Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Violetta.

So stolz und freudig unser Freund Simone Moretto das fast unerwartet günstige Resultat seiner fulminanten Rede an die aufgeregte Menge begrüßt, so schmerzlich war seine Enttäuschung, als er gewahr wurde, welch dicken Strich der böse Zufall ihm durch seine Rechnung machte. Als er sah, welche Wendung die Sache zu nehmen drohte, warf er sich mitten in die Menge hinein, suchte die einzelnen zu beruhigen, die Kinder und Weiber, welche in die Massen eingekeilt standen, ohne sich von der Stelle bewegen zu können, nach Kräften zu sammeln und dem Straßenausgange zuzubugsieren. Vergebens sah er sich nach seinem getreuen Jankal um, welchen er bisher in der Erregung noch nicht vermißt hatte, so sehr er daran gewöhnt war, daß dieses wertvolle Erbstück seines Oheims ihm, wie ein treuer Hund, auf Schritt und Tritt folgte. Mit Hilfe der Riesenkräfte des treuen Madagassen hätte er sicherlich mehr erreicht, als er jetzt, wo er so gut wie allein stand, ein schwacher Fels im brandenden Meere, zu erreichen fähig war. Nur wenige hatten Geistesgegenwart genug, ihm in seinem Rettungswerk beizustehen.

Hätte er sich bei seinem Suchen nach Jankal etwas genauer umgesehen, was natürlich unter den obwaltenden Umständen, wo die größte Eile das erste Gebot war, unmöglich war, so würde er bemerkt haben, daß unter denen, die sich dicht zu ihm hielten, und ihm beistanden, die zeternden Weiber, welche vollständig den Kopf verloren hatten, zu sammeln, sich auch eine sehr zweideutig aussehende Gestalt befand, deren häßliches Gesicht ihm nicht unbekannt sein konnte. Es war der »Schielende«, welcher, wie wir somit sehen, bereits die unsaubere Mission, die er übernommen, angetreten hatte. Daß der Bursche nichts Gutes im Schilde führte, hätte man, wenn überhaupt Zeit und Gelegenheit zur Beobachtung vorhanden gewesen wäre, aus den halb scheuen, halb hämischen Blicken, mit welchen er jede Bewegung des Giudice verfolgt, aus der auffallenden Hartnäckigkeit, mit welcher er Simone Moretto gleichsam auf dem Nacken saß, unschwer erkennen können.

Die todbringenden Salven der Soldaten führten die ganze stürmische Affäre, wie bekannt, zu einer raschen Krisis. Die Verwirrung, welche folgte, war, wie wir schon geschildert, eine geradezu unbeschreibliche, und von ihr ward auch Moretto, dessen beschwichtigendes Bemühen hier natürlich sein Ende erreichte, mit fortgerissen. Um ihn herum brachen Menschen tot oder verwundet zusammen, der furchtbare Anblick, der Jammer um ihn herum raubte auch ihm für einen Augenblick die klare Besinnung. Wie in einem geistigen Taumel hörte er das Klagen der Verwundeten, das Geschrei der Weiber, das Wutgebrüll der zum Äußersten gereizten Menge und den Trommelwirbel der, nach getaner Bluttat, mit gefällten Bajonetten von zwei Seiten avancierenden Soldaten. Und in dieser Verwirrung seiner geistigen Kräfte fühlte er mit einem Male einen stechenden Schmerz zwischen den Schultern, der ihm einen kurzen Schrei des Schmerzes auspreßte, zugleich aber auch die momentane Lähmung aller seiner Sinne noch vermehrte. Ringsum erschollen Kommandorufe mitten durch das wilde Chaos der Stimmen. War die hinter ihm stehende Abteilung ihm schon so nahe auf den Leib gerückt? Hatte ein übereifriger Verteidiger des Vaterlandes ihm, als einem vermeintlichen Rädelsführer, das Bajonett zwischen die Schultern gerannt?! Er war nicht fähig, diesen Gedanken weiter auszuspinnen. Ein Schleier legte sich vor seine Augen und die Sinne schwanden ihm vollständig. Er fühlte noch, wie ihm das warme Blut den Rücken hinabrieselte, er brach zusammen, und während er noch vermeinte, den heißen Atem eines über ihn gebeugten Menschen über sein Gesicht streichen zu fühlen, war sein Geist der Umgebung vollständig entrückt.

Der Schielende war kräftig genug, um den leblosen Körper Morettos aufheben zu können. Grinsend beugte er sich über ihn nieder und murmelte: »So, mein Freund, hoffentlich hat dich mein gutes Messer nicht zu Tode gekitzelt. Es wäre jammerschade um dich. Das hübsche neapolitanische Täubchen würde sich die Augen aus dem Kopfe weinen, und wir würden wahrscheinlich nie erfahren, was der braune Halunke in der Osteria herumzuschnüffeln hatte. Ich will dich vor allem in Sicherheit bringen, damit du mir nicht zu früh zur Besinnung kommst. Pater Anselmo kann sich bei mir bedanken und dem Zerbinotto wird's auch recht sein!«

Unter diesem liebenswürdigen Selbstgespräche hob der Schurke den durch den Blutverlust Besinnungslosen auf und trug ihn davon. In der grenzenlosen Verwirrung, welche herrschte, wurde dies kaum bemerkt. Es hatte auch nichts Auffälliges an sich, da die gleiche Szene sich ringsum fortwährend wiederholte. Ja mitleidige Seelen offerierten sogar dem schielenden Halunken Unterstützung in seinem vermeintlichen Liebeswerk, ein Anerbieten, welches der Bursche jedoch mit heuchlerisch-betrübter Miene ablehnte, indem er versicherte, daß keines anderen Hände, als die seinen, den »geliebten Oheim«, den die verteufelten Soldaten erschossen hätten, nach Hause tragen sollten.

So keuchte er denn mit seiner Last davon, durch die Poststraße hindurch zurück nach der Piazza del Castello, um möglichst rasch seine Beute nach der »Gazza Ladra« zu bringen, wo neben allerlei erwünschten Herzstärkungen, deren er nach seiner Bluttat bedurfte, auch, wie er überzeugt war, der klingende Lohn seitens des Pater Anselmo für seine energische Handlungsweise seiner wartete.

Kaum war er in eine ziemlich dunkle, von dem Platze sich abzweigende Nebengasse gelangt, als er einen Augenblick still stand, um sich die Schweißperlen von der Stirn zu wischen, welche die keineswegs unbedeutende Anstrengung hervorgerufen hatte. In diesem Moment huschte eine weibliche Gestalt an ihm vorüber. Es war zu dunkel in der Straße, um das Gesicht derselben genau erkennen zu können, auch war sie so dicht in ein Tuch eingehüllt, daß es selbst bei hellerer Beleuchtung scharfer Augen bedurft hätte, um ihre Züge zu sehen. Der Schielende jedoch, der, dank dem kleinen Reste von bösem Gewissen, welches ihn dann und wann nach solchen kleinen Extravaganzen peinigte, während des ganzen Weges jeden Passanten mit mißtrauischen Argusaugen gemustert hatte, schien dennoch diese Gestalt zu kennen. Es fuhr wie ein elektrischer Schlag durch seine Glieder, und mit einer hastigen Bewegung, die einem panischen Schrecken verzweifelt ähnlich sah, warf er das Taschentuch, womit er sich soeben seine Stirn getrocknet hatte, über das Gesicht Simone Morettos und bückte sich zu diesem nieder, um ihn wieder aufzuheben, offenbar in der Absicht, eiligst mit seiner Last sich aus dem Staube zu machen.

Doch seine Hast, seine rasche Bewegung schien auch die Aufmerksamkeit der Unbekannten erregt zu haben. Diese war der Gruppe eiligen Schrittes entgegen gekommen und hatte augenscheinlich beabsichtigt, nach einem flüchtigen, scheuen Seitenblicke, welchen sie auf den »Schielenden« und seine Bürde warf, rasch an den beiden vorbei zu eilen. Jetzt jedoch blieb sie wie gebannt stehen. Ein Ausruf der Überraschung entfuhr ihren Lippen, zaghaft zwar noch, aber doch mit unverkennbarer Neugier trat sie näher. Bei einer raschen Bewegung verschob sich das Tuch, welches sie um den Kopf geschlungen hatte, und – das schöne, aber in diesem Augenblicke bleiche und angsterfüllte Gesicht Violettas kam unter demselben hervor.

»Heilige Mutter Gottes – Bieco, seid Ihr es?« stammelte sie.

Der erste Impuls des schielenden Burschen war, einfach auf- und davonzulaufen. Indessen besann er sich rasch eines Besseren. Ihm war aus seinen Erfahrungen in der Osteria der harte Kopf und der energische Charakter der schönen Nichte seines würdigen Kneipwirtes nur zu gut bekannt, und eine unklare Ahnung sagte ihm, daß es ihm unter Umständen nur schaden könnte, wenn er sich jetzt durch eine eilige Flucht verdächtig machte. Er knirschte vor Wut mit den Zähnen und hätte am liebsten Violetta einen ähnlichen Liebesdienst erwiesen, wie dem Manne, welchen er in den Armen hielt.

» Maledetto!« knurrte er zur Antwort, unfähig, seinen Ärger über diese unerwünschte Störung völlig zu verbergen. »Was fragst du mich, Mädel, wenn du siehst, daß ich es bin? Wer heißt dich bei dieser Aufregung in der Stadt dich jetzt noch auf den Straßen herumzutreiben?«

Der Trotz des Mädchens erwachte gegenüber dieser Abweisung ihrer Frage.

»Seht Euch vor, Bieco!« erwiderte sie, die Lippen trotzig aufwerfend. »Ich könnte Euch diese Frage zurückgeben oder andere Leute bitten, sie an Euch zu stellen. Wenn Ihr Euch auf den Straßen herumtreibt, so hat's sicherlich keinen guten Zweck. Gnade Gott, wer Euch jetzt allein begegnete.«

» Diavoletta, was willst du damit sagen?« zischte ärgerlich der Schielende.

»Pah,« entgegnete das Mädchen, »Ihr versteht mich recht wohl. Wäre ich nicht die Nichte meines Onkels, vor dem Ihr, wie die andern feigen Spitzbuben, einen heillosen Respekt habt, und wüßtet Ihr nicht, daß meine Taschen so leer sind, wie die Armenbüchsen in der Kathedrale vor dem Gottesdienst, – bei meiner Schutzpatronin, ich gäbe in diesem Augenblick nicht einen Soldo für mein Leben.«

»Hüte deine Zunge, Mädchen,« rief der so Verhöhnte in heller Wut, »sonst behandle ich dich, wie es einer Straßendirne gebührt, die abends auf den Gassen herumläuft, um reiche Gimpel aufzufangen.«

Diese unsaubere Apostrophe machte der Geduld des Mädchens ein Ende. Das italienische Blut wallte auf in ihr. Wie eine gereizte Tiegerin sprang sie auf den schmächtigen Gesellen zu, welcher noch immer den Verwundeten in seinen Armen hielt und sich daher nicht einmal wehren konnte, und – ehe er sich es versehen, fiel Violettas kleine aber kräftige Hand mit einem schallenden Schlage auf seine Wange nieder, so heftig, daß ihm das Wasser in die Augen trat und er unfähig war, einen kurzen Laut des Schmerzes zu unterdrücken.

»So,« rief Violetta mit glühenden Augen, nachdem sie diese energische Lynchjustiz zum Schutze ihrer angetasteten Mädchenehre geübt, »so, das ist eine Abzahlung auf den Dank, Bursche, den dir mein Oheim für diese infame Beleidigung seiner Nichte heute noch aussprechen soll!«

Die Szene wäre auf ein Haar ins Drastisch-Komische ausgeartet. Das halb perplexe, halb wütende Gesicht des schielenden Burschen, der, unfähig, seine beiden Arme zu rühren, den Richter krampfhaft festhaltend und Violetta mit Blicken ohnmächtiger Wut fast verschlingend, dastand, – war ganz dazu angetan, in einer Komödie zu figurieren, und wahrscheinlich wäre dies zugleich, vorläufig wenigstens, die Schlußszene der Komödie gewesen, hätte sich nicht etwas anderes ereignet.

Während nämlich Violetta sprühenden Auges und innerlich triumphierend den verhaßten Burschen betrachtete, streifte ihr Blick zugleich die vermummte Gestalt, welche er in den Armen hielt, die sie bei dem kurzen aber sehr lebendigen Dialog momentan vergessen hatte, und sie bemerkte, daß der Kopf unter dem darüber geworfenen Taschentuch sich bewegte. Es sah aus, als versuche der Verwundete vergeblich Atem zu schöpfen. Ehe noch »Il Bieco« eine Erwiderung auf die »schallende« Attacke Violettas geben konnte, herrschte diese ihn mit barscher Stimme an:

»Wen habt Ihr hier in Euren Armen, Schurke?«

Die Situation für den Burschen fing an etwas kritisch zu werden. Er zog es vor, mit der Wirtsnichte nicht auf allzuschlechtem Fuße zu stehen und, wie bereits bemerkt, vor allem sich in diesem Augenblicke bei ihr nicht allzu verdächtig zu machen. Dabei packte ihn die Gewißheit, daß Violetta, welche Ginevra kannte, auch den Richter erkennen würde, mit ganz beträchtlicher Angst.

»Ha, ha, ha,« lachte er plötzlich auf, zutraulich näher tretend und dabei behende mit der linken Hand das Taschentuch dichter um den Kopf seines Opfers befestigend, »Daß Ihr doch keinen Spaß verstehen wollt, Signorina. Glaubt Ihr denn wirklich, daß ich es ernstlich gemeint habe, wenn ich Euch ein bißchen ärgerte? Gefährlich ist's sicher für ein so hübsches Kätzchen, wie Ihr, bei solchen Zeiten abends auf der Straße herumzulaufen. Bei der Madonna – Euer schönes Händchen hat aber Kraft, ha, ha, ha! Na – werde mich beim Herrn Oheim schon selbst dafür bedanken. Gehabt Euch wohl, Signorina, und seid auf Eurer Hut.«

Mit diesen Worten wollte der Schielende sich heuchlerisch aus der Affäre ziehen und zugleich, der Frage Violettas geschickt ausweichend, schleunigst sich davon machen, ehe es zu spät war. Er begann auch bereits mit Schrecken Regungen des wiederkehrenden Lebens an dem Verwundeten zu spüren. Doch so leichten Kaufes sollte er nicht davon kommen. Violetta sah das aus der Rückenwunde Morettos auf den Boden tropfende Blut mit Entsetzen. Sie sah auch immer deutlicher, daß der Verwundete sich zu bewegen begann, und bei ihrer ziemlich genauen Kenntnis von dem liebenswürdigen Charakter und der »dunkeln« Profession des Schielenden vermutete sie sofort eine Untat.

»Halt, bleibt! Nicht von der Stelle!« rief sie dem Schielenden zu, sich ihm in den Weg stellend. »Ihr sollt mir sagen, wer es ist, den Ihr hier blutend in den Armen tragt. Ich muß es wissen, rasch oder ich rufe um Hilfe!«

Ein kräftiger Stoß, der sie zur Seite schleuderte, war die Antwort. Doch diese elastische Mädchengestalt ließ sich nicht so leicht bezwingen. In dem Moment, als Il Bieco zu schnellerem Laufe ansetzte, war Violetta dazwischen gesprungen, hatte mit ihrem Fuß dem Ausreißer einen heftigen Stoß an das Schienbein versetzt, so daß er, durch die schwere Last unfähig, sich im Gleichgewicht zu halten, mit einem lauten Fluche vornüber stürzte. Gleichzeitig hatte Violetta das Taschentuch von dem Gesichte des Verwundeten gerissen und rief nun, so laut sie konnte: Ajuto, ajuto, omicidio!« Hilfe, Hilfe, Mord!

Nun war allerdings die Straße selbst augenblicklich menschenleer, da die Massen an jenem Abend sich immer noch nach den Schauplätzen der stürmischen Ereignisse konzentrierten. Doch eben passierten eilig laufende Menschen an der Mündung der Straße, auf dem Platze vorbei – und diese wurden durch das laute Rufen des Mädchens herbeigelockt. Auch aus den Fenstern mehrerer Häuser wagten sich die Köpfe einiger beherzter Turiner hervor, welche sich vorher, angesichts der schwülen Temperatur in der Stadt, aus Furcht, eine »blaue Bohne« an den Kopf zu kriegen, vorsichtig in ihre innersten Gemächer zurückgezogen hatten.

Violetta hatte mit einem Blicke die bleichen und schmerzentstellten Züge des ihr wohlbekannten Gatten ihrer Gönnerin erkannt, und hatte sogleich die Überzeugung gewonnen, daß hier eine neue Teufelei des schielenden Burschen vorläge. Mit kräftigen Armen hatte sie bereits, noch ehe der verdutzte »Bieco« wieder auf den Beinen war, diesem den Verwundeten entrissen. In demselben Moment kamen auch schon Leute herbeigestürzt und umringten die Gruppe, Fragen, Rufe des Mitleids und Flüche auf die Soldateska ausstoßend. Keiner wußte, was sich eigentlich zugetragen, und naturgemäß wandte sich die Aufmerksamkeit aller zunächst Violetta und dem verwundeten Giudice zu, welcher soeben zum ersten Male die Augen aufschlug und, wild und verwirrt um sich blickend, tief Atem holte. Der Schielende wußte die Sachlage geschickt zu benutzen. Er sah recht wohl ein, daß hier die größte Gefahr im Verzuge und es daher geratener sei, lieber seine Beute im Stiche zu lassen und sich einer etwaigen Kollision mit der Polizei durch die Flucht zu entziehen. Ein instinktives Gefühl sagte ihm, daß, wenn er erst aus der Nähe der zur Hilfe herbeigeeilten Leute sei, man ihm auch nichts mehr würde anhaben können, da Violetta, aus Rücksicht auf ihren Oheim, seinen Aufenthalt in der Gazza Ladra schwerlich verraten würde.

Rasch entschlossen gab er daher, kaum daß er wieder auf den Beinen stand, dem Nächststehenden einen derben Stoß und eilte, von der Dunkelheit geschützt, mit mächtigen Sätzen davon. Nur zwei der Umstehenden besaßen Geistesgegenwart genug, den Sachverhalt einigermaßen zu durchschauen und dem Flüchtigen nachzusetzen. Sie mußten jedoch bald die Verfolgung aufgeben. Die Abruzzen-gewöhnten Füße des Banditen waren ihnen zu flink, und kaum waren sie in eine belebtere Straße gekommen, so schlug das Meer der aufgeregt hin- und herflutenden Menschenmassen über dem entsprungenen Spitzbuben zusammen und entzog ihn ihren Blicken vollständig.

Die Zurückgebliebenen leisteten inzwischen Violetta in ihren Bemühungen um den Verwundeten werktätige Hilfe.

Alle, teils der Neugierde, teils wirklicher Teilnahme entspringenden Fragen beantwortete Violetta mit der Versicherung, daß ihr der Verwundete allerdings zufällig bekannt sei, daß sie aber den Mann, in dessen Armen sie ersteren gefunden, nicht kenne. Der Dolchstich im Rücken des Giudice schloß die Vermutung aus, daß derselbe ein Opfer der soldatischen Flintenkugeln sei, die heute so viele niedergestreckt, und so gab sich denn allgemeine Entrüstung und Wut über den offenbaren Mordversuch kund. Einige eilten dem Platze zu in der wenig Erfolg versprechenden Absicht, Gendarmen zur Verfolgung des Mordgesellen aufzubieten, während ein anderer nach einem Mietwagen eilte, der Simone nach seiner Behausung bringen sollte, und einige der zurückbleibenden Violetta behilflich waren, den Verletzten in den nächsten Hausflur zu tragen.

Das Mädchen hatte ihr Umschlagetuch auf dem Boden ausgebreitet, auf welches der Richter vorsichtig niedergelegt wurde, während Violetta sorgsam bemüht war, mit dem Taschentuche, welches der Bandit seinem Opfer über das Gesicht geworfen hatte, das jetzt sparsamer fließende Blut zu stillen.

Simone Moretto war inzwischen vollständig wieder zur Besinnung gekommen, obschon es ihm noch nicht möglich war, sich ein Bild von den Vorgängen zu machen, welche ihn in diese Situation gebracht. Noch hallten in seinen Ohren die Geschützsalven der Soldaten, das Wirbeln der Trommeln, das Schreien der Verwundeten und ängstlich fliehenden Menschen nach, und er glaubte im ersten Augenblicke, daß auch er von einer Kugel getroffen worden und zu Boden gefallen sei.

»Bin ich verwundet?« fragte er, sich halb aufrichtend, mit schwacher Stimme. »Wie komme ich hierher?«

Sein Blick, der in seiner Umgebung umherschweifte, blieb mit einem Ausdrucke des Erstaunens auf dem hübschen Gesicht Violettas haften. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er sich auf etwas besinnen.

»Wer sind Sie, Signora?« fragte er endlich. »Mir ist es, als hätte ich Ihr Gesicht schon gesehen. Es fällt mir schwer, meine Gedanken zu sammeln. Können Sie mir sagen, was mit mir vorgegangen ist und wo ich mich befinde?«

Errötend beugte sich die Nichte des Schankwirtes zu dem Verwundeten nieder. Sie hatte seinen Kopf in ihrem Schoße gehalten. Das Eigentümliche der Situation wurde ihr, nachdem sich die erste Erregung gelegt hatte, allmählich klar.

»Strengen Sie sich nicht mit Sprechen an, Signore Moretto,« flüsterte sie. »Sie sind in Sicherheit und werden bald nach Hause gebracht werden. Mein Name ist Violetta, und Ihre Gattin, Signora Ginevra Moretto, kennt mich gut!«

Ein freudiges Lächeln des Erkennens glitt nun über das Gesicht des Richters. Er reichte dem jungen Mädchen die Hand und sagte:

»Wahrhaftig, – mein Kopf muß doch gewaltig verwirrt gewesen sein, daß ich dich nicht sogleich erkannt habe, mein liebes Kind. Das ist in der Tat ein seltenes Glück an diesem Unglückstage, das mich in deine Hände geführt hat. Welchem wunderbaren Umstande habe ich das zu verdanken?«

Diese Frage verwirrte das junge Mädchen. Sie war sich über ihre Handlungsweise noch nicht klar. Vor diesem Forum von unbekannten Menschen wollte sie am allerwenigsten ihre Bekanntschaft mit dem »Schielenden« verraten. Das für ein so edles Wesen ganz naturgemäße Gefühl einer gewissen pietätvollen Rücksicht auf den Oheim und Versorger, hielt sie, wie der schielende Bandit ganz richtig kombiniert hatte, ab, den Mordgesellen zu verraten und damit vielleicht die »Gazza Ladra« der Polizei preiszugeben. So erzählte sie denn dem Richter, ein wenig von der strikten Wahrheit abweichend, vorläufig nur, daß sie ihn verwundet in den Händen eines Unbekannten gefunden, der bei ihrer und dieser Leute Annäherung die Flucht ergriffen habe.

»Ich sage dir Dank, mein braves Mädchen,« erwiderte der Richter, Violetta die Hand drückend. »Meine Ginevra wird dir auch von Herzen dankbar sein und sich freuen, daß sie in dir wirklich die Perle gefunden hat, die sie vermutete. Oh, sie hält große Stücke auf dich, Violetta!«

Ein Zucken flog durch Violettas Glieder, und wie sie vorhin bei den Worten Morettos errötet war, so erbleichte sie jetzt und drückte wie zur Beschwichtigung eines augenblicklichen Schmerzes ihre rechte Hand aufs Herz. Es ist fraglich, ob der Richter ihre Bewegung bemerkte. Hätte er sie auch bemerkt, eine Auseinandersetzung für diesen Augenblick wäre Violetta jedenfalls erspart geblieben, denn soeben traf der Wagen ein, welcher Moretto heimführen sollte, und mit ihm auch zugleich ein Arzt, welchen der vorsorgliche Samariter zur ersten Hilfeleistung mitgebracht hatte. Eine weise Vorsicht, denn Ärzte waren an jenem Abend in Turin ein gesuchter und rarer Artikel.

Der Arzt untersuchte zunächst den Verwundeten, legte einen Notverband an und sagte lächelnd: »Sie sind, wie man zu sagen pflegt, mit einem blauen Auge davon gekommen, Signor. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer festen Wirbelsäule; wäre der Dolch nicht an einem Wirbelfortsatz abgeprallt, so hätte der Stahl in der Lunge gesessen und es wäre vielleicht schon mit Ihnen vorbei.«

» Tanto meglio, dottore,« sagte Moretto, bei dessen kernfester und männlichen Natur die gute Laune rasch die Oberhand gewann. »Ich glaube, es gibt noch ein Paar Menschen in Turin, welche Simone Moretto eine heile Lunge gönnen. Lassen Sie uns daher aufbrechen, um diese vor aller etwaigen Unruhe zu befreien. Sie fahren doch mit, Dottore! Und du, figliuola,« fügte er, zu Violetta gewendet, hinzu, »wirst mich doch auch begleiten, damit Ginevra dir ihren Dank aussprechen kann!«

»Ich weiß nicht – Signor!« stammelte Violetta sichtlich in peinlichster Verlegenheit und Unruhe. »Ich – ich glaube, mein Oheim wird mich zu Hause erwarten und –«

»Nichts da, Mädchen!« rief Moretto, ihre Hand erfassend. »Ich muß dich als meine Lebensretterin betrachten, und mein Frauchen würde mir eine schöne Gardinenpredigt halten, wenn ich dich gehen ließe. Es ist zu gefahrvoll für dich in der Stadt. Deinen besorgten Oheim wollen wir schon zufriedenstellen.«

»Heilige Maria, hilf mir!« stammelte das Mädchen für sich. Doch sie konnte keine weiteren Gründe gegen die Worte Morettos anführen und ergab sich seufzend in ihr Schicksal.

So wurde denn Simone Moretto mit Hilfe einiger Männer vorsichtig in den Wagen gehoben, und alsbald rollte er, in Begleitung des Arztes und Violettas, seinem trauten Heim zu, beseligt in dem Gedanken, von seiner geliebten Ginevra mit offenen Armen empfangen zu werden, eine Vorstellung, die ihn selbst den durch das Rütteln des Wagens nicht wenig erhöhten Schmerz seiner Wunde vergessen ließ.

Sein Hoffen sollte grausam getäuscht werden!

Nach einer ziemlich langen, weil langsamen Fahrt, erreichten die drei die »Casa Ginevra« (so hatte Simone seiner jungen Frau zu Ehren das Haus getauft) auf der Strada Bianca. Als der Wagen hielt und der Richter Violetta bat, zuerst ins Haus hineinzugehen, um Ginevra einigermaßen vorzubereiten und zugleich über das Ungefährliche seiner Verwundung aufzuklären, ferner auch, um Jankal zu zitieren, dessen Gegenwart im Hause er mit Bestimmtheit voraussetzte, folgte diese zwar mit sichtlichem Zögern seinem Wunsche, gab aber auch zugleich dem Arzte in verlegener Weise versteckte Zeichen. Dieser folgte ihr in den Eingang des Hauses und eine kurze, hastige Besprechung fand statt, während welcher Moretto ungeduldig dem Erscheinen seines getreuen Madagassen entgegen sah. Endlich trat der Arzt an den Wagen heran und sagte:

»Es tut mir leid, Signor Giudice, Ihnen mitteilen zu müssen, daß, wie ich soeben von dem jungen Mädchen, unserer Begleiterin höre, Ihr Diener noch nicht eingetroffen ist. Der Himmel weiß, wohin ihn der Tumult in der Stadt verschlagen hat.«

Der Verwundete schüttelte mit erstaunter und zugleich besorgter Miene den Kopf.

»Unglückseliger Tag!« murmelte er. »Ich hänge an dem Burschen, wie an einem älteren Bruder. Die Jungfrau möge ihn schützen. Ich fürchte, es ist ihm irgend etwas zugestoßen. Wird meine Frau den Usciere heraussenden?«

»Der Usciere kommt soeben, Signor,« erwiderte der Arzt, auf den dem Wagen sich nähernden Portier deutend. »Doch – es ist meiner Treu ein unglücklicher Zufall – Signora Moretto ist ebenfalls nicht daheim.«

Mit weitgeöffneten Augen, aus denen eine ungewisse Angst sprach, starrte der Richter den Arzt an, während eine leichte Röte sein infolge des Blutverlustes und des Schmerzes bleiches Gesicht färbte.

»Meine Frau – Ginevra – nicht im Hause?« stammelte er. »Mein Gott, wie soll ich das verstehen?«

»Beunruhigen Sie sich nicht, Signor, ich glaube –«

»Sie ist doch nicht etwa in jenes Menschengedränge geraten!?« fiel Moretto hastig dem Doktor ins Wort. »Mein Gott, sollte sie etwa – aus Besorgnis um mich? – Schnell, schnell, Doktor,« unterbrach er sich, »sorgen Sie, daß ich sofort ins Haus komme! Ich muß Gewißheit haben! Ich muß wissen, wie das zusammenhängt!«

Der Usciere war während dieses kurzen Zwiegespräches zwischen Moretto und dem Arzt herbeigeeilt, und der Verwundete ward ins Haus getragen. Violetta stand an der Treppe und blickte den Kommenden angstvoll entgegen. Ihre Augen waren besonders fragend auf den Arzt gerichtet. Dieser zuckte wie bedauernd mit den Achseln und flüsterte, als er an ihr vorüber ging, ihr zu: »Es ist nicht zu ändern, er muß es erfahren. Doch fürchten Sie nichts für ihn!«

Oben angelangt, wollte sich der Richter sogleich in Ginevras Zimmer tragen lassen, um sich selbst zu überzeugen, ob seiner Frau nicht irgend etwas zugestoßen sei, was man ihm verheimlichen wolle. Doch der Arzt protestierte heftig dagegen, indem er erklärte, daß die definitive Reinigung und Verbindung der Wunde nicht den geringsten Aufschub erleiden dürfe. Wohl oder übel mußte sich der Richter fügen und sich zunächst mit dem Bescheide beruhigen, daß Ginevra tatsächlich nicht, wie er vermutete, krank in ihrem Zimmer läge, sondern, wie ihm schon mitgeteilt worden, überhaupt nicht im Hause sei.

Wo war aber Ginevra? – – – Wann war sie fortgegangen? Was hatte sie als Grund ihres Ausganges angegeben? Diese Fragen traten in ihrer ganzen Wucht und Bedeutung auf die Lippen des Verwundeten, kaum daß der Arzt, welcher noch ein eiliges Zwiegespräch mit Violetta, anscheinend zu deren Ermutigung, gehalten, das Haus verlassen hatte.

Der Usciere, sowie das Kammermädchen Ginevras, die Köchin – wurden sämtlich vor das Krankenbett ihres Herrn beordert und mußten aussagen, was sie über den Verbleib der Herrin wußten. Die beiden Letztgenannten konnten nicht das geringste anführen, was Licht in die Angelegenheit zu bringen geeignet gewesen wäre. Sie wußten lediglich, daß Signora Ginevra vor etwa drei Stunden bereits in Begleitung eines ziemlich langen und hageren Mannes, dessen Gesicht aber der Türsteher nicht genau gesehen haben wollte, weil das betreffende Individuum einen sehr breitkrempigen Hut getragen, das Haus verlassen habe.

Der Richter war dieser mysteriösen Aussage gegenüber völlig ratlos. Eine weniger kräftige Natur, als dieser neapolitanische »Giudice«, den sein Beruf in Fährlichkeiten und Strapazen aller Art gestählt hatte, würde unter der Last der Besorgnis, ja der Angst, die ihn bedrückte, verbunden mit den Schmerzen und dem langsam sich einstellenden Wundfieber, kraftlos zusammengebrochen sein. Simone Moretto jedoch blieb trotz der Seelen- und Körperqualen, welche er litt, bei voller, klarer Besinnung und suchte, als waltete er noch seines Amtes in der Tavoliere di Puglia, alle Indizien, die sich ihm boten, mit dem Scharfsinn eines Kriminalbeamten zusammen zu stellen. Freilich eine doppelt schwierige Aufgabe, angesichts der körperlich hilflosen Lage, in welcher er sich befand. Doch ihm schwebte fortwährend belebend und anfeuernd der entsetzliche Gedanke vor, seine geliebte Ginevra könne sich in irgendeiner Gefahr befinden.

In beträchtliche Aufregung versetzte ihn die Mitteilung der Kammerfrau. Diese erzählte folgendes:

»Vor etwa drei Stunden erschien hier ein anständig gekleideter Herr, schlank gewachsen, mit etwas bleichem Gesicht und rötlichem Haar. Genau konnte ich sein Gesicht nicht sehen, habe auch nicht lange mit ihm gesprochen. Der Mann schien in großer Eile zu sein. Er fragte mit einer gewissen Hast, ob Signora Moretto anwesend sei. Nachdem ich diese Frage bejaht, zog der Unbekannte einen Brief aus der Tasche und übergab ihn mir mit der Weisung, denselben sofort der Padrona einzuhändigen; es sei Gefahr im Verzuge, und er habe auf sofortige Antwort zu warten. Ich übergab natürlich den Brief der Padrona, nachdem ich den Mann gebeten hatte, im Erdgeschoß auf die Antwort zu warten. Die Signora saß in ihrem Zimmer, als ich ihr das Schreiben einhändigte. Sie schien unruhig zu sein. Sie mochte wohl auf Sie mit Bangen warten, Signor, da sie wußte, welche Aufregung in der Stadt herrschte, und fürchtete, es könne Ihnen etwas zustoßen. Ich bemerkte, daß ihre Hand zitterte, als sie den Brief erfaßte und öffnete. Mein Schreck war nicht gering, als die Padrona, nachdem sie wenige Zeilen gelesen, den Brief sinken ließ und erbleichend ausrief:

»›Santa Maria, meine Ahnung!‹ Gleich darauf brach Signora Moretto in Tränen aus, las den Brief noch einmal durch, sprang dann auf und rief mir zu: ›Schnell, Maddalena, schnell meinen Hut und Mantel! Sage dem Manne, ich käme sogleich. Beeile dich, zögere keinen Augenblick!‹ Ich selbst war so heftig erschrocken, Signor, daß ich kaum wußte, was ich tat. Ich hätte der Signora zureden sollen, sich zu beruhigen und erst mit dem Manne zu sprechen. Aber ich war verwirrt und die Padrona drängte mich zur Tür hinaus. Sie ließ mich nicht einmal zu Worte kommen. So beeilte ich mich denn, ihren Befehl zu erfüllen. Wenige Minuten darauf war die Signora angekleidet und eilte ins Erdgeschoß hinunter. Sie sah den Boten, welcher diesen unglückseligen Brief gebracht hatte, kaum an. ›Führen Sie mich‹, rief sie ihm nur zu, als er sich höflich verbeugte und zu ihr sprechen wollte, ›führen Sie mich rasch, ich bin bereit, Ihnen zu folgen!‹ Und ohne sich von irgend jemand zu verabschieden, ohne auch nur irgendein Wort der Erklärung zurückzulassen, eilte sie mit dem Unbekannten davon. Oh, Signor, ich habe bitterlich geweint, als sie fort war, und mir Vorwürfe gemacht, daß ich nicht versucht habe, sie zurückzuhalten. Aber – was konnte ich tun?! Es ging alles so schnell und ich selbst hatte vollständig den Kopf verloren. Erst später dachte ich daran, daß irgendein verbrecherischer Streich vorgelegen habe. Das junge Mädchen, welches kurz darauf kam, das auch Sie hierher begleitet hat, Signor, war über meine Mitteilung so erschrocken und zeigte so große Zeichen von Unruhe, daß ich dadurch noch bestürzter wurde.«

»Das junge Mädchen? Du meinst Violetta?« fragte der Richter erstaunt. »Sie ist heute hier im Hause gewesen? Mein Gott, warum sollte sie mir das verschwiegen haben! Sollte ihr eigentümlich scheues Wesen – –? Rasch, Maddalena, sieh zu, ob das Mädchen noch im Hause ist, und bitte sie, sogleich zu mir herauf zu kommen!«

Bald stand Violetta schluchzend vor Simone Moretto – und erklärte unter Tränen, sie könne nur mit ihm unter vier Augen sprechen. Der aufs äußerste gespannte und erregte Verwundete willfuhr ihrem Wunsche sogleich, und Violetta stattete ihm in abgerissenen, häufig durch Weinen unterbrochenen Worten Bericht ab. Sie war in einer schlimmen Lage insofern, als sie, wie wir bereits wahrgenommen haben, pietätvoll ihren Oheim zu schonen trachtete – so wenig dieser Spitzbube es verdiente – andererseits auch, in ihrer innigen Zuneigung für Ginevra, dieser zu dienen bestrebt war. Eine bange Ahnung sagte ihr, daß Ginevra in denselben Händen sich befand, wie Jankal, so wenig sie auch selbst den Zusammenhang dieser dunklen Affäre zu enträtseln vermochte.

So erzählte sie denn dem erstaunten Moretto von der Gefangennahme Jankals, für die ihr freilich die Motive unbekannt seien. Sie teilte ihm auch mit, daß sie in ihrer Angst um Ginevra und den Richter am Nachmittage die Gelegenheit eines notwendigen Ausganges benutzt habe, um hierher zu eilen und ihre freundliche Gönnerin von der Falle, in welche der Madagasse geraten sei, zu berichten. Da habe sie denn zu ihrem Schrecken von der unter so sonderbaren Umständen stattgehabten Entfernung Ginevras Kunde erhalten, und es sei ihr wie ein Blitz durch den Sinn geschossen, daß möglicherweise bei beiden Streichen dieselben Personen ihre Hände im Spiele hätten.

Von der Erregung fast zu Tode ermattet, legte der Kranke sich in seine Kissen zurück, strich sich über die fieberheiße Stirne und reichte dieselbe dann der schluchzenden Violetta.

»Ich danke dir, Kind. Aus jedem deiner Worte und deiner Schritte spricht ein warmes, dankbares Herz und ein erfreuliches Interesse für meine teure Ginevra und mich. Meine Sinne fangen an, sich von allem dem, was ich heute erlebt und gehört, zu verwirren, und es ist Zeit, daß wir die nötigen Schritte rasch beraten, ehe mich das Fieber mit seiner ganzen Gewalt packt. Oh, daß ich auch so ganz hilflos hier liegen muß, jetzt – wo vielleicht mein süßes Weib in Lebensgefahr schwebt! fügte er ächzend hinzu.

»Nein, Signora Moretto,« rief Violetta sich aufrichtend, und aus ihrem hübschen Gesichte sprach jene trotzige Energie, welche wir schon wiederholt als einen hervorragenden Bestandteil dieses interessanten Mädchencharakters zu beobachten Gelegenheit gehabt haben. »Sie sollen nicht hilflos sein. Ich will und werde für Sie handeln. Nur – wollen Sie mir eines versprechen?«

»Wenn ich es halten kann, gewiß, mein Mädchen,« entgegnete der Richter mit schwacher Stimme. »Ich vertraue dir vollkommen.«

»Nun denn, Signor,« sagte Violetta, »so lassen Sie zunächst mich vollständig auf eigene Faust handeln. Lassen Sie die Behörden aus dem Spiele und schonen Sie meinen Oheim. Er verdient es wahrlich nicht, – weder um Sie, noch um mich, – und doch – ich bitte Sie darum, versprechen Sie mir das, um meinetwillen!«

»Und glaubst du, mir mein Weib wieder verschaffen zu können, wenn unser schlimmer Verdacht sich bestätigt?« fragte der Verwundete gepreßt und ängstlich.

»Ich werde zunächst einen Weg finden, Ihren Diener zu befreien, und ich weiß, er wird mir dann zur Seite stehen!«

»Bei der heiligen Jungfrau, das wird er!« sagte Moretto im Tone vollster Zuversicht. »Aber weißt du auch, daß Eile vonnöten ist? Wer weiß, in welcher gefährlichen Lage Ginevra sich befindet. Die Motive dieser schlauen Entführung sind ja vollständig rätselhaft.«

»Oh – ich werde keine Zeit versäumen, Signor,« entgegnete das Mädchen. »Ich kenne leider – und doch in diesem Falle glücklicherweise – alle Schliche und Schlupfwinkel dieser Leute, in deren Händen ich auch Signora Ginevra vermute. Die Schlauheit eines Mädchens, Signor, hat schon oft Männerschlauheit besiegt. Seien Sie überzeugt, daß ich vor keiner Gefahr zurückschrecken werde, und sollte es sich als unmöglich herausstellen, unser Ziel zu erreichen, ohne meinen Oheim preiszugeben, nun denn, – so gebe ich Ihnen alsdann Ihr Versprechen zurück.«

»Es sei denn, Kind!« erwiderte der Richter. »Du siehst, ich kann mich auf mich selbst nicht verlassen und so will ich dir denn vertrauen. Gern sollen die Schurken ihrer gerechten Strafe entgehen, wenn ich nur mein Weib und meinen treuen Jankal wieder erhalte. Oh, Violetta, schaffe mir meine Ginevra wieder, und Simone Moretto wird deine Zukunft glücklich und sorgenfrei machen!«

Ein halb verächtliches, halb melancholisches Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mädchens.

»Ein Mädchen, das in solcher Umgebung aufgewachsen ist, hat keine Zukunft, Signor, und braucht keine Zukunft, als die, welche uns allen bevorsteht: den Tod! Gelingt es mir, meine Aufgabe zu erfüllen, so bin ich genug belohnt. Doch, Signor, um bei der Hauptsache zu bleiben, – sollte nicht vielleicht Signora Ginevra jenen verhängnisvollen Brief zurückgelassen haben? Wenn wir denselben finden könnten, so wäre es doch möglich, daß wir irgendeinen Anhalt gewinnen könnten, der uns auf die rechte Spur führte.«

»Wahrhaftig, Kind,« rief der Richter hastig, von diesem hoffnungsvollen Gedanken aufs neue belebt, »du hast recht. Es ist bezeichnend für meine Kopflosigkeit, daß ich daran noch nicht gedacht. Gehe mit Maddalena hinauf – oder besser, – nein, da du die schwere Aufgabe allein auf deine Schultern nehmen willst, so gehe auch allein hinauf in das Zimmer Ginevras, wo sie diesen Unglücksbrief gelesen hat, und siehe zu, ob du denselben findest.«

Eilig kam Violetta dem Wunsche des Richters nach und – ihre Vermutung sollte sie in der Tat nicht getäuscht haben. Unter dem Schreibtisch der Signora lag der Brief, so wie sie denselben in ihrer Angst und Hast von sich geworfen, am Boden. Mit vor Erregung geröteten Wangen erschien Violetta wieder am Bette des Verwundeten.

»Hier, Signor« – rief sie, »hier ist der Brief, Gott gebe, daß er uns irgendeinen Aufschluß über dieses Geheimnis verschaffe. Können Sie denselben lesen, oder fühlen Sie sich zu schwach?«

»Gib her, Kind, gib her!« erwiderte der Richter, fast gierig nach dem Schreiben fassend und es vor seine Augen haltend. »Ich werde den Brief laut lesen, damit du den Inhalt möglichst rasch erfährst und dich nötigenfalls danach richten kannst.«

Das Schreiben war von einer festen, offenbar männlichen Hand geschrieben und sah wahrlich nicht aus, als stamme es aus der Banditenhöhle in der »diebischen Elster«. Es lautete folgendermaßen:

» Signora!

Wenn ich als völlig Unbekannter mir die Freiheit nehme, diese Zeilen an Sie zu richten, so bitte ich Sie, mir diese Kühnheit durch den Drang der Umstände entschuldigen zu wollen. Die bedrohliche Stimmung, welche in der Stadt herrscht und immer ernstere Dimensionen annehmen zu wollen scheint, dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, ebensowenig, wie der tätige Anteil, welchen Ihr edler Gatte an der Beruhigung der erregten Massen genommen hat. Leider sind jedoch bereits Ausschreitungen vorgekommen, in Gestalt einzelner Scharmützel zwischen Gendarmen und Volkshaufen. Bei einer solchen Gelegenheit ist, – es tut mir wehe, Ihnen dies mitteilen zu müssen, – Ihr Gatte infolge eines unglückseligen Zufalles durch einen Steinwurf am Kopfe verwundet worden. Seine Umgebung nahm sich sofort des überaus populären Mannes an und brachte denselben in mein dem Schauplatze der Tat nächstgelegenes Haus, behufs schneller ärztlicher Hilfeleistung. Ich habe mein möglichstes getan! Als Signore Moretto zur Besinnung kam, verlangte er sogleich nach Ihnen, und ich versprach ihm, Ihnen sogleich Nachricht zukommen zu lassen, welches Versprechen ich hiermit erfülle. Darf ich Sie bitten, so schnell es Ihnen möglich ist, sich von dem zuverlässigen Boten, den ich sende, nach meinem Hause geleiten zu lassen? Fürchten Sie nicht das Schlimmste und zeigen Sie sich gefaßt. Was ärztliche Kunst tun konnte, ist geschehen, das andere liegt in Gottes Hand. Es begrüßt Sie mit schuldiger Hochachtung

Doktor Giovanni Feraglio.«

Die Hand des Richters ließ den Brief sinken. Sein Gesicht war noch bleicher geworden, als vorher. Er atmete noch einmal tief auf und – schloß die Augen. Seine eiserne Kraft war endlich durch die Übergewalt der erregenden Eindrücke gebrochen, und eine tiefe Ohnmacht umfing seine Sinne.

»Schändlicher, grausamer Betrug,« murmelte Violetta, und ihre schönen Augen reflektierten die Entrüstung, die in ihrer Seele glühte, während sie die Dienerschaft zur Hilfeleistung herbeiholte. Sie kannte recht wohl die Verquickung der in ihres Oheims Hause verkehrenden Banditengesellschaft mit gewissen pfäffischen Kreisen, und der glatte, gewandte Stil des Briefes brachte sie sogleich auf den Gedanken, daß aller Wahrscheinlichkeit nach jene ehrwürdigen Protektoren der »Gazza Ladra« mit in diesem rätselhaften Komplott waren. Eile und – Schlauheit, höchste Schlauheit war in der Tat nötig, um hier zum Ziele zu gelangen, und Violetta beschloß, ohne Verzug ans Werk zu gehen. In wenigen Minuten hatte sie die »Casa Ginevra« verlassen und war auf dem Wege heimwärts, sich unterwegs die Schritte, welche nun zu tun seien, überlegend.

Im Herzen des jungen Mädchens tobten widerstreitende Gefühle. Das Kind des Volkes, das ein grausames Schicksal zwang, mit der Hefe der Menschheit zu verkehren, hatte in der letzten Zeit Blicke in eine neue, wunderbare Welt getan, in eine Welt, wo zu Glanz, Friede und Behaglichkeit die Genien der Liebe und der Sittlichkeit sich gesellten, wo so ganz andere, ideale Interessen die Geister beschäftigten, als in der wüsten Banditenhöhle ihres Oheims. Was war es doch für eine wunderliche Stimme in ihrem Herzen, die ihr zurief, daß dieses und nur dieses der Boden sei, in dem sie zu gedeihen vermöge, daß, selbst wenn sie Jahrzehnte noch dazu verdammt sein sollte, in jenem Sumpfe der Verworfenheit zu vegetieren, die schädlichen Miasmen, die sie in demselben atmete, selbst vermöge der Macht der Gewohnheit keinen Eingang in ihre Seele finden würden?! Wie eine Traumwelt stiegen ganze Reihen von Bildern vor ihrem geistigen Auge auf, in denen sie sich selbst erblickte, unter dem Schutze und in der trauten, behaglichen Umgebung liebender und geliebter Wesen. Waren es Träume der Vergangenheit? Waren es Visionen der Zukunft? Sie vermochte sich selbst auf diese Fragen keine Antwort zu geben. Doch in ihrem Inneren wogte und stürmte es. Es galt das Glück und Leben derjenigen Menschen, die ihr zum ersten Male jene Wunderwelt erschlossen. Tat sie recht, die Geschöpfe zu schonen, unter denen sie ein trauriges Dasein führte? War es nicht edler, natürlicher, diese preiszugeben und ohne alle Rücksichtnahme ihren wahren Freunden rasch und energisch zum Ziele zu verhelfen?

Als Violetta in die mit eklem Qualm gefüllte Schankstube trat, befiel sie ein Grauen und zugleich ein mächtiges Sehnen. In ihrer Hand lag es, diese Pesthöhle mitsamt ihren Bewohnern zu vernichten, – und dann? – – Dann warteten ihrer draußen freundliche Hände, edle liebende Herzen.


 << zurück weiter >>