Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Il Giojello dell' Italia.

(Fortsetzung des Kapitels: » Der Sturm bricht los«.)

Turin, die damalige Residenz des Königs von Italien in den sechziger Jahren, machte zuerst durch ihr geradliniges, nach der Schnur auslaufendes Straßensystem, durch ihre absichtliche und feierliche Symmetrie und durch die zahlreichen und in ruhigeren Tagen auffällig wohldisziplinierten Volksmassen, die sich auf den Plätzen, in den Hauptstraßen und ihren Arkaden auf und nieder bewegen, den Eindruck einer regelmäßigen und vornehmen Schönheit, aber man vermißt sogleich den naturwüchsigen und nationalen Charakter, wie er anderen italienischen Städten eigen ist. Man wird hier, wie ein trefflicher Kenner italienischer Zustände sagt, an den prachtvollen systematischen Stil erinnert, in dem Louis Napoleon den Umbau von Paris geleitet hat, und zugleich sieht man auf allen Wegen und Stegen das französische Muster, nach dem in Turin das neue Italien gewirkt ward, hervorblicken.

Die moderne polizeiliche Vorsehung, die auf den Straßen Turins so sichtlich hervorsticht, hat auch die Masken des italienischen Straßenlebens, nämlich die – Bettler, denen man sonst überall in Italien begegnet, fortgefegt. Es kann dies allerdings nur einen höchst behaglichen Eindruck gewähren, aber gleichwohl ist die Bettelei so sehr ein Attribut der italienischen Nationalität geworden, daß man sich unwillkürlich wundert, diesen tollen Karneval des Elends, der im übrigen Italien stehend geworden ist, hier nicht mehr anzutreffen. Somit ist es ganz begreiflich, wenn dies gewissermaßen mit zu der Empfindung beiträgt, daß man sich in Turin nicht mehr recht unter einer italienischen Bevölkerung zu befinden glaubt, die hier eine Disziplin angenommen hat, welche sonst dem Italiener ganz und gar widerstrebt. Die Bewohner dieses Landes scheinen gar keine rechten Italiener mehr zu sein, unter welchem Gesichtspunkte man sie auch betrachten mag, denn es liegt ganz entschieden ein mehr nordisches Verstandeselement in ihnen ausgeprägt, das sich zwar fähig erweist, auf jede Art organisiert und diszipliniert zu werden, von dem aber alle anderen Eigentümlichkeiten der italienischen Nationalität zurücktreten. Mit diesem Charakter stimmt das Klima ganz harmonisch überein, dessen Rauheit und Härte uns jeden Augenblick glauben läßt, in einem Schweizer Canton zu sein, statt unter dem milden Himmel Italiens. Oft scheint auch die schneidende und erkältende Zugluft, die aus den Alpen herunter die ganze Stadt durchschauert, mehr an Rußland, als an Italien gemahnen zu wollen, so daß sie zu der Ehre gelangt ist, seitens der vielen Verschnupften, die hier an dem Witterungswechsel und an den Erkältungen kranken, vorzugsweise die »rheumatische Kapitale« genannt zu werden.

Die ein wenig entnationalisierte Turiner Bevölkerung besaß in jenen Septembertagen des Jahres 1864 immer genug munizipalen Partikularismus, um bei der ihr drohenden Gefahr in Harnisch zu geraten. Einige Wochen später hätte vielleicht jeder dieser Turiner Krakehler viel darum gegeben, wenn er samt seinen Genossen es verstanden hätte, zu rechter Zeit Ruhe zu halten.

Die Stadt bot ein trauriges, finsteres, verzagtes Aussehen, wie am Tage des Friedens zu Villafranca und des Todes Cavours. Die Parteien bliesen nach Kräften ins Feuer. Die Karrikaturen, in welchen Gianduja (Piemont) bald entblößt, bald im Hemd den Stier (Toro) verkauft, der vom Ministerium erschlagen worden ist, wurden von einer Masse Menschen kommentiert. Die Wände der Häuser, die Gartenmauern waren mit Plakaten bedeckt, Pamphlete und Broschüren aller Art zirkulierten durch die Stadt und riefen die Turiner Bevölkerung auf, sich zu versammeln und ihre Unzufriedenheit öffentlich zu bezeugen.

Simone Moretto hatte recht gehabt, wenn er behauptet hatte, daß der Munizipalrat sich auf seite der empörten Bevölkerung geschlagen. Wenngleich durch einen Maueranschlag das Volk beschworen ward, in Ruhe das Resultat der auf morgen um 2 Uhr einberufenen Sitzung des Stadtrates abzuwarten und sich von allen Gewaltakten fern zu halten, so ging doch aus den Vorschlägen, die der Syndikus Marchese Rora dem Munizipalrat machte, sofort hervor, wie viel den Vätern der Stadt daran lag, den drohenden Schlag von dem Haupte ihrer Vaterstadt abzuwenden, wie energisch sie die diesbezüglichen Abmachungen der Regierung verurteilten.

Und diese Entrüstung auch auf seite der höheren, jede öffentliche Emeute sonst verabscheuenden Klassen, war im Grunde genommen nicht zu verwundern. Das niedere Volk dachte vielleicht, abgesehen von dem Einflusse der übertriebenen Schreckgespenste, welche die Parteien ihm an die Wand malten, wesentlich an die freilich schweren materiellen Verluste für die Stadt. In den Herzen der Bessersituierten, der feinen Gebildeten wurden auch edlere, nicht minder berechtigte Gefühle verletzt durch die Verlegung der Hauptstadt. Turin war immer die getreue Wiege der savoyischen Dynastie; es war gewohnt, seine Geschicke als unzertrennlich von denen der Monarchie zu betrachten. In den letzten zehn Jahren, vor diesen Geschehnissen hatte es die besten Söhne Italiens bei sich aufgenommen; es war Zeuge der Kämpfe der Freiheit; es war gewohnt, die Handlungen und Worte, welche über die Geschicke der Nationen entschieden, in der Nähe zu sehen und zu hören. Die alte Aristokratie, wie die bürgerlichen und liberalen Klassen fühlten sich gleicherweise verletzt und die Männer vom Dolche hatten mit ihren Hetzereien wahrlich kein schweres Spiel. Daß man nicht sofort nach Rom ging, daß man nur ein Provisorium an die Stelle eines Provisoriums setzte, lieferte die ostensibelsten Gründe für diesen allgemeinen Widerstand, dem man sich um so williger hingab, je mehr man sich überreden konnte, nicht bloß von kleinlichen, materiellen Interessen dabei geleitet zu sein.

Und die Mahnung, welche der Stadtrat zur Aufrechterhaltung der bedrohten Ruhe erließ, war wahrlich eine sehr zweideutige Maßregel, die sich ganz so ausnahm, als bezwecke sie das Gegenteil von dem, was ihr Inhalt besagte. Dieses illustre Manifest begann mit den Worten:

»Der Gemeinderat ist tief durchdrungen von der höchsten Wichtigkeit des Vorschlages, dessen Veröffentlichung die Gemüter so schmerzlich ergriffen hat. Der Rat hat vollkommen begriffen, wie kostbar die Interessen sind, welche er zu schützen hat, wie heilig die Rechte, die er verteidigen soll …«

Nach solchen geradezu Öl ins Feuer gießenden Worten ermahnt das Manifest am Schlusse allerdings zur Ruhe und Geduld, was selbstverständlich auf den erregten »Mob« nicht den leisesten Eindruck machte.

In der Nähe des Palazzo Madama hielten die jungen Leute, die zu Carabinieris ausgebildet wurden, ihre Waffenübungen ab, und dies sollte die erste Veranlassung zum hellen Ausbruche der Unruhen werden. Als die Menge immer mehr und mehr anschwoll, erschien Gendarmerie und Truppen auf dem Platze. Beide Teile verhielten sich zunächst passiv, und es vergingen Stunden, bange und lange Stunden, während welcher es zu nichts anderem kam, als gelegentlichen Evvivas auf Garibaldi und Mazzini. Der Tag begann sich seinem Ende zuzuneigen, als plötzlich die Bewegung unter dem Volke lebhafter wurde. Die zukünftigen Carabinieri marschierten, als sei nichts vorgefallen, an ihrem gewöhnlichen Platze auf und begannen ihren militärischen »Drill«.

Es machten sich plötzlich eifrig redende Gestalten unter der Menge bemerkbar, welche dieselbe aufzustacheln schienen. Hier und da erscholl einmal ein lautes Gelächter, ein Fluch. Man fing an, die Truppen zu hänseln und die Übungen der zukünftigen Landesverteidiger zu bespötteln.

Da fiel plötzlich mitten aus der den Platz umdrängenden Volksmasse ein Steinwurf gegen die exerzierende Truppe. Fast gleichzeitig krachte von seiten der Carabinieris ein Schuß. Eine furchtbare, lautlose Pause von wenigen Sekunden folgte – dann erscholl ein wütendes Gebrüll aus der Mitte der Volksmenge – das Signal war gegeben, die Meute entfesselt, – die Massen drängten auf die Truppen zu, wehrlos, waffenlos wie sie waren.

Umsonst sprang ein herkulischer Sergeant, wohl auf Anordnung eines seiner Vorgesetzten, an einem Laternenpfahl empor und brüllte mit Stentorstimme über den Platz weg:

» Ferma, ferma! Ihr Leute! Bei der heiligen Jungfrau, es ist ein Versehen, – ein Stein hat an das Gewehrschloß einer Carabina getroffen!«

Es war zu spät! Kaum sahen die Truppen, welche an den Seiten des Platzes aufmarschiert waren, die drohenden Massen unter Heulen und Schreien auf sich zudrängen, als sie blindlings Feuer gaben. – Ein lautes Kreischen, Wimmern, beantwortet von einem Geheule der zu voller Macht entfesselten Wut. Tote und Verwundete lagen auf dem Platze. Die Salve der Soldaten hatte zwar zunächst die Volksmasse eingeschüchtert und zurückgedrängt, doch diese Lähmung war eben nur eine augenblickliche.

Die Toten und Verwundeten, worunter, wie meist in solchen Fällen, mehr Weiber und müßige Zuschauer, als wirkliche Lärmmacher waren, wurden vom Platze getragen, und die Menge fand einen Abzug durch die Poststraße. Dort befand sich auch das Redaktionsgebäude der Gazzetta di Torino, die mit warmen Worten sich für die Verlegung der Residenz von Turin ausgesprochen, und die Bevölkerung des »Italienischen Juwels« zu opferfreudiger Fügsamkeit in eine unabwendbare politische Notwendigkeit aufgefordert hatte. Bereits am Morgen desselben Tages, kurz nach dem allgemeinen Bekanntwerden der erschreckenden Neuigkeit und des anrüchigen Leitartikels hatten sehr drohende Demonstrationen vor dem Hause der Gazzetta, von Angehörigen des Turiner Plebs, – natürlich inspiriert durch Mazzinistischen Wein – stattgefunden.

Es war somit nicht zu verwundern, daß die Volksmasse, welche jetzt, von den Kugeln der Soldaten verscheucht, von der Piazza del Castello sich nach der Poststraße wälzte, bereits eine beträchtliche Menge lärmender, schreiender und drohender Menschen vor dem Hause der Gazzetta versammelt fand, welche das Herannahen ihrer Gesinnungsgenossen mit lauten Evvivas begrüßten.

Die vor dem Zeitungsgebäude stehenden Menschen hatten die Schüsse vom Platze her gehört. Es hatte das, da sie die genaue Ursache und Tragweite nicht kannten, nicht wenig dazu beigetragen, ihre Wut und Erregung zu erhöhen.

Diese beiden, einander sympathisch gesinnten Menschenwogen vereinigten sich rasch zu einer tosenden Brandung, welche mächtig brausend an das Gebäude heranstürmte, das von seinen Bewohnern, der verschlossenen Tür und den heruntergelassenen Jalousien nach zu urteilen, völlig verlassen zu sein schien.

» Abbasso la gazzetta di Torino! Evviva Torino la residenza!« – erscholl es in wildem Chor, und ein Hagel von Steinen prallte gegen die Holzverschlüsse der Fenster. » Dove Masati!? Heraus mit dem Schurken, dem Landesverräter!« »Wir wollen kein französisches Italien!« »Evviva Garibaldi! Evviva Mazzini!« – so heulte die wütende Menge durcheinander.

Mitten in dem furchtbaren Tumulte erhob sich plötzlich die donnernde Stimme eines Mannes, der Ruhe gebot. Anfangs war er nur den Näherstehenden verständlich, welche dicht an den zur Haustüre des Redaktionsgebäudes hinaufführenden Stufen standen, auf deren oberster sich der Sprecher postiert hatte. Es war der »Giudice« Simone Moretto, dessen Hoheit gebietende Gestalt weit über seine Umgebung hinausragte. Sein bleiches Gesicht sprach deutlich genug für die Erregung, in welche ihn diese ihm wohl selbst unerwartete Wendung der Dinge versetzt hatte. Seine angeborene Loyalität, sein vernünftiger Sinn und vor allem sein aufrichtiger und wahrer Patriotismus ließen ihn diese blutigen und des friedliebenden Turins so unwürdigen Vorgänge auf das Schmerzlichste empfinden. Er hielt es für seine heilige Pflicht, soweit die Macht seiner Stimme und seines Einflusses auf die wutentbrannte Menge reichte, dem entfesselten Strom der Empörung Einhalt zu tun, ehe noch mehr Unglück angerichtet, noch mehr Blut vergossen ward.

Die dicht bei ihm Stehenden prallten vor dem gebieterischen Ruhegebot zurück. Sie kannten und achteten den überaus populären Moretto als einen treuen Patrioten und waren bereit, ihm Gehör zu geben. Dennoch bedurfte es mehrere Minuten, ehe die donnernde Stimme des Giudice nachhaltigere Wirkung üben konnte. Mehrere Steine sausten dicht am Kopfe des mutigen Mannes vorbei und fielen polternd vor den Treppenstufen nieder. Diese, von Fernerstehenden geschleuderten Wurfgeschosse bewiesen, daß viele der aufgeregten Menschen, welche die Worte Morettos in dem Höllenlärm aus der Ferne nicht vernehmen konnten, den Mann dort, der so tollkühn seine Brust den entfesselten Massen darbot, für einen Verteidiger und Gesinnungsgenossen des verhaßten Redakteurs der Gazzetta hielten.

Moretto schwang ein weißes Tuch, dies typische Parlamentärzeichen, eifrig in der Luft, um sich Ruhe und Gehör zu verschaffen; doch erst, als sich mit Hilfe der Nächststehenden von Mund zu Mund der Ruf fortgepflanzt hatte: »Hört den Giudice! Hört den wackern Simone Moretto!« – gelang es, den Sturm einigermaßen zu beschwichtigen.

»Landsleute von Turin!« rief Moretto, nachdem der tobende Lärm zu einem lauten Gemurmel, das wie das Rollen der zu neuem Anprall von fern daher rauschenden Meeresbrandung klang, »Landsleute von Turin! Hört mich, ehe es zu spät ist, ehe das Blut unserer Brüder, unserer Weiber und harmlosen Kinder die Straßen unserer Stadt färbt und den Boden des schönen ›Juwels von Italien‹ entweiht! Geht nicht weiter, als ihr gegangen seid! Überlaßt es den, unsere Gesinnung teilenden Munizipalbehörden von Turin, unserem Könige, der, glaubt es mir, mit warmem Herzen an Piemont, der Wiege seiner Ahnen hängt, die nötigen Vorstellungen zu machen, um, wenn es irgend möglich ist, das drohende Mißgeschick von unserer Stadt abzuwenden. Ein unseliges Mißverständnis oder ein zufälliges, augenblicklich mir selbst und wohl allen Beteiligten unbegreifliches Ereignis hat auf der Piazza del Castello zu Blutvergießen geführt. Hoffen wir, daß die Folgen nicht so furchtbare sind, als es uns im ersten Augenblicke scheint. Doch wenn einer der Unglücklichen welche unter den Kugeln der Carabinieri gestürzt sind, wirklich seinen Geist aufgegeben hat, – nun, so muß der Gedanke an diesen einen schon euch zur Besinnung bringen, und euch daran erinnern, daß das Blut und Leben unserer Mitbürger, daß die Ehre unserer in aller Welt angesehenen Stadt uns mehr gelten muß, als die Befriedigung eines unklaren und ziellosen Gefühles persönlicher Rache und Wut. Mitbürger, ich verteidige den Mann nicht, dessen Haus ihr hier mit Steinen bewerft und nach dessen Leben ihr zu trachten scheint! Er hat sich und der patriotischen Sache wahrlich einen schlechten Dienst geleistet, wenn er uns mit begeisterten Worten einreden wollte, wir sollten uns über die unerwarteten Abmachungen der französischen Regierung mit der unserigen freuen, und stolz darauf sein, der Wohlfahrt des gesamten Italien ein Opfer bringen zu können. Ich weiß wohl, daß er nicht bewiesen hat und beweisen konnte, in wie fern ein solches Opfer wirklich unserem gesamten Vaterlande zum Nutzen gereichen würde – aber, fragt euch selbst, Mitbürger, soll im freien und geeinigten Italien ein Mann, der einfach seine Meinung ausspricht, wäre sie auch noch so irrig, darum an Leben und Eigentum geschädigt werden?! Und erreichen wir irgend etwas durch stürmische, blutige Demonstrationen? Oh, laßt den Fels nicht ins Rollen kommen, er wird uns alle in seinem Laufe zerschmettern. Bedenkt, daß, wenn die Fesseln der Ordnung einmal gebrochen sind, wenn es gilt, die Stadt vor völliger Entehrung zu schützen, unsere Brüder, ich sage unsere Brüder, die den Waffenrock des Königs von Italien tragen, gezwungen sind, gegen uns einzuschreiten. Die Kugeln, welche vorhin durch ein unheilvolles Zusammentreffen zufälliger Umstände wenige unserer Brüder verwundet, sie werden alsdann im Dienste der Ordnung und der Gerechtigkeit Tausende von Opfern fordern. Zwingt unsere wackeren Soldaten, die mit uns Kinder einer Mutter sind, nicht zu Taten, welche ihnen selbst das Herz bluten machen würden! Kehrt um, ehe es zu spät ist! Geht heim zu euren Weibern, zu euren Kindern, die jetzt um euch weinen und für euer Leben zittern, und deren Leben ihr selbst bedrohen würdet, gäbt ihr Anlaß zu weiterem Blutvergießen. Denkt an die Ehre unserer Stadt, denkt an die Gebote Gottes und vertrauet fest, daß unser König, der mit starker Hand Italien geeinigt, der unablässig das Ziel im Auge hat, auf die Zinnen von Rom das Banner mit dem savoyischen Kreuze zu pflanzen, nichts getan hat und nichts tun wird, was der Ehre unseres Vaterlandes widerstrebt. Die euch anders belehren – es sind Lügner und Aufwiegler, die es nicht ehrlich mit euch meinen. Zielt eure Steine nach meinem Haupte, wenn ihr wollt, wenn euch meine Worte mißfallen haben, wenn ihr meint, daß ich ein Heuchler und Feind unserer städtischen Interessen bin! Laßt an mir eure Wut aus, der ich hier wehrlos vor euch stehe! Ein treues, geliebtes Weib wird mich daheim beweinen, aber ihre Tränen werden leichter fließen, wenn sie gehört, daß ich als Opfer der Worte gefallen bin, die ich zu euch zu sprechen für meine heilige Pflicht hielt. Doch schenkt ihr meinen Worten Glauben, – nun, um so besser für uns alle, um so besser für ganz Turin und seine Zukunft. Und ich weiß es, ja bei der heiligen Jungfrau, ich weiß es, daß unter den Hunderten, die ich hier vor mir sehe, die allermeisten nur augenblicklich berauscht sind von einem begreiflichen Gefühle der Entrüstung und Wut, daß sie aber auch zugleich vernünftige Männer und brave, patriotische Turiner sind, die diese Wut niederkämpfen und mit mir diesen Ort verlassen werden, ehe es den wenigen Hetzern und Aufwieglern gelingt, die Flammen der Empörung zu dem Grade anzufachen, daß keine Rettung mehr möglich. Evviva Torino! Evviva il Re Galantuomo!«

Der Redner kannte zweifellos das Publikum, das er vor sich hatte, äußerst genau. Die mit dem Tone der Begeisterung gesprochenen und von dem Feuer der Überzeugung durchdrungenen Worte, die geschickt das Blumenreiche und Pathetische mit dem Klaren und Populär-Verständlichen vereinten, waren mit meisterhaftem Geschick gewählt, – doppelt bewundernswert bei der Dringlichkeit der Situation, – und schienen denn auch den erhofften Eindruck keineswegs verfehlt zu haben.

Es war in der Tat immer stiller während der Rede Simone Morettos in diesem brausenden Meere von Menschen geworden, und selbst das Pfeifen und Schreien, mit welchem hier und da mißvergnügte Charaktere von sehr zweifelhaftem Äußeren, die ihre mazzinistische Lektion trefflich inne zu haben schienen, die Auslassungen des Redners zu unterbrechen oder mindestens radikal zu kritisieren trachteten, mußten oft vor den derben Püffen loyalerer Bursche, welche auf die Ruhestörer niederregneten, verstummen. Die Wirkung am Schlusse der Rede war geradezu als eine magische zu bezeichnen.

Ein donnernder Jubel aus Hunderten von Kehlen war die Antwort. Ein Evviva jagte das andere; die Nächststehenden stürmten auf Simore Moretto ein, um, entsprechend dem beweglichen und zu raschen Übergängen stets geneigten italienischen Volkscharakter, demselben handgreifliche Ovationen darzubringen. Die äußersten Ränder dieses Menschenmeeres begannen bereits Lücken zu bekommen, durch welche kleinere Menschenströme sich nach den Nebengassen und der nahen Piazza del Castello Bahn zu machen anschickten, – kurz, die gute Sache war offenbar gerettet.

Offenbar!

Wie auf dem Schloßplatz ein einziger Schuß als Signal für eine Salve angesehen ward, der mindestens ein Dutzend Menschen zum Opfer fielen, so sollte hier das Hurragebrüll und das tosende Beifallsgeschrei, welches der feurigen Rede unseres mutigen »Giudice« folgte, Veranlassung zu einem fürchterlichen Blutbade werden.

Noch erschütterten die Evvivas der Menschenmenge die Luft, als – von beiden Seiten der Straße Trommelwirbel und die taktmäßigen Schritte herannahender Truppen ertönten. Je ein Bataillon Soldaten rückte auf die Menschenmenge zu, dieselbe also in die Mitte nehmend und den zur Auflösung nahezu bereiten Riesenknäuel wieder fest zusammenballend.

Die Schreier waren beim Herannahen des Militärs alsbald wieder obenauf, und das begeisterte »Evviva«, welches die Rede unseres Freundes Moretto krönte, lief in eine langgezogene Dissonanz aus, welche auf die Ohren der heranziehenden Vaterlandsverteidiger die Wirkung hatte, wie etwa das Geheul einer Horde wilder Cheyennen auf eine Freiwilligenschar von hinterwäldlerischen Farmern. Die Hähne knackten, und die wirbelnden Trommeln spielten die Ouvertüre zu der blutigen Tragödie.

»Da seht die Liebe unseres Re Galantuomo!« brüllte ein stämmiger Geselle. »Mit Pulver und Blei wird er uns liebkosen, wenn wir ihm seinen Willen nicht tun!«

Ein gellendes Gelächter der Wut und des Hohnes aus Hunderten von weinerhitzten Kehlen. Die neugierigen Zuschauer, die wohl oder übel in dieser lebendigen Mauer verharren mußten (darunter so manche Weiber und halbwüchsige Burschen), erhoben ein ängstliches Geschrei. Doch wer dachte ihrer in der Aufregung des Augenblicks?! Mitgefangen, mitgehangen! – – Prasselnd schlugen die Pflastersteine gegen die Musketen der Soldaten. Einen Moment schwiegen die Trommeln. Der kommandierende Offizier des einen Bataillons, der zu Pferde war, schien sprechen zu wollen, doch seine Stimme verhallte machtlos in dem wilden Getöse. Erscholl das Kommando: »Feuer!«? – Erwiesen ist es nicht, ebenso wenig wie das Gegenteil. Die furchtbare Wahrheit ist nur die, daß eine donnernde Salve von der einen Seite ertönte, daß ein Hagel von Kugeln über die Menschenmenge dahin sauste, und das Schmerzgeheul der Verwundeten mit dem Angstgeschrei der zu Tode erschrockenen Weiber und harmlosen Zuschauer sich grauenvoll mischte.

»Gebt Feuer! – Ach, wie schießt ihr schlecht!«

Einer der ersten, der zum Tode getroffen fiel, war – der Kommandant der den Feuernden gegenüberstehenden Truppe. Als er vom Pferde sank, erscholl aus den Reihen seiner Soldaten ein Schrei der Entrüstung. Die Wut brach die Order der militärischen Disziplin, und die Mannschaft gab Feuer. Blutend sanken unter dem Volkshaufen sowohl, wie unter dem gegenüberstehenden Militär viele zu Boden. Die Verwirrung war eine furchtbare, – nicht wenig unterstützt durch den Umstand, daß die, welche die gestörte Ordnung und Ruhe wieder herstellen sollten, durch die tragikomische Wendung der Sache, derzufolge sie gegenseitig aufeinander geschossen hatten, teils zur hellen Wut gereizt wurden, teils selbst – inklusive ihrer Führer – völlig den Kopf verloren.

Freilich hatte diese blutige Feuertaufe die Wut der Revoltierenden mit einem Schlage abgekühlt. Eine schreckensvolle Ernüchterung griff Platz, und mit bleichen Gesichtern stürzten Hunderte den Straßenausgängen zu, um aus der gefahrbringenden Nähe der Musketen zu kommen, während andere angstvoll auf der sich leerenden Straße umherirrten, Namen von Freunden, Verwandten oder Bekannten rufend, oder sich hier und da zu einer am Boden liegenden Gestalt niederbeugend, um sich zu vergewissern, ob das bleiche Gesicht oder die klagende Stimme des Offiziers dem Vermißten angehörte, den sie suchten. Binnen kurzem lag in einer in der Nähe der Poststraße befindlichen Halle eine lange Reihe von Leichen, deren todesstarre Gesichter grauenhafte Zeugen der Schande waren, welche das Juwel Italiens an jenem Tage auf seinen Namen gehäuft, und die unheimlich-schwüle Ruhe, welche nach diesem Exzeß über der Stadt lagerte, ward nur unterbrochen von einer beträchtlichen Zahl langsam dahinrollender Wagen, welche schwer und leicht verletzte Menschen aller Stände ihren Behausungen oder Hospitälern zuführten.

Droben aber im Palazzo Reale, im zweiten Stockwerke am Fenster eines kleinen Gemaches, welches die Piazza del Castello beherrschte, stand der Treueste der Piemontesen und blickte hinab in das Menschengewühl, mit einem Ausdrucke von Trübsinn und Verzweiflung, welcher in diesen derben, lebenslustigen Zügen nicht oft in diesem Maße beobachtet werden konnte.

Dachte er wohl an seinen erlauchten Vater, jenen Märtyrer der italienischen Revolution und Unabhängigkeit, an Karl Albert, dem das Schicksal alle günstigen Momente und alle persönlichen Eigenschaften verliehen hatte, um die Einheit Italiens an den Thron des Hauses Savoyen zu befestigen, dem aber eines versagt worden war, eines, dessen Mangel ihm den kläglichen Sturz, der im Jahre 1849 die ganze italienische Sache unberechenbar mit niederriß, bereitete: eine starke, charaktervolle Festigkeit, die den Schwankungen des Augenblicks widersteht und, ohne Rücksicht auf alle Schwierigkeiten, zur rechten Zeit zu handeln und zuzugreifen weiß!?

Wohl mochte sich Victor Emanuel einen Augenblick fragen, ob hier das Ausharren bei dem als gut und recht erkannten nicht gleichbedeutend sei mit einem absoluten Aufopfern aller Wohlfahrt und alles Glückes seines geliebten Piemont für die Idee der italienischen Einheit – von Napoleons Gnaden. Wer hatte einen zuverlässigen Schlüssel zu Napoleons Ideen, Napoleons Politik, Napoleons Zukunftsplänen!?

Eben trat Paolini ein. Es war draußen die Weisung gegeben worden, den alten Vertrauten des Königs ohne Anmeldung sofort vorzulassen. Das Gesicht des Inspektors war ein Reflexbild von dem seines Gebieters zu nennen.

»Also so weit mußte es kommen?«

Mit diesen Worten empfing der König seinen Vertrauten.

Paolini zog die buschigen Brauen in die Höhe und zuckte mit den Achseln.

»Ew. Majestät wollen sich an das erinnern, was ich an dem Morgen des heutigen Tages Ihnen vorzustellen mir erlaubte!«

Der König nickte nur leicht mit dem Kopfe und sagte:

»Und doch – konnte es nicht anders sein! Wie steht's mit dem Munizipalrat?« fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Ich konnte aus direkter Quelle nichts erfahren, Sire,« antwortete Paolini. »Der Tumult und das Gedränge in den Straßen zwischen der Piazza del Castello und dem Stadthause ist ein solches, daß mir der Weg vom Hotel Europa bis dahin geraume Zeit abgeschnitten war. Doch hörte ich die Quintessenz, Majestät.«

»Zuverlässig?« fragte der König kurz.

»Vollständig, Majestät. Der Mann, den ich sprach, hat selbst vor Signor Rora als Deputierter des Volkes das Wort geführt.«

»Wahrscheinlich eine Kreatur von einem der beiden Giuseppes!« warf der König mit ironischem Lächeln ein.

»Oh, keineswegs, Majestät!« entgegnete Paolini. »Sie können sich einen getreuen und energischeren Anhänger an das savoyische Königshaus und den Gedanken der italienischen Einheit nicht wünschen, als diesen Mann, Simone Moretto ist sein Name, obwohl er selbst geborener Neapolitaner ist und daselbst auch bis vor nicht zu langer Zeit eine Richterstelle bekleidete. Hätte er mit seiner glänzenden Beredsamkeit durchdringen können, so wäre wohl alles in der Bahn der Ordnung geblieben.«

»Ist der Mann in jeder Beziehung zu gebrauchen?« fragte der König.

Paolini blickte mit einem fragenden Ausdrucke in das Gesicht Victor Emanuels, in welchem sich deutlich sein Erstaunen über die Worte des Königs ausprägte.

» Cospetto!« rief der König mit einem Anfluge seines gewohnten Humors. »Ich glaube wahrhaftig, alter Hasenfuß, daß du für deinen Einfluß im Palazzo Reale fürchtest. Denkst wohl, ich will dir einen Nebenbuhler kreieren. Einen Leporello Nummer Zwei? – Doch, Scherz beiseite; ich frage nur, weil ich mich für den Mann interessiere. Wenn du, Paolini, deinen Mund auftust, um einen Mann zu loben, so hast du ihm sicherlich erst gründlich auf den Zahn gefühlt und wahrscheinlich sein ganzes Leben von der Stunde seiner Geburt an ausspioniert. – Doch davon später. Suche den Mann auf, sobald als möglich, und stelle ihn mir alsdann vor. Hörst du, Paolini? Und nun zurück zu unserem Thema. Welche Nachricht vom Podesta?«

»Keine erfreuliche, Sire,« erwiderte der Gefragte, eine charakteristische Grimasse schneidend. »Ich sehe, daß Signore Menabrea Ihnen noch nicht berichtet hat!«

»Der Minister wird wahrscheinlich in ähnlicher Lage gewesen sein, wie du, Paolini.«

»Das nicht, Majestät. Um es kurz zu machen: Trotzdem Signore Menabrea dem Munizipalrat in ausführlicher Rede vorgehalten hat, daß, ungeachtet des Festhaltens Ew. Majestät an Turin, Se. Majestät der Kaiser Napoleon keine andere ihm angebotene Bürgschaft angenommen habe, als die Verlegung, trotzdem der Minister auseinandergesetzt, daß die Räumung Roms eine Lebensfrage für ganz Italien sei, und das lokale Interesse dagegen zurücktreten müsse, – trotzdem hat der Munizipalrat, ganz besonders auf Anregung des Podesta, sowie auch des Grafen Ponza, sich fast einstimmig gegen die Verlegung erklärt. Man kann in der Tat sagen: fast einstimmig, denn der Sohn des Signore Balbo war der einzige, der sich dafür aussprach. Der Munizipalrat hat sich darauf in Permanenz erklärt, und Ew. Majestät werden wohl morgen beizeiten die Bitte um eine Audienz für eine Deputation desselben erhalten.«

Der König stampfte mit dem Fuße auf, und ein zorniger Blitz leuchtete in seinen Augen auf.

»Und doch wird das nichts nutzen! Gar nichts! Die Sache bleibt, wie sie ist, und Turins Lob und Preis würde heute in aller Munde sein, wenn es sich getrost und mit Würde in das Unvermeidliche gefügt hätte. – – Paolini,« fügte er mit milderer Stimme hinzu, dem Inspektor einige Schritte näher tretend, »ich bin vor allem König von Italien, – nicht mehr König von Sardinien. Was es auch meinem Herzen kosten möge, die Stadt meiner Ahnen zu verlassen, ich bin entschlossen, meine Pflicht bis aufs äußerste zu erfüllen. Ich habe mir vorgenommen, Italien bis zum Kapitol zu führen. Im Kapitol werde ich der Krone entsagen und nach meinem lieben Turin zurückkehren, um dort als Privatmann meine Tage zu beschließen!« Diese Worte hat Victor Emanuel an jenem stürmischen Tage in Turin tatsächlich ausgesprochen!

So waren denn seine Gedanken wirklich zu Carlo Alberto zurückgeschweift, welcher auf dem Schlachtfelde von Novara, nachdem der blutige Krieg sich ohne Sieg und Ehre über seinem Haupte zu Ende geneigt hatte, die Krone in die Hände seines Sohnes legte!

Paolini, der, hinter einem etwas rauhen und derben Äußern eine nicht unbeträchtliche Portion Gefühl verbarg, neigte sich bei diesen Worten des Königs sichtlich ergriffen auf die Hand desselben nieder, um sie zu küssen.

»Denken Sie nicht daran, Sire,« sagte er. »Was auch Hitzköpfe heute in der Erregung des Augenblickes getan und gesprochen haben – Turin wird zur Besinnung kommen, und seine grenzenlose Verehrung, sein stets warmes Vertrauen zu dem savoyischen Herrscherhause nicht verleugnen. Das Volk ist getäuscht und mißleitet worden. Ew. Majestät werden durch die Berichte der Polizei gehört haben, welche Behauptungen durch die Mazzinistischen Agenten in die Welt geschleudert worden sind!«

Der König nickte mit dem Kopfe.

»Törichte Leichtgläubigkeit,« sagte er nach einer kurzen Pause. »Man bedenkt nicht die Dringlichkeit der Umstände. Entweder wir retten Italien, oder gehen alle zugrunde. Die Geschicke der Nationen sind durch ein unlösbares Band untereinander verbunden. Kurzsichtige Menschen müssen's wahrlich sein, die da ernstlich glauben können, ich habe Italien getäuscht. Wenn ich den Vertrag unterzeichnet habe, so tat ich es in der festen und unwandelbaren Überzeugung, daß es dem Lande Gewinn bringe und die Erfüllung unserer Wünsche beschleunige. Ich selbst habe mich vor keinem Opfer gescheut, – so möge auch das Land besonnen sein und mir vertrauen. – Hierbei fällt mir deine Mission im Hotel Europa ein, Paolini. Hast du den Franzosen angetroffen und meinen Auftrag in der angegebenen Weise ausgerichtet?«

Ein sonderbares Lächeln zuckte bei dieser Frage über das Gesicht des königlichen Faktotums.

»Allerdings, Sire,« sagte er, noch immer lächelnd. »Nach einigen Schwierigkeiten habe ich die rote Nelke gefunden, und mich meiner Aufgabe in der von Ew. Majestät angegebenen Weise entledigt. Corpo di Cristo, Sire, ich glaube, wenn man mit einem guten Polizeiknüppel in diesem Hotel Europa herumstöbert, fliegen so viel rote Nelken auf, wie Wespen aus einem Wespenneste!«

So ernst der Augenblick war, konnte sich doch Victor Emanuel bei diesen Worten Paolinis eines lauten Gelächters nicht enthalten. Lachend drohte er mit dem Finger und rief:

»Also doch spioniert! Daß doch die Katze das Mausen nicht lassen kann. Hast du etwa von deinem Knüppel Gebrauch gemacht?«

»Nun – das gerade nicht, Sire. Aber ich konnte doch nicht geradezu meine Augen geschlossen halten.«

»Was hast du denn gesehen oder herausspioniert, Erzschnüffler?«

»Sire,« sagte Paolini nach einigem Zögern, »der Zufall spielt manchesmal wunderbar, und man hat doch seine Portion wohlgemeinte Neugierde –«

»Nun, so sprich doch, – cospetto, so sprich doch!« rief der König, durch das geheimnisvolle Gebahren seines Vertrauten offenbar belustigt.

»Es war etwas spät,« erzählte Paolini nach einigem Räuspern, »als ich in dem Hotel anlangte. Der Sturm in der Stadt war, wie Ew. Majestät gesehen haben, schneller zum Ausbruch gelangt, als wir alle vorausgesetzt hatten, und ich konnte einigen notwendigen Konferenzen mit dem Polizeichef, im Interesse Ew. Majestät, nicht entgehen. Als ich in das Hotel kam, fand ich zunächst die gesuchte Person trotz angestrengten und dabei doch vorsichtigen Umherspähens nicht. Jedenfalls war die Sache selbst den Herren Mazzinisten über Vermuten schnell gegangen, und sie hatten an andern Orten irgendwelche Aufgaben zu erledigen. Jedenfalls mußte ich mir die Zeit mit Gähnen hinter einer Flasche Wein im Speisesaal vertreiben, als ich plötzlich an dem auf den Hof hinausgehenden Fenster das Gesicht eines jungen Mädchens erblickte. Es war ein reizendes Gesicht, Sire, und das war an sich schon Grund genug, daß ich mir die Kleine genauer ansah.«

»Kann ich mir lebhaft vorstellen!« warf der König mit kurzem Auflachen ein.

Paolini verbeugte sich mit seinem gewöhnlichen ruhigen Lächeln und fuhr fort:

»Doch mir fiel noch mehr, als das hübsche Gesicht des Mädchens, der ängstlich forschende Blick auf, mit welchem sie den Raum, in dem ich Platz genommen, durchmaß. Es war mir sofort offenbar, daß sie jemanden suchte und doch sich scheute, auf dem üblichen Wege in das Lokal einzutreten. Man muß in meinem Berufe bei diesen stürmischen Zeiten stets gehörig auf dem qui vive sein, und so hielt ich es denn unter den obwaltenden Umständen für angemessen, das Mädchen über das Zeitungsblatt weg, das ich in der Hand hielt, zu beobachten, ohne sie dies merken zu lassen. Meine Vorsicht stellte sich bald als unnötig heraus, denn ich bemerkte, daß sie mich offenbar nicht gesehen. Ihr ängstliches und sichtlich erregtes Wesen erhöhte meine begreifliche Wißbegierde –«

» Ferma, ferma, Paolini,« unterbrach ihn lächelnd der König. »Nennen wir das Ding beim rechten Namen und sagen wir: Neugierde!«

»Neugierde also, nach Ew. Majestät Belieben,« fuhr Paolini, ohne sich irre machen zu lassen, fort. »Und diese Neugierde veranlaßte mich, aktiv vorzugehen, damit die Kleine mir in ihrer Unschlüssigkeit und Zaghaftigkeit nicht entwischte, und mich so der Kenntnis eines vielleicht wichtigen Geheimnisses beraubte. Ich ging schnell entschlossen, unter Anwendung der nötigen Vorsicht, die eine Wand des Raumes entlang, und stand plötzlich dicht vor dem Fenster, letzteres rasch öffnend. Ebenso flink hatte ich den Arm des jungen Mädchens erfaßt. Sie war sichtlich erschrocken und sah mich mit solcher Verwirrung an, als sei sie auf einem Diebstahl ertappt worden.

»›Was gibt's zu lauschen, meine Schöne?‹ fragte ich in mehr scherzhaftem als forschendem Tone. ›Suchst du deinen amante hier?‹

»Eine flüchtige Röte flog über das reizende Gesicht des Mädchens, indem sie mit dem Kopfe schüttelte. Ich bemerkte zugleich, daß sie etwas in der Hand hielt, ein briefähnliches Paket, und –«

»Und du warst natürlich sofort entschlossen, dich in den Besitz des Briefes zu setzen,« unterbrach ihn der König. » Eh via, Paolini, ich muß an deinem noblen Charakter zweifeln. Das Mädchen konnte dich weiter nicht interessieren, und es war daher keineswegs kavaliermäßig, daß du sogleich suchtest, in den Besitz ihrer kleinen Geheimnisse zu gelangen!«

»Halten zu Gnaden, Sire,« wandte der Gescholtene ein. »Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, daß in einer Stadt, wo so viel Geheimniskrämerei in der Politik getrieben wird, wie hier in Turin, junge Mädchen oft Trägerinnen von ganz anderen Geheimnissen sind, als solchen, mit denen Amor und Venus etwas zu tun haben. Der vorliegende Fall ist sehr geeignet, diese Wahrnehmung im vollsten Umfange zu bestätigen.«

» Sapristi,« sagte der König, seinen mächtigen Schnurrbart streichend. »Da bin ich doch wirklich neugierig, was du Schlaukopf wieder ausfindig gemacht hast, so wenig Zeit und Lust ich eigentlich an einem solchen Tage, wie dem heutigen, habe, mir aus der chronique scandaleuse erzählen zu lassen!«

»Vergebung, Sire,« entgegnete Paolini – »ich weiche von dem Thema, welches der heutige, unvergeßliche Tag uns nahe legt, kaum ab. Um kurz zu sein ich hatte sehr bald aus meiner allerliebsten Turinerin so viel herausgefunden, daß der Brief an einen gewissen Heribert Hilgard gerichtet sei, und daß sie bei der Abgabe desselben die größte Vorsicht zu beobachten habe. Ich verstand es wohl, dem Mädchen Vertrauen einzuflößen, indem ich ihr vorhielt, wie unvorsichtig es sei, sich allein auf die bedenklich unruhigen Straßen zu wagen, und ich merkte dabei aus ihrem Gebahren und ihren Worten, daß es ihr darum zu tun war, sich ihres Auftrages möglichst rasch zu entledigen, weil sie offenbar noch einen andern ihr, wie es schien, besonders am Herzen liegenden Gang vor hatte. Ich weiß nicht, welcher Genius mir es eingab, auf den Strauch zu schlagen. Ich redete mir unwillkürlich ein, jener Heribert Hilgard könne irgendwie mit dem Franzosen in Verbindung stehen, und vielleicht ebenfalls ein gewisses Interesse für rote Nelken haben. Kurz und gut, ich raunte dem hübschen Kinde den Namen Giuseppe Mazzinis ins Ohr. Das wirkte prächtig! Es unterlag keinem Zweifel mehr, daß der Kleinen der Inhalt des Briefes bekannt sei, denn sie wurde sofort vertraulicher, und in ihrer Hast, ihre Mission zu erfüllen, legte sie das Paketchen in meine Hände, mit der dringenden Bitte, es an seine Adresse gelangen zu lassen, doch dem Adressaten unter keiner Bedingung zu verraten, wie ich zu demselben gekommen sei. Daß mir dieser Hilgard bekannt sei, daran schien sie nicht einen Moment zu zweifeln, ein Umstand, welchen ich dem als Talisman wirkenden Namen Mazzini zu verdanken hatte. Nur in einem Punkte konnte ich nichts durchsetzen, – nämlich bezüglich ihrer eigenen Person. Sie weigerte sich standhaft, ihren Namen und ihre sonstigen Personalien zu nennen, und da bei mir das Interesse für den Brief dasjenige für diese niedliche, kleine Person – für den Augenblick wenigstens – bei weitem überwog, so wollte ich das Mädchen nicht mißtrauisch machen und ließ sie entschlüpfen, was sie denn auch mit der Scheu und Schnelligkeit einer Gazelle tat. Sire – es hat mir nachher fast leid getan, daß ich dem Mädchen nicht näher auf den Zahn gefühlt habe.«

»War denn der Inhalt des Briefes ein so überaus wichtiger?« fragte der König gespannt.

»Das nun eben eigentlich nicht,« entgegnete Paolini etwas gedehnt. »Nach einiger Überlegung erschien mir das Mädchen wichtiger, wie der Brief.«

» Per Bacco, Paolini,« polterte der König, »ich wünschte wohl, du könntest dir abgewöhnen, in Mysterien zu reden! Hast du dich in das Mädel vergafft?«

»Vergafft? – In gewissem Sinne ja, Sire. Mich hatte ihr Gesicht, wie ich Ew. Majestät von Anfang an gesagt habe, in wunderbarer Weise frappiert, nicht allein durch seine außergewöhnliche Schönheit. Warum es mich so sehr frappiert hatte, das wußte ich erst, – nachdem das Mädchen meinen Blicken entschwunden war!«

»Hm, – eine Ähnlichkeit vermutlich,« warf der König gleichgültig hin.

»Allerdings, Sire, – eine Ähnlichkeit, die mich in das größte Erstaunen versetzte und mir sehr viel zu denken gab.«

In den Worten des Inspektors an sich lag keines Wegs etwas besonders Auffälliges. Um so mehr aber in dem Tone, mit welchem er diese Worte sprach, und in den forschenden Blicken, mit welchen er seinen königlichen Gebieter fixierte. Dem letzteren entging dies nicht, und auch er wurde immer aufmerksamer auf die Auseinandersetzungen Paolinis,

»Ich sehe, daß du etwas auf dem Herzen hast,« sagte er, nachdem auch er seinerseits Paolini prüfend angesehen hatte. »Das muß herunter. Ich will es hören. Doch laß uns nach der Reihe vorgehen. Erst den Brief. Wie steht's mit dem? Du hast ihn doch nicht konfisziert?«

»Oh, durchaus nicht, Majestät! Das hätte nicht einmal einen greifbaren Zweck gehabt!«

»Also du hast ihn abgegeben; und wie? Erzähle kurz!«

»Nachdem ich den Inhalt gelesen –«

»Halt, Paolini!« unterbrach ihn der König. »Hast du ein Siegel erbrechen müssen, um den Brief zu lesen?«

Eine leichte Wolke des Unmuts zeigte sich bei dieser Frage auf der hochgewölbten Stirn des Königs. Der Re galantuomo, so große Stücke er auch auf die wichtigsten Dienste hielt, welche sein Privat-Detektiv ihm zu leisten pflegte, und, vermöge seiner seltenen Schlauheit, zu leisten imstande war, – war von jeher, seinem geraden und offenen Naturell entsprechend, ein abgesagter Feind allzu krummer Wege. Namentlich war ihm eine Verletzung des Briefgeheimnisses unendlich zuwider, und wenn sich derartige Schritte einmal nötig machten, was bei dem Intrigengewebe, welches das Hofleben eines so – lebenslustig veranlagten Königs umspinnt, nicht allzu selten vorkam, dann pflegte Victor Emanuel seinem Vertrauten gegenüber stets einen beträchtlichen Grad von übler Laune herauszukehren. Mindestens machte er solchen Sachen gegenüber gern die Augen zu. Daher erklärt sich ebensowohl diese Frage, welche der König soeben an Paolini gestellt, wie auch die finstere Miene, welche er dabei aufsteckte, welch letztere aber, nebenbei bemerkt, den wackern Spürhund keineswegs aus der Contenance zu bringen schien.

Die Antwort, welche er dem Könige gab, war geeignet, denselben über diesen Punkt einigermaßen zu beruhigen.

»Es waren zwei Schreiben, Majestät,« sagte er. »Das eine, mit der deutschen Aufschrift: ›An Heribert Hilgard!‹, war einfach zusammengefaltet. Das andere, auf welches in dem Begleitschreiben hingewiesen war, war versiegelt. Ersteres zu lesen, hielt ich für meine Pflicht, Majestät. Letzteres enthielt das Bekenntnis einer Sterbenden, und konnte überdies, nach Kenntnisnahme des Begleitschreibens, für mich nur von ganz nebensächlichem Interesse sein. Ich ließ es daher ungelesen!«

»Recht so, Paolini,« entgegnete der König. »Auch der Polizeimann muß sich zu beherrschen wissen. Doch du hast mich neugierig gemacht; fahre fort!«

Der Leser wird unschwer erraten, um welche Schreiben es sich handelte, und wer die schöne Botin war, welche in so hervorragendem Maße das Interesse Paolinis erregt hatte. Es war der Brief und das Testament der sterbenden Marianna, welche Violetta, die Nichte des Wirtes von der »Diebischen Elster«, nach bestem Wissen und Können an seine Adresse hatte gelangen lassen wollen.

Es ist somit, da dem Leser ja der Inhalt jener Zeilen, welche die Sterbende ihrer in letzter Stunde gewonnenen Freundin in die Feder diktiert hatte, wohlbekannt ist, auch unnötig, den Bericht zu wiederholen. Paolini gab eben in kurzen Zügen den Inhalt des Schreibens wieder, welcher den König aufs tiefste ergriff.

»Unglückliches Wesen!« murmelte er. »Welch grausames Schicksal mag sie in die Hände der Jesuiten getrieben haben.«

»Eine der vielen politischen Sirenen, Sire,« erwiderte der Inspektor. »Es zeigt aufs neue, wie vorsichtig man heutzutage den Weibern gegenüber sein muß. Mit dem mulier taceat in ecclesia ist's längst zu Ende!«

Den König schien diese Anspielung etwas unangenehm zu berühren. Er zupfte nervös an seinem Schnurrbarte und rief, offenbar etwas ungeduldig und ungeneigt, die Reflexionen seines Vertrauten mit anzuhören:

»Weiter, Paolini, weiter!«

»Nun, Sire,« fuhr dieser in seiner Erzählung fort, »ich fand also meine Ansicht bestätigt, daß wir ein ganz grandioses Nest von Mazzinisten in unserem Turin beherbergen, und, was wichtiger war, ich hatte einen Hauptschlupfwinkel derselben kennen gelernt, zu welchen das Hotel Europa, wie ich schon anfangs zu bemerken mit erlaubte, offenbar auch gehört. Einen Augenblick kämpfte ich tatsächlich mit mir, ob ich nicht das Schreiben konfiszieren und somit diese Warnung den Herren entgehen lassen sollte. Es wäre für die Suppe die sie heute eingebrockt, eine sehr gerechte Strafe gewesen. Aber – die Art und Weise der Mitteilung und das begleitende Testament hielten mich davon ab. Ich legte das kleine Paket so auf den in der Nähe des Einganges stehenden Tisch, daß es unwillkürlich jedem Eintretenden in die Augen fallen mußte, zugleich aber auch so, daß ich es im Auge behalten und verhindern konnte, daß es in unrechte Hände käme.«

»Und erschien denn der Erwartete bald darauf?«

»Sehr bald darauf, Sire, trat ein Herr, dem ich den Typus der französischen Nationalität mit derselben Sicherheit ansehen konnte, wie ich die rote Nelke sah, welche er im Knopfloche trug, ein. Ganz, wie ich erwartet, fiel sein Blick unwillkürlich auf den Brief, den er mit gleichgültiger Miene in die Hand nahm. Ich tat natürlich nicht, als ob ich ihn dabei beobachtete. Doch kaum hatte der Franzose die Aufschrift gelesen, als sich der Ausdruck seines Gesichtes blitzschnell veränderte. Er blickte überrascht zu mir hin. Ich hatte mich erhoben und fixierte die Blume in seinem Knopfloch, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Darauf ging ich einige Schritte nach vorn, wie in der Absicht, das Zimmer zu verlassen, – und zwar, ich darf wohl behaupten, mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, – während ich bei ihm vorbeiging, halblaut das Wort ›Venetien‹ aussprechend. Mein Ziel war hiermit vollkommen erreicht, ich wußte sofort, daß ich den richtigen vor mir hatte, konnte den Auftrag Ew. Majestät ausführen und hatte überdies die Vermutung bestätigt, nicht nur, daß jener Signore Hilgard ein Mazzinist sei, sondern auch, daß dieses Hotel Europa in Tat und Wahrheit noch mehr von dieser Sorte enthalte.«

»Und woraus konntest du gerade auf letzteres schließen?« fragte der König.

»Aus dem Benehmen des Mannes mit der Nelke, Sire,« erwiderte Paolini. »Nachdem wir unsere Konversation begonnen, zeigte er bereits auffällige Zeichen von Unruhe, und teilte seine Aufmerksamkeit in nervöser Weise zwischen mir und dem an Signore Hilgard adressierten Schreiben, das er in der Hand hielt. Nach wenigen Minuten unterbrach er unser Interview in der abruptesten Weise mit den Worten:

»›Sie wollen mich entschuldigen Signor – dieser Brief – ich kenne zufällig den Adressaten genau – steht derselbe vielleicht in irgendeinem Zusammenhange mit –‹

»›Mit mir?‹ unterbrach ich ihn mit möglichst harmloser Miene. ›Ich muß Ihnen gestehen, daß ich keine Ahnung habe, wie Sie in den Besitz dieses Briefes gelangt sind, geschweige denn, daß ich etwas von dem Inhalte desselben wüßte.‹

»›So sind Sie nicht der Absender oder der Vermittler dieses Briefes?‹ fragte er, anscheinend noch immer etwas zweifelnd.

»›Ich versichere Sie, nein!‹ erwiderte ich mit der größten Seelenruhe.

»›Nun dann gestatten Sie, daß ich einen Augenblick unsere Unterredung unterbreche. Ich kenne, wie gesagt, den Adressaten, und habe gewichtige Gründe, anzunehmen, daß der Inhalt des Briefes für denselben wichtig ist. Entschuldigen Sie mich auf wenige Momente.‹

»Mit diesen Worten verschwand der Mann sehr eilig, und ich – wußte genug. Die hastig flüsternden Stimmen, die ich alsbald auf dem oberen Treppenflur hörte, das rasche Treppablaufen mehrerer Personen, das sichtlich eine Portion Unruhe verratende Gesicht meines Franzosen, als derselbe nach Verlauf von etwa einer Viertelstunde wieder eintrat – alles das bewies mir, daß der Brief auf verschiedentliche Bewohner des Hotel Europa etwa den Eindruck gemacht hatte, wie ein wohlgezielter Stockhieb in ein Wespennest. Ich hätte wohl von meiner Wissenschaft trefflichen Gebrauch machen können, indessen –«

»Indessen du erinnertest dich dessen, was ich dir gesagt habe, Paolini,« unterbrach ihn der König, halb ernst, halb scherzend mit dem Finger drohend. »Und ich verlange, daß du dich in dieser Angelegenheit permanent daran erinnerst, so bald und so oft dich auch wieder deine Polizeiseele in Versuchung führen sollte. Hast du mich verstanden?«

»Vollkommen, Sire. Die Versuchung wird mir wohl übrigens fern bleiben, da mein Interesse weit mehr von dem Mädchen in Anspruch genommen ist, aus Gründen, welche – doch ich will Ew. Majestät erst Bericht über mein Interview erstatten, damit –«

Der König unterbrach ihn hier mit einer raschen Handbewegung.

»Nichts da, Paolini!« rief er. »Von dieser Unterredung will ich nichts wissen. Ich bin überzeugt, daß du dem Franzosen das gesagt hast, was ich dir aufgetragen habe, und das genügt mir vollständig. Im übrigen wünsche ich diese Sache als abgetan anzusehen, je weniger ich davon höre, um so lieber ist es mir. Das Mädchen, Paolini, das Mädchen! Du hältst da etwas hinter dem Berge, was ich wissen will. Also sprich, birbante, frisch von der Leber weg!«

Paolini schien sich einen Augenblick zu besinnen.

»Erinnern sich Sire,« sagte er endlich nach einer Pause, während welcher er bald auf seine Stiefelspitzen, bald zum Fenster hinaus geblickt hatte, »erinnern sich Sire der amerikanischen Sängerin oder richtiger ›Chansonette‹, wie man in Paris diese Kunstjüngerinnen nennt, Miß Lucy Brandon?«

Der König hatte sich bei Nennung dieses Namens rasch von seinem Sitze erhoben und trat mit einem Ausdrucke der Spannung im Gesichte näher an seinen Vertrauten heran.

»Brandon? Lucy Brandon?« sagte er, sich mit der Hand über die Stirn fahrend, wie um seine Gedanken zu sammeln. »Wie kommst du auf diese? Willst du mich jetzt an alte, längst vergessene Geschichten erinnern?«

»Ich werde schweigen, Sire, wenn Sie es mir befehlen,« entgegnete Paolini. »Doch Ew. Majestät werden mir gestatten, Sie daran zu erinnern, daß Sie jene längstvergangenen Sommertage auf Schloß Moncalieri, wenn die blondhaarige Lucy Ihnen in der Weinlaube das Lied vom schönen Tennessee sang, einst zu den glücklichsten Ihres Lebens gezählt haben.«

Der König hatte sich wieder gesetzt. Über sein ausdrucksvolles Gesicht, das auffällig nachdenklich geworden war, zogen wechselnd die Reflexe düsterer und freudiger Erinnerungen.

»Sonderbar, – sonderbar!« murmelte er vor sich hin. »Daß ich gerade jetzt daran erinnert werde; jetzt, wo diese blondhaarige Engländerin – –! Darum meine unerklärliche Sympathie für das Gesicht! Sonderbar!«

Seine sonst sonore, fast rauhe Stimme klang in diesem Augenblicke ungewöhnlich weich. Es mußte in der Tat hier in dem Buche der Erinnerungen aus dem galanten Leben des Königs eine Seite aufgeschlagen worden sein, in deren Inhalt sich Victor Emanuel mit andern Gefühlen, als mit denen eines sein »Register« inspizierenden Don Juan versenkte. Die Weinlaube im Parke zu Moncalieri konnte offenbar von Stunden erzählen, in welchen das leicht entzündbare Herz des Monarchen etwas von jenem reineren Feuer gespürt hatte, das mit dem bloßen Taumel der Sinne wenig zu tun hat. Er sah in der Tat in diesem Momente aus, wie ein Mann, der sich einer ebenso tiefen, wie süßen Jugendliebe erinnert.

»Wie war es doch gleich, Paolini?« fragte er mit leisem Lächeln. »Ich weiß, du hattest dir damals durch deine Diskretion in meinen Diensten gewissermaßen die Sporen verdient, und wir lernten uns gegenseitig zum erstenmale gründlich kennen. Du kanntest sie gut. Wie war es doch gleich:

I can no longer here remain, –
No pleasures here I see.
Farewell, farewell, – I must go back –
«

» Again to Tennessee!« ergänzte Paolini lächelnd.

» Again to Tennessee!« wiederholte der König mehr für sich. Dann erhob er sich plötzlich wieder und blickte, dicht an Paolini herantretend, diesen durchdringend an:

»Doch – Unglücksmensch,« sagte er, »wie in aller Welt kommst du jetzt dazu, mich an dieses Mädchen zu erinnern? Da draußen schlagen sie sich herum und schimpfen ihren König einen Landesverräter und französischen Lakaien. Ein schlecht gewählter Augenblick das, mich sentimental stimmen zu wollen!«

»Ich folgte nur Eurer Majestät Befehl, der mich zum Sprechen zwang.«

»Aber – corpo di Cristo, wir sprachen doch von ganz andern Dingen? Was war's doch? – Du hast mir meine Gedanken ganz verwirrt gemacht, Paolini.«

»Wir sprachen von dem jungen Mädchen – oder richtiger, Ew. Majestät befahl mir, von dem jungen Mädchen zu sprechen, welches jenen inhaltsschweren Brief an den Mazzinisten im Hotel Europa überbracht hatte.«

»Richtig, richtig, das war's – und nun?«

»Jenes Mädchen brachte mich eben auf dieses Thema, Sire, welches ich nicht berührt hätte, wenn ich hätte ahnen können, daß es Ew. Majestät in diesem Maße aufregen würde.«

»Jenes Mädchen brachte dich auf dieses Thema!? Nun, bei Gott, Paolini, du mußt deutlicher sprechen, wenn ich dich verstehen soll.«

»Wenn jemals ein menschliches Wesen Miß Brandon geglichen hat, so war es dieses Mädchen, Sire. Dasselbe könnte ihre Schwester oder« – hier warf Paolini einen kurzen, prüfenden Blick auf das Gesicht des Königs, »oder besser – ihre Tochter sein.«

Eine leichte Röte der Erregung stieg in dem Gesicht des Monarchen auf.

»Paolini,« sagte er nach kurzem Nachdenken, »ich kenne ein anderes Weib, das jenem wunderbaren Wesen ähnelt. Weißt du, wen ich meine?«

»Jetzt weiß ich es, Majestät. Es ist mir nachträglich eingefallen. Mrs. Mary Campbell!«

Der König nickte mit dem Kopfe.

»Nun wohl – so könntest du ja auch da einen verwandtschaftlichen Zusammenhang wittern!«

»Keineswegs, Sire,« erwiderte der Inspektor. »Es ist wohl eine entfernte Ähnlichkeit auch hier vorhanden, aber – sie liegt höchstens in den Augen und dem schönen blonden Haar. Jenes Mädchen aber, das ich gesehen, ist das absolute Ebenbild der Miß Brandon. Und das allein hätte mir nicht so viel zu denken gegeben. Es kommt noch ein anderer Umstand hinzu. Die Züge des Mädchens trugen noch eine andere Ähnlichkeit zur Schau, Sire, eine Ähnlichkeit, welche mich vielleicht noch mehr, sicherlich nicht minder frappierte, als diejenige mit Miß Brandon.«

» Affè di Dio!« rief der König. »Willst du damit etwa sagen, daß – daß –«

»Ew. Majestät haben mir gestattet, frei von der Leber weg zu reden?«

»Sprich, sprich! Ich glaube dich schon fast zu verstehen.«

»Nun denn, Sire,« sagte der Inspektor, seine Stimme fast zum Flüstertone herabdämpfend, »jenes Mädchen trägt in geradezu auffälliger Weise die Züge des Königs von Italien!«

Der Monarch zuckte bei dieser Eröffnung seines Vertrauten in drolliger Weise mit den Achseln. Es sah aus, als sei ihm der Kobold der Erinnerung aus dem Herzen direkt auf den Nacken geklettert und drohe ihn zu erwürgen, so daß er ihn abzuschütteln versuchte.

»Brr! – Ich ahnte schon so etwas!« rief der König endlich, der pikanten Mitteilung seines Vertrauten unwillkürlich die komische Seite abgewinnend. »Ich hoffe wenigstens, wenn ich nicht an deinem guten Geschmack zweifeln soll, daß dieses interessante mixtum compositum von Gesicht vorwiegend die Züge jener Miß Lucy repräsentiert!«

»Ich kann Sie versichern, Sire,« entgegnete Paolini, »daß dieses Mischgesicht den Charakter ganz ungewöhnlichen Liebreizes trägt.«

»Hm. Und du glaubst deiner Sache gewiß zu sein?«

»Sire,« entgegnete der Inspektor mit feinem Lächeln, »ich bin meiner Sache soweit sicher, als der Anblick dieser frappanten Ähnlichkeit sichere Überzeugungskraft besitzt. Die weitere Beurteilung der Angelegenheit muß ich den Erinnerungen Ew. Majestät überlassen?«

Der König blickte einen Augenblick nachdenklich vor sich nieder.

»Höre, Paolini,« sagte er dann, während er sich eine Zigarre in Brand setzte und mächtige Dampfwolken in die Luft sandte, »diese Affäre interessiert mich ganz ausnehmend. Ich kann dir nur sagen, daß die Möglichkeit vorhanden ist, daß du recht hast. Lucy Brandon war ein Weib von so seltenem Ehrgefühl, wie ich es nur selten gefunden habe. Sie ist meinen Augen plötzlich wieder entschwunden; ich vermutete, daß sie nach ihrem geliebten Tennessee zurückgekehrt sei, und ich habe allen Grund, anzunehmen, daß – ebbene, daß sie gewisse Folgen vor mir verbergen wollte. Es war töricht, aber, wie gesagt, sie war in ihrer Art ein seltsames Wesen. Wie dies Mädchen, wenn es ihr Kind ist, hierherkommen sollte, ist mir unbegreiflich. Miß Brandon müßte denn nicht nach Amerika zurückgegangen sein. Unmöglich ist auch das nicht, obwohl sie sich niemals an mich gewandt hat. Jedenfalls liegt hier ein Geheimnis vor, hinter welchem vielleicht allerlei traurige Bilder von Not und Entbehrungen sich verbergen, vielleicht sogar noch Schlimmeres. Dies Geheimnis muß aufgeklärt werden, Paolini. Wird es dir möglich sein?«

»Möglich, Sire?« entgegnete Paolini, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Das kann ich jetzt kaum sagen. Es ist ein Unglück, daß mir die Erkenntnis, welche ich Ew. Majestät mitgeteilt habe, selbst erst gekommen ist, nachdem das Mädchen schon meinen Augen entschwunden war. Ich wünschte, ich wäre meinem ersten instinktiven Gefühl, mich näher mit der hübschen Kleinen zu beschäftigen, statt mit dem Briefe, sogleich gefolgt.«

»Jedenfalls wirst du tun, was in deinen Kräften steht. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß in der Sache irgend etwas gut zu machen ist. Wer weiß, in welchen Händen sich das Mädchen befindet.«

»Wenn Ew. Majestät es befehlen, so werde ich alles daransetzen. Nur – Sie werden selbst einsehen, Sire, daß der einzige Anhalt, den ich habe, jener Brief ist. Der Inhalt desselben ist mir bekannt, und ich müßte, um meinem Ziele einigermaßen näher zu kommen, von dieser Kenntnis Gebrauch machen.«

»Du weißt, was ich dir darüber gesagt. Ich wünsche, daß die Leute ungeschoren bleiben; sie haben sich vertrauensvoll an mich gewandt. Kannst du aber von dem Briefe Gebrauch machen, ohne diesen Punkt zu verletzen, Paolini, – und ich glaube, du bist schlau und geschickt genug dazu, – so tue es. Ich vertraue dir, daß du einen geeigneten Weg finden wirst.«

Mit diesen Worten erhob sich der König und gab durch einen Blick auf die Uhr zu verstehen, daß er die Unterredung für beendet ansah. Paolini verbeugte sich und sagte:

»Die Aufgabe ist nicht leicht, Sire, doch Sie wissen, daß es mir stets eine Ehre gewesen ist, die Wünsche Ew. Majestät zu erfüllen. Ich werde mich alsbald ans Werk machen.«

» Tanto meglio,« entgegnete der König, freundlich mit der Hand winkend. »Eile ist vonnöten, und ich weiß im voraus, daß du deine Sache gut machen wirst, alter Freund. Und nun, laß mich wieder mit meinen Gedanken allein. Die trübe Gegenwart fordert ihre Rechte und ich erwarte Menabrea noch heute abend. Sage Tommaso draußen, er solle den Minister sofort einlassen, wenn er kommt.«

Paolini zog sich nicht gerade leichten Herzens zurück. Die Aufgabe, deren Erfüllung er übernommen, war keineswegs eine leichte, da es ihm von vornherein klar war, daß der Weg zu der unbekannten Schönen einzig und allein durch das Mazzinistische Lager führte. Und das sollte er, dem Wunsche seines Monarchen entsprechend, mit geschlossenen Augen passieren! Er war fest entschlossen, seine Nachforschungen auf der Strada di Giovanni beim Bäcker Asti zu beginnen, beides Anhaltspunkte, welche er, wie wir wissen, jenem Briefe Mariannens an Heribert verdankte, – und doch sollte er mit den Mazzinisten jeden Kontakt vermeiden!

» Diavoletto,« murmelte er vor sich hin, – »ich wünschte fast, ich hätte die schöne Larve gar nicht zu Gesicht bekommen!«

Und der Anblick auf den Straßen Turins war keineswegs geeignet, seine Laune zu verbessern. Die Macht des revolutionären Ansturmes hatten zwar die mörderischen Musketen der Soldaten gebrochen, aber die Spuren der heftigen Volksbewegung, die Spuren des Kampfes und des vergossenen Blutes waren noch allenthalben zu sehen. Gesenkten Blickes, in kleinen, sichtlich noch unter dem Eindruck kaum gedämpfter Erregung diskutierenden Gruppen, bewegten sich die Leute auf den Straßen, die düsterer schienen, als jemals zuvor. Und dort eilten klagende und jammernde Weiber durch die Straßen, die bei der furchtbaren Katastrophe Angehörige verloren hatten oder als schwer Verletzte beweinten. Manch drohender Blick erhob sich nach dem Ministerhotel auf der Piazza Castello, und wären nicht die hier und da taktmäßig durch die Straßen marschierenden Patrouillen ein wirksames Warnungsmittel gewesen, wer weiß, wie schnell wieder eine heulende und schreiende Menschenmenge den Platz gefüllt hätte, der noch von dem Blute der Gefallenen gerötet war.

Giojello dell' Italia, mit deinem Glanze war's vorbei, und in ganz Italien erhoben die Schwesterstädte ihr Hohngeschrei über die gefallene Größe, die es nicht verstanden hatte, – mit Würde zu fallen!


 << zurück weiter >>