom Pferde mit der letzten Kugel, die ich hatte.«
»Ja, und dann warf er die Pistole fort und wir flüchteten weiter, aber nur eine kurze Strecke, Onkel Graf; denn er sagte mir, er könne nicht weiter und ich solle ihn seinem Schicksal überlassen, Gott wolle nicht, daß so viel Gold in die Hände der Menschen falle! Aber er wäre gewiß von den wütenden Soldaten getötet worden, die voll allen Seiten durch die Straße tobten. Und da ich ihn nicht bis zu Mamas Hause bringen konnte, obgleich es so nah ist, fiel mir der Bau ein; ich führte ihn hierher, und wir versteckten uns, bis die Soldaten fort wären. Aber so oft ich auch hinausgelugt, sie blieben die ganze Nacht da, und überall standen Posten und überall wurde geschossen.«
»Du hast wacker gehandelt, Louis,« sagte der Graf, »ich bin mit Dir zufrieden. »Señor,« wandte er sich zu dem Verwundeten, »nehmen Sie vorläufig meinen Dank für die Rettung des Kindes. Was zu Ihrem Beistand geschehen kann, soll sofort geschehen, die Gefahr ist, denke ich, vorüber. – Bonifaz!«
»Herr Graf?«
»Wir müssen diesen Mann in die Wohnung von Madame schaffen, es ist der nächste Ort, ihn zu verbergen, er soll das Zimmer des Knaben nehmen. Laß uns ihn so behutsam als möglich aufheben und die wenigen Schritte tragen.«
» Mordieux, Graf!« meinte der Provençale, »wenn ich auch nicht Ihre Riesenkraft habe, die drei solche Bursche in der Rocktasche forttragen könnte, so habe ich doch auch meine Muskeln. Sehen Sie ihn nur an, und Sie werden mir ihn allein überlassen.
Die Gestalt des Verwundeten war allerdings klein und hager, noch magerer als die des Provençalen. Er trug die vom Knie ab aufgeschlitzten Calzoneras seiner Heimat, aus grünem Sammet gefertigt, und über seiner Jacke eine der gewöhnlichen leichten Blusen, wie sie die Arbeiter in Paris oder die französischen Landleute zu tragen pflegen. Um die Hüften hatte er einen jener leichten Shawls von chinesischer Seide geschlungen, deren sich die Seeleute bedienen, welche die südlichen und westlichen Meere befahren. Sein Gesicht war schmal, tief gebräunt, aber intelligent, und aus den großen schwarzen Augen funkelte trotz seiner durch den Blutverlust hervorgerufenen Schwäche, wenn er sprach, lebhaftes Feuer.
»So nimm ihn auf, Bonifaz,« sagte der Graf, »ich werde mit Louis vorangehen.«
Der Provençale hob den mageren Körper des Verwundeten, der ein tiefes Stöhnen nicht unterdrücken konnte, empor und legte ihn über seine Schulter. Er trug die Last so leicht, daß man sah, er sei gewohnt, weit schwerere auf sich zu laden.
Der Graf hatte den Knaben an die Hand genommen und ging mit ihm voraus; so verließen sie den Bau und traten auf die Straße. Diese war fast leer, nur am Eingange des Boulevards zeigte sich eben eine Patrouille der berittenen Gendarmen ( garde de Paris) und einer derselben setzte, als er die drei Personen in so verdächtiger Stellung sah, sein Pferd in Galopp.
Der Graf rief seinem Begleiter zu, mit seiner Last und dem Knaben vorwärts nach dem Hause zu eilen, wohin sie den Verwundeten bringen wollten, und das in geringer Entfernung in der nächsten Querstraße lag. Er selbst deckte ihren Rückzug, um jedes Hindernis zurückzuweisen.
Der Provençale lief vorwärts und hatte mit dem Knaben die Hausthür erreicht, als der Gardist mit geschwungenem Säbel heransprengte.
» Halte-là! Ergebt Euch!«
Der Graf stellte sich ihm in den Weg; er hatte keine andere Waffe in der Hand, als feinen dünnen Spazierstock.
»Zieh die Schnur, Bonifaz, hinein mit Dir! Was wollen Sie, mein Herr?«
»Was ich will? Den Rebellen dort will ich, den Ihr fortschleppt, und Euch dazu; denn Ihr seid seine Helfershelfer und sollt der Strafe nicht entgehen! Fort da!«
»Nehmen Sie sich in acht, Herr,« sagte fest der Graf, den Kopf des Pferdes zurückstoßend, das der Gardist gegen die Thür drängte, die sich in diesem Augenblick öffnete und den Gefährdeten einließ. »Ich bin der Graf Raousset Boulbon und bekannt genug in Paris, wenn man etwas von mir will. Jener Mann ist ein unglücklicher Verwundeter, den wir aufgehoben. Es ist des Mordens genug geschehen; ich werde ihn beschützen und nicht herausgeben.«
»Dann sind Sie ein verdammter Rebell, wie er! Rufen Sie auf der Stelle vive Napoléon! oder ich spalte Ihnen den Kopf!«
Der Graf blickte lachend in das von Wein und Diensteifer gerötete Gesicht des Gardisten.
»Es lebe die Verfassung, wenn wir einmal eine haben sollen!« sagte er spöttisch. »Zum Henker mit der Diktatur Napoléon!«
Der Gendarm holte zum Hiebe aus, als der Edelmann mit Gedankenschnelle Bein und Sattel des Reiters packte und mit einem Ruck beide, das Pferd und den Reiter, auf das Straßenpflaster warf.
» Ventre saint-gris! Bursche, sei ein andres Mal höflicher, wenn Du mit dem Blut Deiner alten Könige sprichst!«
Er trat in die Thür, da er sah, daß einige Kameraden des Gestürzten herbeieilten, und drückte diese in das Schloß.
Indem er dem Portier befahl, sich nicht um die Lärmenden zu kümmern, sprang er die Treppe hinauf und öffnete die Thür eines Vorzimmers.
Eine Scene, die sein tiefes Mitgefühl in Anspruch nahm, zeigte sich ihm durch die offen stehende Thür des anstoßenden Salons.
In dessen Mitte kniete auf dem Teppich eine junge Frau von 27 bis 28 Jahren mit langen aufgelösten Haaren und derangierter Kleidung. Die Augen waren vom Weinen geschwollen und gerötet, glänzten aber jetzt in dem freudigen Entzücken, mit dem sie den Knaben umschlungen hielt, der an ihrem Halse hing und ihr noch von den Spuren der Thränen entstelltes hübsches Gesicht mit Küssen bedeckte und ihr hundert Schmeichelnamen gab.
Daneben stand eine alte Frau, offenbar die Dienerin, welcher der Bube am Nachmittag vorher entwischt war, und die bald weinend, bald lachend die Hände vor Schrecken über all die Gefahren zusammenschlug, von denen der Kleine munter schwatzte.
Bonifaz hatte den Verwundeten in einen Lehnstuhl niedergelassen und machte jetzt mit vergnügtem Gesicht die Glücklichen auf die Anwesenheit des Grafen aufmerksam. Die junge Frau ließ den Knaben los und stürzte auf den Grafen zu, der sie in seinen Armen empfing.
»Aimé,« schluchzte sie an seiner Brust, »wo bist Du so lange geblieben in dieser schrecklichen Nacht? Wenn Du wüßtest, welche Angst ich gelitten, als uns der Direktor gestern mittag aus Besorgnis nicht nach Hause zurück kehren lassen wollte, wie gern ich jeder Gefahr getrotzt hätte, um hierher zu unserem Liebling zu eilen, den ich sicher im Schutze seiner alten Wärterin glaubte! – welche Verzweiflung mich erfaßt hat, als einer der Beamten mich endlich vor zwei Stunden auf Umwegen hierhergeleitete und ich Françoise wehklagend traf und den Knaben fort, fort, vielleicht getötet auf den blutschwimmenden Straßen! Hätte nicht eine tiefe Ohnmacht alle meine Sinne befangen und mich willenlos zu Boden geworfen, ich wäre wahnsinnig geworden vor Angst.«
Der Graf machte sich freundlich aus ihren Armen los. »Gott ist mit ihm gewesen und hat ihn beschützt, teure Suzanne; beruhige Dich, er ist ja jetzt glücklich und gesund in unseren Armen, und einem künftigen Soldaten mußt Du schon den tollen Streich nachsehen. Aber ein anderer hat jetzt alles Anrecht an unsere Sorge. Diesem Manne da haben wir es wahrscheinlich allein zu danken, daß Louis uns wiedergegeben ist. Er ist bei seiner Rettung schwer verwundet worden, richte so schnell wie möglich des Knaben Stube für ihn ein und laß Françoise den Hausmeister nach dem nächsten Arzte senden. Schleunige und stille Hilfe ist dringend notwendig.«
Die Teilnahme der Schauspielerin für den Fremden, der ihr Kind gerettet, war sofort erregt. Während die Dienerin forteilte, flog sie selbst nach dem kleinen Hinterzimmer, wo das geräumige Bett des Knaben stand, breitete frische Linnen darüber und brachte mit eigener Hand alles in Ordnung. Dann trugen die beiden Männer den Kranken vorsichtig in dem Lehnstuhl nach dem Gemach, hoben ihn auf das Lager und entledigten ihn der Kleider.
Während Bonifaz bei dem Verwundeten blieb und den Arzt erwartete, kehrte der Graf in den Salon der Schauspielerin zurück.
Louis Aimé, Graf Raousset de Boulbon war zu jener Zeit etwa 32 Jahre alt und das vollkommene Bild jener eben so mutigen und nichts scheuenden als leichtsinnigen, abenteuersüchtigen und glänzenden Edelleute, die Frankreich vor mehr als einem Jahrhundert, zur Zeit der Regentschaft des Herzogs von Orleans, berühmt und berüchtigt gemacht hatten. Er war in der Provence, in der alten Papststadt Avignon, geboren, sein Stammherr ein natürlicher Sohn des Prinzen Louis von Bourbon-Condé und Bruder des großen Condé. Für die Übertragung reicher Güter verstand sich der Ahnherr der Familie damals zur Veränderung des Namens Bourbon in Boulbon, aber das unruhige Blut des ritterlichen Connetable Carl von Bourbon und seiner Enkel blieb unverändert in ihren Adern und trieb sie, als sie es auf den Schlachtfeldern ihres Vaterlandes zur Zeit der republikanischen und napoleonischen Herrschaft ihrer Abstammung wegen nicht verspritzen konnten, zu vielen anderen abenteuerlichen Thaten und Extravaganzen. Die Familie war eine der reichsten der Provence und als der junge Graf Aimé sein väterliches Erbe antrat, besaß er 40 000 Francs Renten.
Jung, reich, von großer stattlicher Figur, männlicher Schönheit und wahrhaft herkulischer Stärke, die ihm unter den unteren Volksklassen seiner Heimat den Ruf und das Ansehen eines Roland verschafften, stürzte er sich mit aller Leidenschaftlichkeit seines Blutes und allen, Übermut der Jugend in das Leben und verschwendete in wenigen Jahren sein Vermögen bis auf einen geringen Rest. In jener Zeit ging er, schon ruiniert, nach Algier, erwarb sich dort die Freundschaft des Marschalls Bugeaud und zeichnete sich in verschiedenen Treffen gegen die Araber, namentlich in der Schlacht am Isly, aus. Mit Bugeaud kam er nach Frankreich zurück. Nachdem die Februar-Revolution und die Republik ein fait accompli geworden, trat der Graf bei den Wahlen zur Assemblée als Kandidat für den Comtat Venaissin, die der Kirche gehörende Grafschaft, auf, reiste umher und beteiligte sich an den Klubs. Das Volk hatte eine fanatische Anhänglichkeit für ihn, namentlich war es die gefürchtete Gilde der Lastträger von Avignon, welche ihm unbedingt gehorchte und die ihn gleich einer Garde stets umgab. Man nannte ihn nur Monsieur le Comte, gerade wie man früher nur gewohnt war, zu sagen: der König. Es gab für diese Männer keinen andern Grafen, als ihn. Seine Freigebigkeit, sein ritterliches Wesen, die alte Tradition seines Namens, endlich seine furchtbare Körperkraft hatten diese Leute schon in seiner Jugend an ihn gefesselt; aus ihnen stammte Bonifaz, der seit achtzehn Jahren sein steter Begleiter gewesen war, bald Diener, bald Freund, Vertrauter seiner zahlreichen Liebeshändel, Gefährte und Schützer seiner Abenteuer, Genosse seiner Kämpfe und seiner Verschwendungen. Bonifaz hätte jeden auf der Stelle zu Boden geschlagen, der es gewagt hätte, in seiner Gegenwart übles von seinem Herrn zu reden. Er besaß die Treue eines Hundes, die Kühnheit eines Bären und die Zärtlichkeit einer Mutter für ihn.
Diese Treue hatte er auch auf den Sohn seines Herrn, den kleinen Louis, übertragen. Vor zwölf Jahren, als Mademoiselle Suzanne als junge Anfängerin die Bühne in Marseille betrat, hatte der Graf ihre Bekanntschaft gemacht und zwischen den beiden jungen Herzen hatte sich ein zärtliches Verhältnis entspannen. Das junge Mädchen hing mit aufopfernder Liebe an ihm, und auch der Graf hatte in allen Verirrungen und Zerstreuungen seines Lebens nie aufgehört, ihr seine Anhänglichkeit und seinen Schutz zu bewahren. Für den Knaben selbst aber zeigte er die größte Zärtlichkeit und erklärte, ihn, sobald er in die Armee ein getreten wäre, adoptieren zu wollen. Durch seine Protektion war Mademoiselle Suzanne schon seit mehreren Jahren bei einem der kleinen Boulevard-Theater engagiert, und es verging selten ein Tag, an dem der Graf, seit er wieder in Paris war, Mutter und Kind nicht besuchte. Mit Bonifaz war der Knabe ein Herz und eine Seele und führte unter seinem Schutze alle munteren Streiche aus. Zugleich war dieser in allen körperlichen Übungen sein Lehrmeister.
Der Graf war beschäftigt, sich nochmals von dem Knaben seine Abenteuer erzählen zu lassen und die Mutter über die schrecklichen Ereignisse der Nacht zu beruhigen, als Françoise eintrat und meldete, daß der Doktor angekommen sei und sich bereits im Zimmer des Verwundeten befinde.
Der Graf verließ die Frauen und begab sich dahin. Er kannte den Arzt, da er ihn mehrmals schon bei der Schauspielerin gesehen, und fand ihn mit der Untersuchung des Kranken beschäftigt. Der Stich in den Arm war wenig gefährlich, der Schuß in den Rücken schien aber die volle Besorgnis des Arztes zu erregen.
Der Kranke hatte sich von Bonifaz eine Cigarette geben lassen und rauchte mit der Ruhe eines Stoikers, als ginge ihn die Sache nichts an, während der Doktor mit der Sonde die Wunde untersuchte.
Die Ränder hatten eine braune, verdächtige Farbe.
»Wie lange hat der Mann die Kugel im Rücken?« fragte der Arzt.
»Seit gestern abend. Man darf Ihnen vertrauen, Doktor, er erhielt sie, als er von der Barrikade an der Porte Saint-Denis floh. Ich hoffe, die Heilung ist, wenn auch schwierig, doch nicht unmöglich. Er hat Louis aus dem Getümmel gerettet und beide waren leider gezwungen, die Nacht in dem Keller eines Neubaues ohne Beistand zuzubringen.«
Der Doktor zuckte die Achseln. »Sie waren in Algerien, Herr Graf, und haben Schußwunden gewiß viele gesehen. Das Aussehen dieser hier ist nicht besonders; wäre ärztliche Hilfe sofort in Anspruch genommen worden, so hätte sich die Kugel leichter entfernen lassen, und doch –«
»Doch ist die Entfernung der Kugel notwendig und die einzige Möglichkeit der Rettung.«
»Dann muß sie versucht werden.«
Der Arzt zögerte.
»Was haben Sie?«
»Herr Graf,« sagte der Doktor entschlossen, »ich wage die Operation nicht allein zu unternehmen. Der Unterschied von zwei oder drei Stunden kann keine sonderliche Veränderung in den Zustand dieses Herrn mehr herbeiführen. Da Ihnen so viel an seiner Erhaltung liegt, werde ich mich sofort zu Voisset, unserem geschicktesten Operateur, begeben und ihn bitten, die Operation unter meiner Assistenz zu übernehmen. Der Verwundete muß jedoch von der Gefahr unterrichtet werden, die er dabei fährt. Der Tod kann –« er senkte die Stimme zu leisem Flüstern – »ja, er wird vielleicht bei der Operation erfolgen. Die Kugel ist in dem Rückenknochen stecken geblieben.«
»Und wenn die Operation nicht erfolgt?«
»So stirbt er unrettbar.«
Der Graf bedachte sich einige Augenblicke. »Er muß es erfahren,« sagte er endlich, »er scheint mir ein Mann zu sein, der dem Tode oft in das Auge gesehen.«
»Señor,« sagte er auf spanisch zu dem Verwundeten, der während des Gespräches ruhig die Cigarette weiter geraucht hatte, »ich habe Ihnen eine böse Mitteilung zu machen, die jedoch keineswegs die Hoffnung ausschließt. Der Doktor benachrichtigt mich, daß Ihre Wunde unbedingt tödlich ist, wenn Sie sich nicht einer Operation unterwerfen wollen, deren Ausgang – ich darf es Ihnen nicht verschweigen – zweifelhaft ist. Gelingt sie, so sind Sie gerettet, aber –«
»Nun, Señor?«
»Sie kann ebenso gut einen schlimmen Ausgang zur Folge haben.«
» Carrajo! reden Sie klar, Señor, ich könnte dabei sterben?«
»Wenn Sie darauf bestehen, es zu wissen: ja!«
»Und wenn ich mich weigere, wie lange habe ich dann noch zu leben?«
Der Graf übersetzte die Frage dem Doktor.
»Acht bis zehn Stunden,« sagte dieser.
» Caramba! Das lohnt allerdings nicht der Mühe. Und ich könnte durchkommen, wenn ich den Doktor bohren und schneiden lasse?«
»So sagt er.«
»Sie wissen vielleicht, Señor, wir Mexikaner sind leidenschaftliche Spieler. Betrachten Sie die Sache als Würfelspiel, und fragen Sie ihn, wie die Chancen stehen würden. Sechs zu sechs?«
Der Graf mußte unwillkürlich lächeln, als er dem Doktor die Frage wiederholte.
Dieser zuckte die Achseln. »Bewahre, das wäre Täuschung. Rechnen Sie höchstens drei zu sechs! Wir müssen dem Manne die Wahrheit sagen, wenn er als Fremder etwa Bestimmungen zu treffen hat.«
Der Graf wiederholte dem Verwundeten den wenig tröstlichen Ausspruch.
»Das ist verteufelt wenig Aussicht,« sagte der Mexikaner, »indes ich habe sie oft noch schlimmer gehabt, kaum eins zu zwanzig, wenn die Hunde, die Apachen am Rio del Norte, uns auf der Fährte waren. Bah! ich erinnere mich noch eines Abends, wo ich Joaquin anbot, eins gegen hundert zu spielen, daß unsere Skalpe am nächsten Morgen an dem Sattel einer Rothaut hängen würden. Ich nehme den Vorschlag des Doktors an, Señor; man kann nur einmal sterben. Aber ich habe als vorsichtiger Mann noch einige Bedingungen zu stellen.«
»Reden Sie; jeder Ihrer Wünsche soll erfüllt werden, wenn es irgend in unseren Kräften steht.«
»Es wird Sie nicht viel Mühe kosten. Fragen Sie den Doktor, wann er das Schneiden beginnen will.«
»Sagen wir, daß die Operation um elf Uhr diesen Vormittag statthaben soll.«
»Also noch über zwei Stunden; gut, ich werde bereit sein. Er hat doch nichts dawider, wenn ich sie hinbringe, so gut ich kann? Ich bin ein mäßiger Mann und trinke nur Wasser.«
»Der Herr mag über seine Zeit disponieren, vorausgesetzt, daß er sich ruhig im Bette hält.«
» Gracias, Doktor, dafür haben Ihre Landsleute gesorgt. Ich muß Sie dann bitten, Señor Conde, so nennt man Sie ja wohl, einen zuverlässigen Mann, etwa diesen guten Freund hier« – er wies auf Bonifaz – »nach der Rue de Barbitte zu schicken. Er wird dort in dem Logierhaus nach einem Amerikaner fragen, einem Schuft vom Scheitel bis zur Sohle. John Brown ist sein Name. Er ist mein Begleiter, oder ich bin vielmehr durch eine Art Handel sein Compagnon, und er wird mich sicher über das Ohr hauen, wenn er es möglich machen kann. So zahlt ihm mein Tod vielleicht die Rechnung; aber ich muß ihm doch wenigstens Nachricht geben, damit er sich keine unnötigen Kosten mit Nachforschungen nach meiner Person macht. Nur eines müssen Sie mir versprechen: der Kerl darf nicht eher erfahren, wo ich bin, und nicht eher hier eintreten, als bis der Doktor fertig zum Schneiden ist. Er würde mir vorher die Seele aus dem Leibe kalkulieren und mir jede Minute mit seinen Rechnungen und seinen Klagen verbittern.«
»Ihr Wunsch soll erfüllt werden. Bonifaz selbst wird den Mann herbeiholen. Haben Sie sonst noch eine Bestimmung zu treffen über Ihre Habe oder dergleichen für den, wie wir gewiß hoffen, nicht eintretenden Fall eines unglücklichen Ausganges?«
»Ich bin ein armer Mann, Señor Conde, obschon ich wahrscheinlich mehr Schätze gesehen habe, als der König von Spanien je besessen. Ich habe nicht Kind noch Kegel und nur zwei Freunde, die sich in diesem Augenblicke vielleicht am Colorado oder Rio Grande umhertreiben und zeitig genug merken werden, daß ich nicht mehr auf der Welt bin, wenn ich an dem bestimmten Tag nicht an der Quelle des Buonaventura mit ihnen zusammentreffe. Aber es fällt mir etwas anderes ein. Sagen Sie, Señor, ist der Knabe, der so tapfer die Nacht über bei mir aushielt und lieber seine schöne Mutter in Angst ließ, als daß er einen armen Fremden verlassen wollte, Ihr Verwandter?«
»Er ist mein Sohn.«
»Gut, Señor Conde. Ich möchte ihm gern meine Dankbarkeit beweisen und mir zugleich noch ein Vergnügen bereiten. Caramba! ich weiß rächt, wie es kommt, aber ich kann den Gedanken nicht los werden, daß diese Indianer von Doktoren am Ende doch noch meinen Skalp bekommen werden, obschon die Partie drei zu sechs steht, also gar nicht so schlecht für mich. Wollen Sie mir nicht einen Wunsch erfüllen?«
»Mit Freuden.«
»Spielen Sie Monte?«
Der Graf lächelte. »Da ich nicht weit von der spanischen Grenze zu Hause bin, gewiß – ein wenig. Aber es würden sich hier, wenn Sie etwa mit mir zu spielen beabsichtigten, schwerlich Monte-Karten auftreiben lassen.«
»Dafür ist gesorgt,« sagte der Kranke. »Wenn Sie in die Seitentasche meiner Hose fassen wollen, werden Sie ein Spiel darin finden. Es ist zwar ein wenig schmutzig und abgenutzt, aber ich versichere Sie, ich habe schon manche Million damit gewonnen und verloren.«
Der Graf sah den Mann erstaunt an, der eben sich noch arm genannt hatte, dessen Äußeres eher auf bedrängte Umstände schließen ließ, und der doch in demselben Atem von Millionen sprach, die er gehabt und verloren haben wollte.
Der Mexikaner mußte wohl das Erstaunen und die Zweifel seines Beschützers bemerken, denn er lächelte und sagte:
»Ich sehe, Sie glauben mir nicht recht; aber ich will es Ihnen sogleich erklären, wenn Sie mir erst gesagt haben, ob Sie mir die Ehre erzeigen wollen, mit mir eine Partie zu spielen.«
»Ich stehe ganz zu Ihrer Disposition, Señor; doch ich weiß Ihren Namen noch nicht.«
»José, Señor Conde, José Marillos. In meiner Heimat nennt man mich ganz einfach den Ojo d'oro oder das Goldauge.«
»Also, Señor Don José, Sie sehen mich bereit.«
»Dann haben Sie die Güte, etwas frisches Wasser und neue Cigarren bringen zu lassen, Señor Conde, und diese Leute alle zu entfernen, bis das Schneiden beginnt. Ich habe mit Ihnen zu plaudern, ehe wir unsere Partie anfangen. Vergessen Sie den Amerikaner nicht.«
Der Doktor hatte sich bereits entfernt. Der Graf gab Bonifaz einen Wink, die Karten aus den schmutzigen Beinkleidern des Verwundeten zu ziehen, und befahl ihm dann, den Amerikaner aufzusuchen, den der Fremde zu sehen gewünscht hatte.
Sie waren jetzt allein. Der Graf hatte einen Stuhl an das Bett des Patienten gerückt und ein Kissen vor ihm niedergelegt.
»Nun, Señor Goldauge, ich bin bereit zu Ihrer Unterhaltung. Um was spielen wir?«
» Caracho, Excellenza, das ist es eben! Euer Gnaden sind so gefällig gegen einen armen Kerl, daß ich mir schon den Kopf zerbrochen habe, was ich gegen Sie einsetzen könnte. Ich weiß nur eines. Gehen Euer Excellenz vielleicht einmal nach Amerika?«
»Daß ich nicht wüßte!« sagte der Graf lachend; »bis jetzt habe ich keineswegs die Absicht.«
»Oder wird Ihr Herr Sohn, der junge Herr – Don Louis heißt er ja wohl – vielleicht einmal dorthin gehen?«
»Mein Lieber, in einer Zeit, wie die jetzige, kann niemand sagen, dorthin werde ich gehen, und dahin will ich nicht gehen. Die Politik, die Eisenbahnen und die Agiotage haben die Welt reformiert. Seit Monsieur Louis Bonaparte, wie Sie sagen, sechs gegen drei Prozent Aussicht hat, Kaiser von Frankreich zu werden, ist es sehr leicht möglich, daß auch der letzte Bourbon in meiner Person noch einmal den Boden von Frankreich verlassen und nach Kalifornien auswandern muß!«
» Par Dios! das ist es gerade, auf was ich kommen wollte. Haben Sie je gehört, Señor Conde, was ein Gambusino ist?«
»Ein Goldsucher, so viel ich weiß.«
»Richtig, Señor, aber nicht etwa ein Mann, der das Gold in den Taschen anderer sucht, sondern einer, der es den Geheimnissen der Wildnis entreißt. Der Gambusino treibt kein Handwerk, das er erlernt, sondern ihn treibt die Gabe Gottes, die ihn für die Wildnis bestimmt hat. Den Gambusino bewegt zu seinem gefährlichen Werk nicht Geiz und Habgier – denn seine Schätze, die er gefunden, streut er im nächsten Augenblick mit vollen Händen aus – sondern der innere Drang treibt ihn rastlos, sein Leben einzusetzen für das gelbe Metall, das doch für ihn keinen Wert hat.«
»Aber wie kamen Sie denn hierher nach Paris?« fragte der Graf, der unwillkürlich ein größeres Interesse an dem seltsamen Fremden nahm.
»Hören Sie mich an, Señor Conde. Ich bin ein Gambusino. Mein Vater war ein Gambusino und starb am Marterpfahl der Apachen; mein Bruder war ein Gambusino und sein Skalp bleicht seit zehn Jahren in dem Wigwam des grauen Bärs jener Nation. Mir, dem Jüngsten der Familie, hat Gott in seinem unerforschlichen Willen seine reichsten Gaben in dieser Richtung gegeben. Wie ich da stehe – ich wiederhole es Ihnen bei dem großen Augenblick des Todes, der mir vielleicht näher ist, als Sie denken – habe ich mehr als einmal Placeros entdeckt, für die ich eine Million hätte fordern können, und ich habe sie bei der ersten Gelegenheit vergeudet, verschenkt oder verspielt.«
Der Graf sah den seltsamen Erzähler, der kaum eine ganze Jacke getragen, mit immer größerem Erstaunen und Interesse an.
»Wenn Gott Ihnen jene Lebensbestimmung angewiesen hat und diese Ihre ganze Seele erfüllt, so begreife ich wohl, daß Sie sich deshalb jeder Gefahr aus setzen mögen, um Ihr Ziel zu erlangen. Im Grunde sind die unseren dieselben. Der Bankier und der Geizhals plagen sich ihr ganzes Leben hindurch, das gemünzte Geld zusammen zu scharren; der Soldat setzt sein Blut ein für Ruhm und Ehre; aber das alles erklärt mir noch nicht, weshalb wir Sie, tausend Meilen von den Gold lagern die Sie suchen, hier an den Ufern der Seine gefunden haben?«
»Hören Sie weiter, Señor,« sagte der Mexikaner. »Es sind jetzt gerade acht Monate, als wir, ich und meine beiden Freunde, uns mitten im Lande der Apachen, in ihren wildesten Einöden befanden, wohin wahrscheinlich zum erstenmale der Fuß eines Weißen gedrungen war. Ich will Sie nicht ermüden, und meine Zeit ist zu kurz dazu, mit der Erzählung der tausendfachen Gefahren, unter denen wir mit Hunger und Durst, mit wilden Tieren, reißenden Strömen und den noch schlimmeren Feinden, den Rothäuten, kämpfend, bis dahin vorgedrungen waren. Genug, Sie mögen wissen, daß unter den alten Männern vom Stamme Wonodongahs, des ›großen Jaguars‹, meines Blutbruders, eine alte Sage lebt von ihrer Väter Vätern, aus einer Zeit, die über jene hinausreicht, in der die Spanier ihren Fuß in das Land gesetzt haben, und die von einer großen Goldhöhle erzählt, die in der wildesten Schlucht der Gebirge, in den Einöden, sich aufthut und in der das Gold in großen Klumpen so offen zu Tage liegt, daß der Bergmann nicht erst seine Hacke in das Gestein zu schlagen braucht. Aber das Feuer und das Wasser, die Wüste und der Wilde bewachen diese Schätze, und nur das Auge der Auserwählten hat sie von langen zu langen Zeiten einmal geschaut, damit die Erzählung von ihren Wundern nicht untergehe in dem Gedächtnis der Menschen. Zu erfahren, ob diese Sage Wahrheit oder Fabel sei, hatten drei entschlossene Männer sich mit ihrem Worte verbunden und sich aufgemacht, die Goldhöhle zu suchen.«
»Und Sie haben sie gefunden?«
»Ich habe die Höhle gesehen, ich und vier Augen mit mir. Die Hand Gottes ist gewaltig, gewaltiger noch in der Wildnis als in dem Leben der Civilisation. Wie und wo wir sie entdeckt, zu sagen, Señor, verbietet uns ein heiliger Eidschwur. Nur dem letzten Überlebenden von uns dreien wird es gestattet sein, davon zu sprechen. Über das mag ich Ihnen sagen, Señor, wenn Sie den Herrn dieses Landes fragen, was ganz Frankreich mit all seinen Städten und Palästen kostet, und Sie zahlen ihm den Preis, ohne zu feilschen, in gediegenem Golde, so werden Sie noch nicht die Schätze der Goldhöhle erschöpft haben.«
»Sie übertreiben, Señor Don José,« sagte lächelnd der Graf.
»Lachen Sie nicht und zweifeln Sie nicht, Señor,« erwiderte ernst der Verwundete. »Ich bin ein Mann, dessen Lippe noch niemals eine Unwahrheit ausgesprochen hat, obwohl ich von Geburt ein Mexikaner bin, und es ist mein Handwerk, das Gold zu schätzen. Ich wiederhole Ihnen, die Wunder Gottes offenbaren sich nur in der Wildnis.«
Der Graf stützte das Haupt in die Hand, seine Brust wurde beklommen. Er hatte Hunderttausende verschwendet und für seine Launen fortgeworfen, ohne daß ihn je ein Gedanke der Habsucht oder des Bedauerns überkommen war. Dennoch fühlte er jetzt bei der Erzählung des Gambusino vor seinen Augen ein Funkeln wie von lauter Goldblitzen, die Wände des kleinen Gemachs um ihn her schienen sich auszudehnen und zu einem goldstrahlenden Horizonte zu werden, der seine Seele verwirrte.
Er mußte sich mit Gewalt von diesem Gedanken losreißen.
»Sie sind also nach Paris gekommen unter dem Scheine der Armut, um den Anteil, den Sie von jener geheimnisvollen Schatzkammer genommen, in den Genüssen dieser Stadt zu verwerten?«
»Ich habe bereits die Ehre gehabt, Euer Excellenz zu sagen, daß ich ein mittelloser Mann bin und niemals lüge. Wir sind so arm von jenem Platze wieder fortgegangen, wie wir ihn betreten, nachdem wir drei Tage und drei Nächte dort verweilt und unser Auge an den Wundern Gottes geweidet hatten.«
Der Abkömmling der Bourbonen sah den Gambusino sprachlos an. »Wie, Señor,« sagte er endlich nach einer längeren Pause, »Sie hätten nicht einmal eine Probe dieses Goldes mit sich genommen, um dadurch die Wahrheit Ihrer Erzählung beweisen zu können?«
»Doch, Señor Conde. Nach gegenseitiger Übereinkunft unter uns dreien habe ich mit meiner eisernen Lanze eine Spitze von etwa zwei Pfund Gewicht von einem großen Block gediegenen Goldes losgesprengt und diese als Beweis mitgenommen. Wir haben sie abwechselnd getragen, denn sie war unser gemeinschaftliches Eigentum, wie der Placer es ist, den wir gefunden.«
»Und haben Sie sie noch?« fragte der Graf.
»John Brown, mein Begleiter, derselbe, zu dem ich Ihren Diener gesandt, hat sie in seinem Besitz. Sie müssen wissen, Señor Conde, daß ich mit dem Spitzbuben in New-Orleans einen Kontrakt eingegangen bin. Um den Placer der Goldhöhle ausbeuten zu können, bedarf es einer Schar entschlossener und tapferer Männer, die sich auf Tod und Leben verbinden. Auch müssen sie mit ganz anderen Mitteln ausgerüstet sein, als wir arme Schelme sie aufzubringen vermögen. Die Mexikaner – es thut mir leid, daß ich dies von meinen eigenen Landsleuten sagen muß – sind Lügner, es ist ihnen nicht zu trauen; die Engländer und Amerikaner hasse ich als unsere natürlichen Feinde. So hat denn Le Bras-de-fer oder Eisenarm, wie ihn die Indianer nennen, der dritte in unserem Bunde, vorgeschlagen, daß wir uns an das tapfere und unternehmungslustige Volk der Franzosen wenden und dem großen Kaiser derselben, dessen Name und Ruhm selbst in unsere Einöden gedrungen war, dieses Geheimnis anbieten sollten. Da ich aber zu arm und in der Welt der Civilisation zu unerfahren war, um allein die Reise zu unternehmen, so habe ich in New-Orleans einen Mann engagiert, der aus Texas stammt und alle Sprachen der Welt spricht. Er ist ein verteufelt geriebener Bursche und hätte mir gern mein Geheimnis abgelauert; er hat aber davon nicht mehr erfahren, als notwendig war, um ihn begierig zu machen, mich hierher zu bringen, und ich denke, Oyo d'Oro ist ein zu alter Schlaukopf und hat zu oft selbst die besten Spurfinder der Apachen auf eine falsche Fährte geleitet, um sich von einem ganz- oder halbblütigen Yankee seine Geheimnisse stehlen zu lassen.«
»Welche Schritte haben Sie hier gethan? Haben Sie Ihr Ziel erreicht?« fragte er endlich.
» Carrajo! Als wir hier ankamen, habe ich mich überzeugt, daß die Spitzbuben auf dem Schiff doch recht hatten und der große Kaiser Napoleon wirklich tot ist. Man hat mir zwar gesagt, daß der Onkel einen Neffen hat, der auch nicht zu verachten sei, und wenn er auch noch nicht Kaiser der Franzosen geworden, doch große Lust hat, es zu werden. Aber ich weiß doch nicht recht, ob es Le Bras-de-fer genehm sein wird, wenn ich den Neffen für den Onkel nehme, und überdies habe ich, wie Sie sehen, keine Zeit behalten, mit ihm zu unterhandeln.«
Der Graf war in tiefes Nachdenken versunken.
»Darf man wissen,« fragte er endlich, »welche Bedingungen Sie dem Kaiser der Franzosen oder der Person, die auf die Expedition eingehen würde, stellen wollten?«
»Warum nicht, Señor Conde? Nach dem, was ich Ihnen bereits anvertraut, habe ich kein besonderes Geheimnis mehr. Wir verlangen eine Expedition von wenigstens dreihundert wohlausgerüsteten und entschlossenen Männern, denn so viel müssen es mindestens sein, da wir es mit der ganzen Nation der Apachen zu thun haben würden.«
»Ich denke, dreihundert bewaffnete Franzosen würden mit diesen Wilden nicht viel Federlesens machen.«
»Schätzen Sie diese Wilden nicht zu gering, Señor Conde. Es ist kein Spaß, dem ›Grauen Bären‹ oder der ›Roten Schlange‹ ins Weiße des Auges zu sehen. Es sind wahre Teufel an List und Verschlagenheit, und kühn genug, um jedem Manne den Skalp zu nehmen, der unter ihren Tomahawk gerät! Aber um in unserer Sache weiter fortzufahren: es ist nötig, daß die Expedition mit Lebensmitteln auf zwei oder drei Monate ausgerüstet und von einem Paar Bergleuten begleitet ist. Vor allein muß ein tüchtiger Anführer an der Spitze stehen, der sich Gehorsam zu verschaffen weiß und die Liebe und das Vertrauen seiner Leute besitzt, damit diese blindlings thun, was er ihnen befiehlt. Jeder Zwiespalt in der Wildnis wäre ihr Verderben.«
»Aber ich dächte, Sie selbst oder einer der Ihrigen Würde die Leitung des Ganzen übernehmen?«
»Die Heiligen mögen uns bewahren vor solchem Hochmut, Señor Conde! Wir sind schlichte Goldsucher und Jäger, aber keine Offiziere. Man würde uns auslachen wenn wir die Anmaßung hätten; wir begnügen uns, der Expedition als Wegweiser zu dienen und sie zu der Goldhöhle zu führen, die sie ohne uns in hundert Jahren nicht finden würde.«
»Weiter!«
»Was meinen Euer Excellenza?«
»Nun, die Hauptsache!«
»Welche Hauptsache, Señor Conde?«
»Ei, zum Henker, was Sie und Ihre beiden Gefährten für den Verkauf des Geheimnisses und die Überlieferung dieser mythischen Schätze für sich selbst fordern!«
»Für uns, Señor Conde?«
»Nun ja, für wen sonst? Sie sind doch die Eigentümer?«
»Ei richtig, das hätte ich bald vergessen. Nun, Señor, ich denke, wir haben Anspruch auf dieselben Rationen wie jeder andere, und Sie werden uns bei der Teilung auch denselben Anteil zugestehen. Da aber Eisenarm und der Große Jaguar niemals Gold anrühren, so denke ich, es wird nicht zu viel sein, wenn wir verlangen, daß man ihnen jedem eine der neuen schönen Büchsen statt ihres Anteils zugesteht, von denen wir gehört haben, daß sie niemals versagen und stets zuverlässig schießen, nebst einem Vorrat von Pulver, Blei und neuen Decken. Was mich anbetrifft, Señor Conde, so ist die Büchse nicht gerade mein Handwerk, obschon ich nicht übel schieße, und die meine noch gut genug ist. Der Jaguar bedient sich ihrer einstweilen, solange ich fort bin, und hat versprochen, sie zu schonen. Ich werde meinen Anteil daher lieber verspielen, wenn die Heiligen wollen, daß ich mit dem Leben davon komme.«
Der Graf sah mit immer größerem Erstaunen, in das sich unwillkürlich eine Art von Bewunderung mischte, auf diesen Mann, der für sich und seine beiden Mitwisser, für das Anerbieten der Überweisung unermeßlicher Schätze nichts anderes verlangte, als den Anteil jedes Soldaten oder ein Paar Büchsen und Decken.
Eine Menge von Gedanken wälzte sich in seinem Kopf bunt durcheinander. Er schwieg mehrere Minuten, ehe er den Mexikaner, der sich mit den Karten beschäftigte, wieder anredete.
Haben Sie und Ihre Gefährten, Señor Don José, die Entdeckung dieses Schatzes und das Anerbieten der Expedition ausschließlich für den verstorbenen Kaiser Napoleon bestimmt, oder würden Sie geneigt sein, dem Blut der rechtmäßigen Könige Frankreichs das gleiche Anerbieten zu machen?«
»Was verstehen Sie darunter?«
»Ich meine, der Familie der Bourbons, die man ihres Erbes, des Thrones von Frankreich beraubt hat.«
» Caramba, Señor Conde! Ich weiß aus meinen, Vaterland Mexiko, daß die Pronunciamentos sehr häufig sind; aber ich meine immer, der Mann, der wirklich durch seine Tapferkeit und seinen starken Geist zu herrschen verdient, wird sich die Herrschaft auch nicht nehmen lassen. Indes, da der große Kaiser Napoleon einmal tot ist, so ändert das allerdings die Sache, und ich glaube, daß es meinem Freunde Bras-de-fer hauptsächlich darauf ankommt, die Goldhöhle seinen Landsleuten diesseits des Meeres und nicht einem schuftigen Yankee oder einem hochmütigen Engländer zuzuwenden. Wenn sich also unter den Bourbons einer finden sollte, der den Mut und die Mittel hat, so bürge ich für seine Zustimmung. Aber mit dem Plaudern vergesse ich ganz meinen Zweck, um deswillen ich Sie bemüht habe, und der Doktor mit seinen Sägen und Messern wird hier sein, bevor wir mit unserer Partie zu Ende sind.«
»Es ist wahr, mein Freund, meine Neugierde hat Sie um Ihre Zerstreuung gebracht. Wollen wir die Partie beginnen?«
»Zu Ihren Diensten, Excellenza! Nur –«
»Nun?«
»Entschuldigen Sie, aber ich möchte gern zuvor wissen, um welchen Preis Sie geneigt sind, mit mir zu spielen.«
»Bah, ich will Sie nicht genieren, bestimmen Sie selbst den Preis.«
»Sie sind ein echter Caballero, Excellenza! Wohlan denn, es wäre eine Schande für mich, wenn ich Ihnen Vorschlägen wollte, mit mir um die paar Piaster zu spielen, die ich noch in meiner Tasche habe, denn dieser Schurke hält mich in der That kurz mit dem Geld. Ich will Ihnen daher einen andern Vorschlag machen.«
»Ich war einmal in einem kleinen Hause unweit der Seine, in der Nähe von Nôtre Dame, in dem man die Leichen unbekannter und verunglückter Personen ausstellt.«
»Die Morgue?«
»Richtig, so heißt der Ort. Ich habe da die nackten Leichname von zwei Männern und einer Frau gesehen und man hat mir gesagt, daß, wenn sich niemand dazu meldet, dieselben von den Studenten zerschnitten würden.«
»Das ist richtig, sie kommen in die Anatomie und dienen der Wissenschaft.«
» Carrajo! Das ist schlimmer als skalpiert werden. Selbst die heidnischen Wilden sind nicht so barbarisch. Ich glaube zwar, daß nach der Metzelei von gestern Ihre. Herren Studenten genug Vorrat an Leichen haben werden; aber sie könnten doch der Seltsamkeit halber auf die meine, als die eines Ausländers – vorausgesetzt, daß ich an dieser verdammten Kugel sterben muß – ein besonderes Gelüst verspüren, und das würde mir, offen gestanden, sehr unangenehm sein.«
»Ich verspreche Ihnen, daß der Leiche des Retters meines Kindes ein ehrliches Begräbnis zu teil werden und sie nicht unter das Messer der Anatomen kommen soll. Es versteht sich das von selbst.«
»Bei der heiligen Jungfrau, Señor Conde, Sie sind ein Ehrenmann; doch das würde Ihnen viele Kosten in dieser großen Stadt verursachen. Ich kann das unmöglich annehmen.«
»Aber was wollen Sie denn eigentlich?« sagte halb lachend, halb ungeduldig der Graf.
»Ich will mit Ihnen um mein Begräbnis spielen.«
»Um Ihr Begräbnis?«
» Caramba! ja, und es soll Ihnen nicht billig zu stehen kommen für den Preis, den ich dagegen setze. Ich möchte ein so schönes Begräbnis mit einer Trauerkutsche, die Bursche mit Flor an dem Hut und die Pferde mit Federn an den Köpfen haben. Es ist wenigstens etwas, um einen armen Kerl dafür zu trösten, daß er nicht unter dem Nasen der einsamen Prärie oder am Ufer des Rio Grande in seinem Vaterlande liegen kann, sondern auf einem Ihrer Kirchhöfe, die so bevölkert sind wie die Alamada zu Mexiko nach Sonnen-Untergang.«
»Auf mein Ehrenwort, Sie sollen ein solches Begräbnis erhalten, wenn sich der traurige Fall ereignen sollte, und einen Leichenstein dazu.«
»Nun müssen Sie aber auch wissen, was ich dagegen setze. Kommen Sie näher, Señor Conde.«
Der Graf rückte dicht an das Lager.
»Sehen Sie her!«
Der Mexikaner öffnete mit der gesunden Hand sein Hemd am Halse und zeigte dem Grafen ein ledernes Säckchen, das an einer Schnur aus Aloefasern um seinen Hals hing.
»Bitte, helfen Sie es mir abnehmen,« sagte der Kranke, den Kopf vorbeugend. Der Graf hob die Schnur über seinen Hals und legte es auf den kleinen Tisch vor dem Bett.
»Wissen Sie, was Sie soeben in der Hand gehalten, Excellenza?«
»Ein Amulett! Man trägt dergleichen auch bei uns, namentlich im Süden. Sie können ein ähnliches bei Bonifaz finden.«
»Euer Excellenza irren. Es ist das Geheimnis der Goldhöhle.«
Der Graf nahm das schmutzige Säckchen in die Hand, betrachtete es vergeblich auf allen Seiten und legte es dann wieder nieder.
»Ich verstehe das nicht!«
»Diese unscheinbare Tasche,« sagte der Kranke, »birgt ein Stück Haut mit der genauen Zeichnung der Lage der Goldhöhle und des Weges dahin vom Rio Grande und den Ufern des Bonaventura aus. Nur wer in dem Besitz dieses Planes ist und die Bedeutung desselben kennt, vermag ihn in der Wüste aufzufinden. Wir haben drei Exemplare dieser Zeichnung gefertigt, und jeder von uns besitzt eine von ihnen. Sie ist zugleich der Beweis unseres Anrechts an die Entdeckung, die wir gemeinschaftlich gemacht, und jeder ist berechtigt, sie und damit sein Anrecht zu verkaufen oder zu verschenken.«
Er hielt inne, der Graf sah ihn mit atemloser Spannung an.
»Wohlan, Señor Conde, ich setze das Säckchen und mein Anrecht daran gegen Ihr Versprechen des Begräbnisses, wenn Sie zwei Bedingungen eingehen wollen.«
»Nennen Sie diese.«
»Die erste ist, daß Sie für den kleinen Don Louis, Ihren Sohn, spielen. Ich möchte dem Knaben gern ein Andenken hinterlassen dafür, daß er in jenem Hause bei mir geblieben ist.«
Der Bourbone nickte.
»Dann verlange ich Ihr Ehrenwort, daß, wenn ich die Operation glücklich überstehen sollte, Sie mir das Säckchen uneröffnet zurückgeben. Sie sind dann auch des Begräbnisses überhoben.«
»Ich verpfände Ihnen mein Wort. Aber warum wollen Sie diesen wichtigen Gegenstand nicht lieber bei sich behalten, bis die unangenehme Frage entschieden ist?«
Ein boshaftes Lächeln überflog das verwitterte Gesicht des Gambusino.
»Euer Excellenza werden das seiner Zeit erfahren. Jetzt nehmen Sie die Tasche an sich, und lassen Sie uns unser Spiel beginnen. Also – wenn ich verliere, gewinnen Sie die Erbschaft und müssen mich begraben lassen; wenn ich gewinne, erhalten Sie nichts – und ich?«
»Sie gewinnen das Leben, und ich bezahle den Doktor,« sagte lächelnd der Graf.
» Caramba, so soll es sein! Lassen Sie uns anfangen.«
Der Graf mischte die Karten.
»Aber, Señor José, wie sollen wir uns in dem unangenehmen Fall, daß Sie verlieren, mit den Associés der Firma abfinden, da ich sie nicht kenne?«
»Euer Excellenza meinen Wono-Dongah und Le Bras-de-fer?«
»Richtig! Es möchte etwas weitläuftig sein, ihre Adressen zwischen Verakruz und Kalifornien ausfindig zu machen.«
»Die Sache ist nicht so schwer, wie Sie glauben. Wir haben, wie ich bereits die Ehre hatte Ihnen zu sagen, für die nächsten zwei Jahre uns ein Rendezvous gegeben. Aber zum Teufel! ich finde, daß mein Arm mich beim Halten der Karten gewaltig geniert. Sie sind zu sehr im Vorteil. Sollten Sie vielleicht Würfel besitzen, das würde uns das Geschäft erleichtern.«
»Louis muß sie dort in seinem Spielkasten haben.«
Der Graf öffnete ihn und nahm einen Becher mit Würfeln heraus.
»Euer Excellenza sind die Höflichkeit selbst. Drei Partieen denn, Señor Conde, wenn es Ihnen gefällig ist.«
»Ich stehe zu Ihrer Disposition. Haben Sie die Güte anzufangen.«
Der Mexikaner hatte seine Karten weggelegt und schüttelte den Becher.
»Euer Excellenza müssen wissen, daß unsere erste Zusammenkunft für den ersten Tag des ersten Vollmonds, im Monat September, gerade um zehn Uhr abends, angesetzt ist. Carrajo, ich glaube, ich habe siebzehn geworfen!«
»Richtig! – Da ist der meine – neun!«
»Ich hoffe, Señor Conde, Sie werden künftig besseres Glück haben. Die nächste Zusammenkunft findet demnach schon in neun Monaten statt. – Dreizehn!«
»Den Teufel! ich habe Unglück. – Sieben!«
»Die erste Partie ist verloren: aber trösten Sie sich. Unglück im Spiel ist Glück in der Liebe. Zwölf!«
» Zehn! Sie sind mir um sechzehn Augen voraus!«
»Der Ort, den wir für das nächste Jahr zu unserer Zusammenkunft bestimmt hatten, ist San Francisco. Im Fall ich zu dieser Zeit noch nicht eingetroffen oder verhindert sein sollte, haben wir gerade sechs Monate später ein zweites Rendezvous in der Wüste selbst festgesetzt, an der Quelle des Bonaventura. Sie finden die Stelle auf dem Pergament, das in jenem Säckchen ist, mit einem roten Punkt bezeichnet. Aber lassen Sie uns die zweite Partie beginnen, Señor Conde, wenn es Ihnen gefällig ist. Sie wissen, daß ich Ihnen sechzehn Points voraus bin.«
»Fangen Sie an.«
» Zwölf! – es ist kein schlechter Wurf. Das erste Rendezvous also ist – kennen Sie San Francisco?«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nur in Afrika, nicht in Amerika war. Zehn!«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Excellenza. Jenes Rendezvous ist also auf dem Plazza mayor von San Francisco und zwar – Neun! Carrajo, das ist ein schlechter Wurf!«
»Ich hoffe, es besser zu machen. Mordieu! nur Acht! Nun also, Señor?«
»In dem Augenblick, wo die Uhr der Kathedrale, welche an der Ostseite des Platzes liegt, die zehnte Stunde verkündet, werden Eisenarm und der Große Jaguar genau auf der Stelle sein, wohin die Turmspitze jener Kirche ihren Schatten wirft. – Dreizehn! Das macht vierunddreißig, Señor Conde! Es thut mir leid, aber Sie werden die Begräbniskosten zahlen müssen.«
» Elf! Sie haben nochmals fünf Points, im ganzen also einundzwanzig voraus! Sollten Ihre Freunde wirklich so genau Wort halten? Bedenken Sie, daß, soviel ich beurteilen kann, die Entfernung von dem zweiten Rendezvous ein paar hundert Meilen betragen muß!«
»Sie werden zur Stelle sein, wenn sie noch am Leben sind. Sollten sie fehlen, so ist der Anwesende Erbe ihres Anteils. Man klopft, Excellenza. Carrajo! Sollte das schon der verteufelte Doktor sein?«
Der Graf fuhr aus dem tiefen Sinnen auf, in das er wieder versunken war, und ging nach der Thür.
»Wer ist da?«
Die Stimme der Schauspielerin antwortete ihm. »Der Doktor mit seinem Kollegen ist soeben angekommen, sie befinden sich im Salon und lassen fragen, ob sie eintreten können; der Doktor Boisset hat nur wenig Zeit.«
»Öffnen Sie, Señor Conde, öffnen Sie! Es muß einmal entschieden sein.«
Der Graf öffnete die Thür, der Hausarzt der Schauspielerin trat mit einem korpulenten Herrn ein, dessen rotes rundes Gesicht von einem Kranz weißer Haare halb umrahmt war. Über eine goldene Brille hinweg funkelten ein Paar kleine gutmütige graue Augen. Im Knopfloch des blauen Fracks hing ein goldenes Kettchen mit wenigstens zehn verschiedenen Miniatur-Orden.
»Sieh da, Doktor Boisset!« sagte Boulbon, der den berühmten Operateur in verschiedenen Salons getroffen hatte. »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie sich zu uns bemüht und uns mit Ihrer Kunst verpflichten wollen.«
»Doktor Connard schilderte mir den Fall als einen interessanten, und Ihr Name, lieber Graf, bewog mich das Lazarett zu verlassen. Sie können nach den gestrigen Ereignissen denken, daß meine Zeit sehr beschränkt ist; also lassen Sie uns ans Werk gehen. Wo ist der Patient, für den Sie sich so lebhaft interessieren?«
»Hier, Doktor!«
»Ein Fremder; er versteht nur spanisch, wie mir Connard sagt. Desto besser, so sind wir in unserem Meinungsaustausch ungeniert. Lassen Sie mich sehen.«
Er untersuchte den Verwundeten genau, dann sagte er: »Ich stimme der Meinung meines geehrten Kollegen Connard vollkommen bei. Der Mann ist noch zu retten, wenn es gelingt, die Kugel, die sich am Rückgrat festgeklemmt hat, herauszuziehen. Aber es ist unmöglich, für die Operation einzustehen; denn ebenso gut kann auch bei der geschicktesten Hand augenblicklich der Tod erfolgen. Ist der Mann davon in Kenntnis gesetzt und darauf gefaßt?«
»Vollkommen, Doktor!«
»So lassen Sie uns zum Werk schreiten. Madame, dies ist kein Anblick für Sie; haben Sie nur die Güte, mir etwas Wasser, altes Leinen und Äther bringen zu lassen. Ist ein Mann in der Nähe, der den Kranken halten kann?«
»Ich werde jeden Dienst verrichten, den Sie mir auftragen,« sagte der Graf.
»Dann haben Sie die Güte uns zu helfen, das Bett in die Mitte des Zimmers zu stellen, so daß ich frei zu demselben treten kann.«
Es geschah. Während der Operateur sein Besteck herausnahm und auf einen Nebentisch legte, wandte sich der Mexikaner zu dem Grafen.
» Caramba, Señor Conde, lassen Sie uns unsere Partie nicht vergessen.«
»Wie? Denken Sie wirklich noch daran? Wollen Sie nicht lieber diese wichtigen Augenblicke dem Gedanken an Gott widmen?«
»Ich habe dreißig Jahre lang in der Wildnis Veranlassung genug gehabt, an Gott zu denken, wo mein Leben oft um keinen Grashalm sicherer war als jetzt. Aber wenn ich selbst gewußt hätte, daß die Hunde von Apachen auf meiner Fährte wären, würde ich ein so schönes Spiel nicht im Stich gelassen haben. Bedenken Sie, Señor Conde, einundzwanzig gegen nichts und noch drei Würfe! Ich müßte verteufeltes Unglück haben, wenn ich nicht gewinnen sollte.«
Der Operateur hatte das Instrument gefunden, das er suchte, es glich einem doppelten Kugelzieher. Er prüfte die scharfen Spitzen gegen das Licht, dann reichte er es seinem Kollegen und nahm die gewöhnliche Sonde und ein kleines Messer mit haarscharfer Spitze.
»Wir können beginnen!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Thür nochmals um Bonifaz trat ein, gefolgt von einem Mann.
»Gnädiger Herr, hier bringe ich Monsieur Brown.«
Der Fremde hatte ein ziemlich merkwürdiges Aussehen. Er war von mittlerer Größe und hagerer Gestalt, die mit einem braunen, mit zahlreichen Taschen versehenen Rock bekleidet war. Ein ziemlich schäbiger Hut bedeckte eine niedere, im scharfen Winkel vorspringende Stirn, die in eine lange spitze Nase überging. Er hatte Augen von verschiedener Farbe und einen schielenden Blick. Das vorspringende starke Kinn verriet Habsucht und Energie.
Diese höchst unliebenswürdige Persönlichkeit blieb, die Hände bis an den halben Ellenbogen in die Rocktaschen vergraben, den Hut auf dem Kopf, auf der Thürschwelle stehen und warf einen Schielblick auf die Gesellschaft.
»Ich habe gehört, Master Joseph, daß Ihr Euch in eine saubere Geschichte eingelassen habt,« sagte der Mann, »und ich kalkuliere, daß das gegen unseren Vertrag ist. Ihr seid mir Euer Leben schuldig, und wenn diese Windbeutel, die Franzosen, Euch tot geschossen haben, so habt Ihr mich um mein Geld betrogen.«
» Caramba!« erwiderte unwillig der Verwundete, »Ihr seht ja, daß ich noch nicht tot bin. Ich wollte Euch nur das Suchen nach mir ersparen, deshalb schickte ich zu Euch und ließ Euch hierher bitten.«
»Mir will scheinen, daß dies ziemlich rechtschaffen von Euch ist. Der Doktor will Euch also ins Fleisch schneiden?«
»So ist's.«
»Dieser Mann hat mir gesagt, daß Ihr daran sterben könntet?«
»Das ist unser aller Los.«
»Ich kalkuliere, es würde Euch eine verteufelte Erleichterung sein, wenn Ihr mir vorher ein wenig das Herz ausgeschüttet hättet so von wegen der Dinge, die Ihr wißt.«
Er machte eine bezeichnende Pantomime nach der übrigen Gesellschaft. Der Mexikaner sah ihn mit spöttischer Miene an.«
»Was meint Ihr, Gevatter?«
»Zum Henker, ich meine wegen der Nachrichten über eine gewisse Höhle, die Ihr mir undankbarer Weise bisher immer vorenthalten habt. Wollt Ihr mir nicht lieber das Dings da geben, das Ihr immer bei Euch tragt, um es in sicheren Händen aufbewahrt zu wissen? Ich meine, es wäre mein Recht.«
»Ich danke,« sagte ruhig der Verwundete, »Euer Recht habt Ihr bereits in der Tasche und mich dafür geizig genug behandelt. Unser Kontrakt bedingt Euch nur hunderttausend Dollar Belohnung, wenn Ihr, versteht mich wohl, das Geschäft zustande bringt; sonst habe ich keine Verpflichtungen gegen Euch, worüber ich diese Señor zu Zeugen nehme.«
Der Doktor schritt hier ein.
»Bitte, sagen Sie dem Mann, daß wir nicht länger zögern können. Sie dürfen uns hier nicht stören, mein Freund, oder müssen sich entfernen. Bringen Sie den Kranken in die geeignete Lage, Doktor Connard.«
Der Assistenz-Arzt war sofort damit beschäftigt; der Mexikaner wurde auf den Leib gelegt und durch Kissen unterstützt, so daß sein Rücken der Operation frei blieb. Sein Kopf lag über dem Ende des Bettes, so daß er die Anwesenden sehen konnte; ebenso war seine Hand frei.
»Darf ich sprechen bei der Geschichte? Ich muß doch meine Partie zu Ende spielen.«
Der Graf übersetzte dem Operateur das Verlangen des Kranken.
»Meinetwegen, ich habe nichts dawider, vorausgesetzt, daß er sich nicht zu sehr bewegt. Irgend eine solche Beschäftigung ist oft sehr gut und macht den Kranken, wenn er sich nicht ätherisieren läßt, den Schmerz vergessen. Es wird am besten sein, dem armen Burschen den Willen zu thun.«
Der Graf rückte das Tischchen mit den Würfeln an das Kopfende des Bettes, so daß es unter dem Auge und unter der Hand des Kranken war, dann zog er einen Stuhl an die andere Seite und setzte sich.
Der Amerikaner stellte sich hinter seinen Stuhl, die Operation und das Spiel zugleich beobachtend. An der rechten Seite des Bettes stand der Assistenz-Arzt mit den Instrumenten und einem starken Reizmittel. Bonifaz hielt am Fußende Schwamm und Becken, die linke Seite blieb frei für den Operateur.
»Sind Sie bereit?«
»Ja! – Fangen Sie diesmal an, Señor Conde, Sie wissen, daß ich Ihnen einundzwanzig voraus bin.«
»Ich kalkuliere, Ihr habt ein unverschämtes Glück, Master José,« sagte der Amerikaner. »Ich möchte eine halbe Dublone wetten, daß Ihr auch diesmal wieder gewinnt.«
Ein Zug des Spottes flog über das hagere Gesicht des Goldsuchers. »Meint Ihr, Gevatter? Es könnte mir diesmal wahrhaftig Vergnügen machen, wenn Ihr gewinnen solltet! – Caramba, ich glaube, Sie haben Achtzehn geworfen, Señor Conde?«
Der Operateur begann in diesem Augenblick den Kreuzschnitt über der Wunde. Der Gambusino war so beschäftigt mit seinem Spiel, daß er den Schnitt gar nicht zu fühlen schien.
» Demonio! ich habe nur fünf Point,« rief er, indem seine Augen zu funkeln begannen. »Weiter, Señor Conde, weiter!«
Der Graf warf Fünfzehn.
» Sieben! Verdammt! lassen Sie uns rechnen! Vamos! ich glaube, die Partie steht sich jetzt gleich! Haben Sie die Kugel noch nicht, Doktor? Sie arbeiten ja seit fünf Minuten in meinem Rücken umher, als wollten Sie mir alles Fleisch von den Knochen schinden. Ich glaubte bisher, das verständen nur die Schufte, die Apachen, wenn sie einen am Marterpfahl haben.«
Doktor Boisset winkte dem Hausarzt. »Ich fühle mit der Sonde die Kugel, sie ist zwischen dem zweiten und dritten Wirbel von unten eingeklemmt und die Zange wird nicht genügen. Reichen Sie mir das Instrument, das ich mitgebracht.«
Doktor Connard gab seinem Meister eines jener Werkzeuge, die der Schrecken der Verwundeten auf den Schlachtfeldern und auf den Amputationstischen der Lazarette sind. Es hatte, wie erwähnt, die Gestalt eines doppelten Kugelziehers für die Büchsenläufe, nur war es kürzer und mit einem Handgriff versehen. Die Zuschauer sahen die Vorbereitungen nicht ohne tiefes Grauen und Mitleid an, bis auf den Amerikaner, der mit gefühlloser Neugier das Instrument betrachtete.
»Halten Sie den Mann jetzt fest,« befahl der Operateur Bonifaz. »Fassen Sie die Füße an, damit er nicht durch Zuckungen die Operation stört.«
Er setzte die Doppelspitze des Instrumentes in das Fleisch.
» Einundzwanzig, Fünf und Sieben sind dreiunddreißig,« sagte der Verwundete. »Wahrhaftig, Señor Conde, Sie haben mich eingeholt; aber nun gilt's! Wollt Ihr noch auf mich wetten, Freund Brown?«
Der Yankee bedachte sich. »Eine halbe Dublone ist viel Geld,« sagte er endlich. »Wenn ich nur wüßte, um was es sich handelt?«
» Caramba, Ihr wißt, daß ich nicht gewohnt bin um Kleinigkeiten zu spielen. Wettet immerhin auf mich, amigos, und ich verspreche Euch, Ihr sollt die Hälfte meines Gewinnes erhalten.«
»Euer Wort?«
»Das Wort eines Caballero darauf.«
» Very well, so will ich eine halbe Dublone darauf wagen. Hier ist sie! Ich bin neugierig, wer die Wette halten wird?«
Er holte aus der Tasche ein schmutziges Papier, wickelte es auf und legte die darin enthaltene Münze auf den Tisch.
»Die Leute hier vertrauen verteufelt auf Euer Glück, Master José,« brummte er. »Ihr seht, es will niemand gegen Euch wetten.«
Er war im Begriff, sein Geldstück wieder einzuziehen, als Bonifaz vom Ende des Bettes her rief: » Mordieu! Ihr sollt nicht sagen, Bursche, daß ein Franzose sich gescheut hätte, eine Herausforderung anzunehmen. Ich halte Eure Wette!«
»Angenommen!« erwiderte phlegmatisch der Amerikaner. »Aber Ihr seht, Mann, daß ich das Geld bar eingesetzt habe. Es muß gleiches Spiel sein.«
» Pardious, seht Ihr nicht, daß ich keine Hand frei habe? Monseigneur, Sie bürgen gewiß für mich?«
Der Graf warf einen Louisdor neben die spanische Münze.
In diesem Augenblick stieß der Leidende einen furchtbaren Schrei aus und machte eine so krampfhafte Bewegung, daß es der ganzen Kraft des Bonifaz bedurfte, um ihn fest zu halten. Sein gelbes hageres Gesicht färbte sich mit einer dunklen Röte.
»Ruhig, ruhig, Mann, oder Ihr stört die Operation,« sagte der Arzt. »Sehen Sie, Doktor Connard, ich habe glücklich die Kugel gefunden, die Doppelspitze faßte das Blei. Einige Augenblicke noch, und die Sache wird entschieden sein.«
Der Kranke hatte die Zähne auf die Unterlippe gebissen, daß das Blut in hellen Tropfen hervordrang. Plötzlich richtete sich sein Kopf in die Höhe; er sah den Grafen an.
Das Weiße der Augen schien blutig gerötet, von seiner Stirn perlte dick ein kalter Schweiß; trotzdem machte er, indem er seinen Gegenspieler ansah, ein energisches Zeichen, daß dieser werfen solle.
Erschauernd in seinem Innern, konnte sich dieser doch dem fast magischen Einfluß nicht entziehen. Er ergriff den Würfelbecher und warf.
» Siebzehn!«
Es war der Yankee, der den Ausruf gethan, indem er nur Augen für die Würfel, nicht aber für die Leiden seines Gefährten hatte.
Die Blicke des Mexikaners hefteten sich förmlich krampfhaft auf die Würfel; das nervöse Zucken des Spielers durchlief sein Gesicht und die Finger, die er nach dem Becher ausstreckte, zitterten vor Aufregung.
Der Graf hatte die Würfel in den Becher geworfen; des Kranken zitternde Hand erfaßte ihn und stülpte ihn um; aller Augen waren auf den Wurf gerichtet.
Plötzlich unterbrach ein Ruf des Arztes die Stille. Er hielt das Instrument in die Höhe, an den Spitzen desselben hing die blutige Kugel.
»Triumph! Wir haben sie!«
Der Oberkörper des Kranken richtete sich langsam empor, ein Strahl von Freude zuckte aus seinen blutunterlaufenen Augen und lief über seine verzerrten Züge.
» Achtzehn! Caramba, ich habe doch gewonnen!«
»Ihr wißt, Master José, die Hälfte des Gewinnes ist mein,« schrie auf den Tisch zustürzend der Amerikaner. »Was ist der Preis?«
Der Mexikaner sah ihn starr an, ein Ausdruck von Hohn lagerte sich auf seinem Gesicht und er öffnete den Mund.
»Ein Begräbnis!«
Der Kopf des Kranken fiel vorne über – der Mann war tot.
Der Graf sprang erschrocken auf, in den Gesichtern aller Anwesenden malte sich tiefe Bestürzung.
»Um Gottes willen, Doktor, was ist das? Helfen Sie, retten Sie!«
Der Doktor Connard hatte bereits den Körper gefaßt und ihn auf den Rücken gewendet. Die Augen waren weit geöffnet und starrten gläsern empor; die Farbe wich langsam aus dem verwitterten Gesicht, und die Glieder verloren erst nach und nach ihre Elastizität. Zwischen den schmalen Lippen glänzten die weißen Zähne wie die eines Schakals fest aufeinander gebissen.
»Schnell ein Flacon – den Schwamm! Soll ich ihm zur Ader lassen, Doktor Boisset?«
»Warum denn? es ist unnötig. Ich sagte es Ihnen ja, wenn er die Operation nicht überstände, würde es im Augenblick mit ihm zu Ende sein. Sehen Sie hier, da sitzt die Ursache, die wir nicht wissen konnten. Hätte die Kugel ihre regelmäßige Form behalten, so war er gerettet; aber der Mann hat so harte Wirbel gehabt, daß sie sich abgeplattet hat. Hier diese scharfe Ecke hat die Rückenmarknerven zerrissen.«
Doktor Connard hatte die Hand auf das Herz des Opfers gelegt, hielt ihm den scharfen Salmiakgeist unter die Nase und versuchte verschiedene andere Mittel.
»Es ist vergebens,« sagte er nach einer kurzen Pause, »der Mann ist tot. Ihre Freundlichkeit, Herr Graf, ist vergebens gewesen.«
»Das thut mir aufrichtig leid. Wenigstens soll es mir Pflicht sein, seine letzten Wünsche zu erfüllen. Mein Herr, ich bin nicht desto weniger in Ihrer großen Schuld für die Hilfe, die Sie dem Unglücklichen zugewendet haben.«
»Bah, das ist die Pflicht der Wissenschaft,« meinte der große Arzt. »Aber wenn die Operation auch nicht glücken konnte, das Subjekt wird nichts desto weniger nützlich für die Wissenschaft sein. Ich denke, Sie werden nichts dawider haben, daß ich den Kadaver für die Anatomie abholen lasse. Bei diesem Bau und der Eintrocknung des Fleisches wird er ein vortreffliches Präparat abgeben, an dem ich meinen nächsten Vortrag über die Rückgrats-Verletzungen halten kann.«
Der Amerikaner, der bis setzt durch die Beschäftigungen der Arzte um den Toten von diesem zurückgedrängt worden war, machte sich jetzt bemerklich.
»Ich kalkuliere, Doktor,« sagte er, »der Bursche ist immer seine zwanzig Dollar wert für das Zerschneiden. Wenn Sie eine Kleinigkeit zulegen wollen, sollen Sie da meinen Freund haben, sobald ich ihn ausgezogen; denn wenn die Sachen auch nicht viel wert sind, so hoffe ich doch immer noch ein Paar Franken daraus zu machen. Was die Wette anbetrifft, so denke ich, Masters, ich kann mein Geld mit Recht einstreichen.«
Dem Wort folgte die That; er wollte sich eben an den Toten machen, als sich die Hand des Grafen zwischen ihn und diesen streckte.
»Einen Augenblick noch, mein Freund. Was die Leiche da betrifft, so haben Sie alle, gehört, daß ich auf den Wunsch des Verstorbenen mit ihm um sein Begräbnis spielen mußte, und da ich verloren habe, so denke ich als Gentleman mein Wort zu halten.«
»Ich bitte, Sie, liebster Graf,« sagte der Operateur, »es wäre ein Verlust für die Wissenschaft.«
»Ich kalkuliere,« meinte der Yankee, »es kann dem armen Kerl jetzt sehr gleich sein, ob er in die Erde gelegt oder dem sehr würdigen und verständigen Herrn hier übergeben wird. Wenn Sie mir die Hälfte der Kosten geben wollten, die Sie auf das Begräbnis zu verwenden gedenken und ich die zwanzig Dollars dazu thue, so hätte ich doch einigermaßen meinen Schaden ersetzt. Ich vermute, es wird mir niemand das Recht der Erbschaft streitig machen.«
Er legte die Hand auf den Toten.
»Was Ihr Recht ist, mag Ihnen werden. Die Leiche aber wird auf meine Kosten bestattet, und Sie haben jetzt hier nichts mehr zu thun.«
»Meinetwegen denn, aber ich sage Ihnen, Sie hätten ein Einsehen haben und einen armen Mann nicht um einen kleinen Verdienst bringen sollen. So will ich denn nehmen, was mein ist und dann meine Füße weiter setzen.«
Er beugte sich über die Leiche, die noch immer mit den offenen starren Augen dalag, und öffnete ihr den Hemdkragen.
Plötzlich fuhr er mit einem lauten Aufschrei zurück. Sein häßliches Gesicht war fast so fahl wie das des Toten geworden, und er warf seine Schielblicke wie verwirrt umher.
»Das Säckchen, wo ist das Säckchen? Verflucht, man hat mich bestohlen!«
Seine behaarten hageren Finger griffen krampfhaft auf dem Leichnam umher und durchwühlten die blutige Bettdecke.
»Wo ist das Säckchen? Gott verdamm' meine Seele, ich muß das Säckchen haben!«
Die in jeder Falte des Bettes, in jedem Zimmerwinkel umherforschenden Augen quollen ihm im Schreck betrogener Habgier förmlich aus dem Kopf. Mit zitternden Händen hob er die alten Kleidungsstücke des Mexikaners in die Höhe und durchsuchte die Taschen; dann wieder stürzte er sich auf die Leiche und warf und schüttelte sie so roh umher, daß selbst die beiden schon an der Thür stehenden Ärzte, die doch an schreckliche Auftritte gewöhnt waren, ein Gefühl des Grauens empfanden und der jüngere zurückkam, um den toten Körper vor dieser Entweihung zu schützen.
»Das Säckchen! ich muß das Ding haben, das der Schurke am Halse trug, es ist mein!«
Seine drohenden, habgierigen Augen wandten sich auf den Grafen; er krallte die Finger beider Hände in dessen Arm.
»Sie haben es – ich sehe es Ihnen an! Geben Sie mir mein Eigentum zurück, oder ich begehe einen Mord an Ihnen!«
Mit einer einzigen kurzen Bewegung seiner Hand schleuderte der Edelmann den Elenden zurück, daß er an die entgegengesetzte Wand taumelte.
» Ventre Saint-gris!« sagte er kalt, »ich glaube, das Vieh wagt mich zu berühren. Meine Herren, um Ihnen den Auftritt zu erklären, bemerke ich Ihnen, daß es sich ganz einfach um eines der indianischen Amuletts handelt, das der Verstorbene mir überlassen, oder vielmehr im Würfelspiel gegen meine Verpflichtungen eingesetzt hat, für sein Begräbnis zu sorgen. Hier ist das Ding! Sie werden sich überzeugen, daß es keinen reellen Wert hat.«
Er öffnete das Säckchen, das er bisher in der geschlossenen Hand verborgen gehalten hatte, und zog den Inhalt heraus.
Dieser bestand allein in einem Streifen Haut, mit allerlei Linien und Punkten bemalt.
Nachdem er es den Ärzten gezeigt, steckte er den Hautstreifen wieder in das Säckchen und dies selbst in die Tasche.
»Man hat mich bestohlen, ich bin ein unglücklicher Mensch, wenn ich mein Eigentum nicht erhalte!« schrie der Amerikaner von der Wand her. »Es wird noch Gerechtigkeit in diesem Lande geben, die Gerichte müssen mir zu meinem Eigentum verhelfen.«
»Narr! Diese Herren haben gehört, wie der Mann da noch wenige Augenblicke vor seinem Tode erklärte, daß er keinerlei Verpflichtung an Sie habe.«
»Die Tasche, die Tasche!« heulte der Yankee. »Sie nützt Ihnen nichts, während Sie mich um Millionen bestehlen. Jener Lederstreifen ist –«
Der Graf trat auf ihn zu. Seine Stirn war finster zusammengezogen, sein Auge so drohend wie eine Gewitterwolke. Er hatte die geballte Faust erhoben.
»Still, Schurke! Ein Wort noch, und ich zerschmettere Dir den Schädel! Sieh her. Du kennst mich noch nicht!«
Neben ihm stand ein Tisch von Mahagoni. Die Platte war mehr als einen Zoll stark. Ohne auszuholen, fuhr die Hand des Edelmannes auf die Platte nieder, und die Ecke sprang wohl eine Hand breit ab, als wäre sie von einer Säge abgetrennt.
»Der Mensch ist verrückt und muß nach Charenton gebracht werden,« sagte Doktor Boisset. »Da Sie durchaus nichts für die Wissenschaft thun wollen, Graf, so begraben Sie immerhin Ihren Mexikaner und leben Sie wohl!«
Er verließ mit einem Gruß das Zimmer, Doktor Connard folgte ihm, und Bonifaz begleitete auf einen Wink seines Gebieters die Herren die Treppe hinab.
Der Graf und der Yankee blieben allein zurück bei dem Toten.