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Es war ein frostheller Nachmittag im Januar, gegen Ende des Monats, als ein Schlitten vor einer Station auf dem Wege nach Perekop hielt, in der nämlichen Gegend, die wir im Sommer in den Gefahren des Steppenbrandes gesehen. Die unermeßliche Eintönigkeit der Steppe war geblieben und schien nur die Farbe geändert zu haben. Das in Myriaden Kristallen glitzernde Eistuch des Schnees spannte sich über die weite Fläche, nur an einzelnen Punkten des Horizonts unterbrochen durch die lichten Schatten einer der aufsteigenden Mogilnen Alte mongolische Grabhügel.. Im Schlitten, in den dunklen Bärenpelz gehüllt, saß ein junger Offizier in Ulanenuniform, seine Waffen und sein Gepäck füllten den Vorderteil, auf dessen Brett der Führer des Gespanns gesessen hatte ... Der Wirt und Aufseher der Station stand bereits an der Tür, vor der sich auch viele andere Personen versammelt hatten: Knechte, Muschiks und Tataren, darunter einige Kosaken, die hier zum Depeschendienst stationiert waren. Die Leute beeilten sich, mit der Untertänigkeit des niederen Russen gegen jeden, der Offiziers-Uniform trägt, herbeizuspringen, die Pferde abzuschirren und dem Reisenden herauszuhelfen ... »Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Euer Wohlgeboren,« sagte der Aufseher, die Pelzmütze in der Hand. »Wenn Sie weiter wollen, so muß ich Ihnen gehorsamst melden, daß keine Pferde verfügbar sind. Aber Euer Gnaden werden hoffentlich die warme Stube nicht verschmähen und auch nicht einen Napf Bliny und Kascha Kohlsuppe und Grütze. oder ein Glas warmen Getränkes.« – Dem jungen Offizier schien die Nachricht, daß keine Pferde zu haben seien, höchst gleichgültig, denn er kannte die auf allen Stationen sich wiederholende Ausrede, dagegen war die Aussicht auf die warme Stube nicht unangenehm, weil ein eisig-scharfer Wind über die Steppe zog und die Kälte fortwährend zunahm. Ohne zu antworten, trat er in die Küche und durch den erstickenden Rauch in die wohlgewärmte, für den Aufenthalt der Reisenden bestimmte Stube, denn das Stationshaus war auf kaiserliche Kosten erbaut und hatte die vorgeschriebenen Einrichtungen. Er setzte sich auf die Bank am Ofen, zog die Uhr und sagte einfach zu dem ihm folgenden Aufseher: »In einer Stunde, Brüderchen, laß die Pferde anspannen. Einstweilen gib mir, was das Haus vermag.« – »Aber ich versichere Euer Wohlgeboren, es ist kein Huf im Stalle ...« – »Mir gleich. In einer Stunde! ... Dienst des Kaisers!« Er hielt ihm die offene Order entgegen.
Der Postmeister krümmte sich wie ein Wurm. – »Der heilige Michael möge mir beistehen ... wo soll ich die Pferde hernehmen? Der Dienst ist jetzt unaussprechlich schlimm seit dem Kriege. Die letzten sind heute mittag mit dem Herrn fort, der das Bataillon begleitete.« Sein flehender Blick fiel auf eine unempfindliche Miene; der Offizier hatte seine kleine Kabardiner Pfeife aufs neue gefüllt und sich bereits auf die Bank gestreckt ... »Was gibt es Neues von Sebastopol?« – »Die Heiligen mögen es schützen!« entgegnete der Wirt ... »Es kam heute morgen ein Kurier hier durch, dem Sie vielleicht begegnet sind. Er ging auf der großen Straße nach Petersburg.« – »Ich komme nicht von dort. Welche Nachrichten?« – »Schlimm genug. Die Arbeiten der Feinde in den Laufgräben haben wieder begonnen und die Feinde viele Verstärkungen erhalten. General Osten-Sacken, der, wie Euer Wohlgeboren wissen werden, jetzt das Kommando in Sebastopol führt, soll viele nächtliche Ausfälle machen, bei denen sich unsere Truppen mit Ruhm bedecken.« – »Sind die Großfürsten noch in Sebastopol?« – »Ja, Euer Wohlgeboren. Ich habe gehört, daß Seine Kaiserliche Hoheit Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch die Verteidigung der Nordforts kommandiert. Euer Wohlgeboren werden sich selbst in einigen Tagen davon überzeugen können!« ... Der Offizier schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht nach Sebastopol.«
Der Aufseher schaute ihn erstaunt an – das war in diesen Tagen eine seltene Antwort. – »Darf ich mir die Freiheit nehmen, Euer Wohlgeboren zu fragen, wohin Ihr Weg führt?« – »Ich will nach dem Kuban, also zuvörderst nach Kertsch. Hat unsere Armee in der letzten Zeit Verstärkungen erhalten?« – »Es kommen täglich Truppen, trotz der strengen Kälte. Das 3. Infanterie-Korps ist seit Weihnachten auf dem Durchmarsch. Fast täglich kommen Abteilungen vorbei, noch heute mittag passierte ein Bataillon.« – »Sie werden einen schlimmen Tag haben. Wie weit ist die nächste Station?« – »Achtundzwanzig Werst, Herr! Es ist die Kolonie der Frommen.« – »Zum Henker! Ein schlimmer Marsch – es wird nicht viel weniger sein, als 24 Grad.«
Der Wirt zuckte bedenklich die Achseln. – »Wenn es nur das Schlimmste wäre!« – »Wie meinst du das?« – »Die Tataren, die das Wetter kennen, fürchten einen Sturm, und ein Schneesturm ist ein böses Ding in der Steppe. Die Heiligen mögen uns bewahren!« ... Der Offizier, der einen tüchtigen Schluck von dem heißen, stark mit Rum versetzten Tee genommen, der eben hereingebracht worden, sah ihn lächelnd von der Seite an ... »Du meinst wegen der Pferde? Es hilft dir nichts, Brüderchen, ich bleibe doch nicht.« – »Die Heiligen sollen mich vergessen, wenn ich Euer Wohlgeboren nicht die Wahrheit sage. Der Graf, der dem Bataillon sich angeschlossen, um des jungen Fähnrichs, seines Enkels willen, hat die letzten Pferde genommen und sie doppelt bezahlt. Die armen jungen Leute! Ich glaube, die Hälfte der Offiziere ist kaum aus den Anstalten in Petersburg gekommen.« – Der Reisende wurde aufmerksamer. – »Waren es neue Truppen? Wer führt sie?« – »Poltawskische Infanterie, Herr. Oberst-Leutnant Galizin kommandiert das Bataillon. Es muß not haben vor Sebastopol, denn die Truppen haben Order, doppelte Tagemärsche zu machen, und der Kommandant ist nicht der Mann, sie ihnen zu schenken.«
Er legte das Stationsjournal vor den Reisenden, um seinen Namen zu erfahren; die Leutnantsuniform und der Mangel aller Bedienung hatten ihm nicht besondern Respekt eingeflößt. Der Fremde zog das Buch zu sich, blätterte darin und las gleichgültig die letzten Namen. Plötzlich sprang er hastig empor, und den Finger auf die letzte Einzeichnung, fragte er: »Graf Lubomirski? ... wer ist das?« – »Der letzte Reisende, der Pferde erhalten; ich erzählte Euer Wohlgeboren bereits davon. Er folgt schon von Kiew ab dem Bataillon, bei dem, wie mir der Jäger sagte, sein Enkel eingestellt ist, aus Besorgnis für den Knaben. Als ob nicht jeder russische Vater, so gut wie er, seine Söhne für den Dienst gegeben!« – »Der Graf ist ein alter Mann? ... kannst du mir ihn näher beschreiben?« – »Warum nicht, Väterchen? er ist kenntlich genug: zwei tiefe Narben im Gesicht, die eine bis über den kahlen Schädel. Den Jäger kenne ich; er kam im vorigen Sommer hier durch bei dem großen Steppenbrande mit einer Dame.« –
»Er ist's – unbezweifelt! – Höre, Brüderchen! die Ausflucht mit den Pferden muß aufhören; ich muß auf der Stelle weiter. Ich will die Post nicht zur Krontaxe, sondern gebe dir doppelte Bezahlung, wenn ich die Pferde binnen einer Viertelstunde habe, und ein gutes Trinkgeld obendrein.«
Das Versprechen half – Furcht und Geld sind die Mittel, durch die bei den Russen alles zu ermöglichen ist. Wenige Augenblicke darauf sprengte ein Kosak davon, um Pferde aus der Steppe herbeizuschaffen. Dennoch schien der erweckte Diensteifer mit Besorgnis zu kämpfen; der Aufseher stand mit den Bauern und Knechten in lebhaftem Gespräch vor der Tür und schaute oft nach dem Himmel, den Worten und Zeichen eines Tataren horchend ... Die Sache aber war schwerlich zu ändern; das Geld, das der Offizier so freigebig geboten, lockte, und über die Fläche galoppierte bereits der Kosak mit einem jungen Burschen und den drei zur Beförderung des Schlittens bestimmten Pferden. Der Offizier stand trotz der strengen Kälte in der Tür des Hauses, um mit seiner Gegenwart die Vorbereitungen zu beeilen. Der Posthalter trat wieder zu dem Offizier. – »Ich halte es für Pflicht, Gospodin, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Ihnen Gefahr in der Steppe droht; Muhamed der Tatar ist der beste Wetterkundige fünfzig Werst in der Runde, seit Michael der Tabuntschik zur Krim gezogen, und meint im Ernst, daß wir einen Schneesturm bekommen können.« – Der Ulan lachte ihm ins Gesicht. – »Schau dich nur um, Alterchen! es ist ja kein Wölkchen am Himmel. Hier ist dein Geld und etwas darüber für die Kosaken, und nun laß mich ungeschoren mit deiner aufrichtigen oder erfundenen Besorgnis.« – »Das ist es ja eben, Euer Gnaden,« sagte demütig dankend, der Mann, »daß, wer nicht ein Leben lang in der Steppe zugebracht hat, ihre Zeichen und Tücken nicht kennt. Ich habe gar schreckliche Stürme auch bereits bei heiterm Sonnenschein erlebt, und die Heiligen mögen Euch vor einem ähnlichen behüten. Folgt meinem Rat und nehmt wenigstens einen Eingeborenen noch zur Begleitung mit, denn der Abend kommt rasch herbei, und die große Spur, die die Soldaten gemacht, könnte leicht verweht werden.«
Der Offizier willigte nach einigem Bedenken ein, wenn die Sache ohne weiteren Zeitverlust geordnet werden könne, und der alte Tatar selbst war nach verschiedenem Hin- und Herreden gegen das Versprechen eines Trinkgeldes zur Begleitung bereit. Hieraus folgerte der Reisende, daß die ganze Warnung nur auf diesen Zweck hinausgegangen sei, und befahl ungeduldig die Abfahrt. Nach wenigen Minuten schon galoppierte die Troika unter dem Geschrei des Postillons hinaus in die weite Schneefläche, während der Posthalter und seine Leute ihnen besorgt nachschauten.
*
Die Dunkelheit war bereits eingetreten – die Sterne funkelten und blitzten vom Himmelsgewölbe, scharf und eisig in einzelnen heftigen Stößen fuhr der Wind über die unermeßliche weiße Öde, durch die sich langsam der dunkle Zug des Bataillons fortschleppte ... Die Leute waren seit dem Morgen marschiert und matt, zum Tode ermüdet; das schwere Gepäck, mit dem sie belastet waren, vermehrte die Erschöpfung, denn die Bagagewagen waren mehrere Märsche zurückgeblieben, um die angestrengte Eile des Zuges nicht zu stören, und nur wenige Schlitten und Karren mit den nötigsten Bedürfnissen und Vorräten begleiteten den Zug ... Der Marsch der großen Kolonne geschah stumm und still, kaum daß sich hier und da ein halb unterdrückter Fluch oder ein Scheltwort der Offiziere und Unteroffiziere, ein Antreiben der Gespannführer hören ließ. Man fühlte die unheilschwere Ermattung, die über dem Ganzen lag, die Furcht vor einer drohenden Gefahr, obschon nirgends ein Anzeichen davon zu erblicken war. Zwar blieb die Kolonne ziemlich dicht geschlossen und doch marschierten die Soldaten zwanglos und mit den üblichen Erleichterungen. Jeder hatte sich, so gut es ging und die Mittel ihm erlaubten, gegen den erstarrenden Hauch des eisigen Ostwindes zu schützen gesucht und war bemüht, in fortwährender Bewegung zu bleiben; die Offiziere sorgten dafür, daß keiner die Reihen verließ; denn zurückbleiben war in der Schneewüste bei der von Minute zu Minute steigenden Kälte Tod ... Neben einem jungen Unterfähnrich, der in Wahrheit noch Knabe war, schritt ein alter, aber rüstiger Mann, in einen Militärmantel gehüllt, der beim Aufwehen des Windes Zivilkleidung zeigte. Seine Aufmerksamkeit war offenbar allein mit dem Jüngling beschäftigt, dessen Kräfte schwer erschöpft waren, der aber mit aller geistigen Energie dagegen kämpfte, die Spuren dieser Schwäche zu zeigen. – »Armer Junge,« sagte der Greis, »es ist unmöglich, daß ein Knabe wie du dieser furchtbaren Anstrengung widerstehen kann. Laß mich mit dem Oberst-Leutnant sprechen, er muß dir einen Platz auf dem Schlitten bewilligen, den ich bereits für die Kranken hergegeben. Du hast das erste Recht daran.« Der junge Mann hielt ihn am Arme zurück. – »Ich beschwöre dich, Großväterchen, mach mir die Schande nicht! Was würden meine Kameraden in Petersburg sagen, die mich beneideten um die mir gewordene Auszeichnung, wenn ich schon auf dem Marsch unterlegen wäre! Lieber sterben.« – »Du wirst es, und ich mit dir, wenn du eigensinnig beharrst. Du hast noch nicht die Kraft eines Mannes, und selbst Männer werden nicht lange der Ermüdung und der Kälte widerstehen, wenn wir nicht bald das Ziel erreichen. Es war Wahnsinn von dir, in deinem Alter dich zur Einstellung zu melden, und unverantwortlich, daß man deinem kindischen Enthusiasmus gewillfahrtet.«
Der Unterfähnrich suchte mit Aufbietung all seiner Kräfte einen festen Schritt anzunehmen. – »Sage das nicht, Großväterchen,« entgegnete er. »O, wenn du zugegen gewesen wärest, als der Kaiser unsere Schule vor dem heiligen Weihnachtsfeste besuchte, wenn du gesehn hättest, wie die Knaben den mächtigen Herrn baten, er möge ihnen erlauben, in die Armee einzutreten und für das Vaterland zu kämpfen, wie der kleinste sich groß, der jüngste sich älter zu machen suchte, welcher Jubel sich erhob, als der Kaiser bestimmte, daß dreißig der besten das Patent erhalten sollten – o, du würdest begreifen, wie stolz diejenigen waren, auf welche die Ehre fiel.« – Der alte Mann blickte finster vor sich hin ... »Ich hatte andere Pläne mit dir ... es traf mich wie eine Todesnachricht, daß du so plötzlich und so jung in die Armee eingestellt worden. Sebastopol, Knabe, ist das unersättliche Grab.« – »Und wäre es das,« fuhr der Jüngling fort, »ich führe den Namen Lasaroff und werde ihm keine Schande machen. Ich will dem Zaren beweisen, daß ich bis zum Tode dankbar bin für die Gnade, die dich wieder zu mir geführt hat. Wie gern hätte ich schon damals mein Blut für ihn vergossen, und seine Huld gab mir ja das Recht auf die Ehre, jetzt unter den Erwählten zu sein.« – »Stütze dich auf meinen Arm, Michael,« jagte der Greis, ohne auf die Begeisterung des Jünglings zu antworten. »Der Sturm nimmt zu und dein Schritt schwankt – Du reibst deine letzten Kräfte auf.«
Ein Stocken in der Kolonne entstand. Der Podpolkawnik kam langsam an der Seite herangeritten, hinter ihm trugen vier Soldaten einen Mann ... »Wenn noch ein Raum ist in Ihrem Schlitten, Herr,« sagte der Kommandant, »so bitte ich Sie, ihn dem Leutnant Timotscheff zu gönnen. Der Mensch ist völlig erschöpft und ohnmächtig, und ich möchte ihn nicht gerne zurücklassen.« »Das müßte natürlich sein Tod sein,« erwiderte der Graf bitter. »Versuchen Sie selbst Ihr Heil! ich und mein Diener gehen bereits zu Fuß, und das Gefährt ist so überladen, daß die Pferde es kaum noch fortzubringen imstande sind.« – Der Offizier überlegte finster einige Augenblicke, dann sagte er heftig: »Die Jugend wird immer entarteter, Herr, und vermag nichts mehr zu ertragen. Ich kann ihm nicht helfen – legt ihn zu Boden, Leute, und mag er erfrieren. Mein Befehl lautet: Vorwärts!« – »Nicht an der Jugend Ihrer Soldaten liegt es, Herr,« entgegnete der Graf, »aber der Doppelmarsch in diesem Schnee und gegen den Sturm erschöpft jede Kraft. Wie weit rechnen Sie noch die Entfernung?« – »Der Teufel weiß es in dieser höllischen Steppe. Hoffentlich keine sieben Werst mehr, aber es ist unmöglich, sich in dieser Fläche zu orientieren; ich wünschte, wir hätten landeskundige Führer mitgenommen. Ihr Postillon ist der einzige, der uns Auskunft geben könnte; der Bursche versteht aber kaum ein Wort reines Russisch.« – »Hören Sie, wie es in den Lüften braust!« – »Bei Gott – es erhebt sich ein Wirbelwind, der uns den Schnee aufrühren wird. Fest aneinander geschlossen, Leute, und vorwärts! Wer fällt, mag liegen bleiben.«
Er wollte davon sprengen, der Graf fiel ihm in die Zügel. »Der Himmel stehe uns bei; ich fürchte, es kommt ein Schneesturm! Formieren Sie Karree-Kolonnen! Es ist unsere einzige Rettung und der Rat eines alten Soldaten!«
Die Kommandorufe der Offiziere erschollen in dem Heulen und Brausen, das sich ringsum erhob, das in den Lüften sauste, aus der Erde emporzuwirbeln schien, von allen Seiten gleich einem höllischen Konzert von tausend Teufelsstimmen. Die ganze Steppenfläche ringsumher schien lebendig zu werden und sich in die Luft zu erheben; der Schnee wirbelte in so dichten Massen, daß kaum zu atmen war und die ganze Umgebung eine einzige große Lawine schien. – »Michael, mein Kind! mein Sohn! halte dich fest an mich! Hierher! hierher!« – Einen Augenblick versuchten die Trommeln zu wirbeln dumpf und hohl; – Kommandorufe tönten, zwischen dem Toben der Natur halb erstickt, aber das Geheul des entfesselten Orkans, vermischt mit hundertfachem Jammerruf und Hilfsgeschrei, überwältigte jeden einzelnen Laut. Die Bespannungen der wenigen Gefährte, die der Kolonne folgten, standen schnaubend und zitternd; dann versuchten sie wie toll ihre Banden zu sprengen und stürmten in rasendem Lauf, die dichten Menschenhaufen zur Seite schleudernd, davon.
Nach dem ersten furchtbaren Stoß schwieg minutenlang der Sturm, gleichfalls als schöpfe er neuen Atem, und in dem hellen winterlichen Sternenlicht, das noch immer die Steppe erhellte, sah man weiße Massen sich bewegen und einzelne Gestalten nach allen Richtungen zerstreut über den Schnee flüchten ... »Halt! Stillgestanden! – Zum Karree!« klang die mächtige Stimme des Führers, und gehorsam selbst in der Todesgefahr ordneten die noch nicht niedergeworfenen oder zersprengten Züge sich um den Befehlenden. Aber das Karree war noch nicht geschlossen, als der Sturm aufs neue losbrach und im Nu die ganze Fläche ein unermeßlicher Schneewirbel war.
Der Schlitten des jungen Offiziers war kaum zwei Werst hinter dem Bataillon, als der Sturm losbrach. Im Augenblick, als der erste heulende Ton durch die Luft fuhr, stürzte sich der alte Tatar von seinem Sitz und warf sich vor die Pferde, diese in die Nüstern packend und dem Postillon zuschreiend, aus allen Kräften sie festzuhalten. Hierdurch gelang es, sie auf einer Seite zu fesseln und die so notwendige Richtung zu behalten. Denn selbst die sonst so sichern Tiere verläßt häufig bei so plötzlichen und schrecklichen Naturerscheinungen ihr Instinkt. Unwillkürlich sich seitwärts neigend, suchen sie der fessellosen Wut des Orkans auszubiegen, lenken von der rechten Straße ab und kommen oft, ohne daß der von dem wirbelnden Schnee betäubte und geblendete Reisende es merkt, mit kreisförmiger Wendung in eine gerade entgegengesetzte Richtung, je nachdem der Wirbel irre leitet. Unsicher, ohne Pfad, scheu vor den empörten Elementen, weichen sie zuletzt willenlos jedem Impuls des umspringenden Sturmes, bis sie entkräftet im tiefen Schnee stecken bleiben oder in eine der Regenklüfte stürzen, die den Steppenboden durchfurchen.
Als der erste Stoß des Orkans vorüber, ließ der Tatar den Pferden die Zügel schießen, und sie jagten mit rasender Schnelle über die Fläche dahin. Zweimal wiederholte sich das Spiel; der Schlitten schnellte bereits hin und wieder über einen unter der Schneedecke liegenden Gegenstand, ohne daß die Fahrleute in ihrer rasenden Eile sich von der Natur desselben überzeugen konnten. Der Offizier glaubte mehr als einmal Rufen und menschliche Stimmen durch das Toben der Elemente zu vernehmen, Gestalten und Schatten durch den Schneewirbel schwanken zu sehen – aber vergeblich war sein Haltruf, denn der alte Tatar trieb die ohnehin rasenden Rosse zu immer neuer Eile. Jetzt – dort – ganz deutlich hörte er den Hilferuf, – gleich darauf eine schwache Salve von Gewehren – Gestalten taumelten um ihn her. – »Haltet ein – das ist unser Schlitten! Halte ihn fest, Bogislaw! Das Erbarmen muß der eigenen Rettung weichen!« Ein kräftiger Mann warf sich vor die galoppierenden Pferde und ließ sich von ihnen fortschleifen; ein zweiter, eine schwere Last auf den Armen, schwankte hinter dem Schlitten drein. »Schieß ihn nieder, Gospodin!« schrie der Tatar; »nieder, oder wir sind verloren, wenn sie sich an uns anhängen!« Aber der Offizier hatte bereits selbst in den Zügel gegriffen und die Pferde zum Stillstande gezwungen ... »Wenn Gott Ihnen barmherzig sein soll in Ihrer Todesstunde, so üben Sie selbst Barmherzigkeit!« flehte eine tiefe Stimme neben ihm. »Nehmen Sie meinen Enkel, einen Knaben, in Ihren Schlitten und retten Sie ihn, ich will gern hier sterben und Sie segnen in meiner letzten Not!« – »Graf Lubomirski? – ich kenne die Stimme – herein, herein! jeder Augenblick ist Todesgefahr – aber ich lasse Sie nimmer im Stich!«
Der alte Pole, noch ungewiß, wer sein Retter sei, warf den leblosen Knaben in den Schlitten und sich darüber hin ... »Wenn du noch zögerst, Gospodin, so sind wir geopfert!« jammerte der alte Tatar. »Dort kommen sie, und sie werden uns Schlitten und Pferde nehmen – die Last ist ohnehin für die Tiere zu groß!« Massen schneebedeckter Gestalten stürzten herbei, wildes Geschrei ertönte, jeder der Unglücklichen drängte nach dem Mittel der Rettung. – »Vorwärts! – vorwärts, ohne Erbarmen!« rief der treue Jäger, indem er hinten auf die Kufen des Schlittens sprang und mit gewaltigem Faustschlag einen der Elenden in den Schnee schleuderte, der sich bereits angeklammert hatte. Durch die halb betäubten, erstarrten Soldaten flog das Dreigespann mit der Doppellast querfeldein – und hinter ihnen her Flüche und Verwünschungen, das Geheul des neuen, emporwirbelnden Sturmes – rings um sie ein fliegendes Meer von Flocken und spitzen, schneidenden Kristallen, daß oft kaum die Hand vor den Augen zu sehen war. Von Straße, von Pfad keine Spur, die hatte längst der wirbelnde Schnee begraben. Zum Glück vermochte der greise Führer in den Pausen des Sturmes nach den Sternen die Richtung zu finden, und obschon die Pferde von Schnee und Wind ermattet und durch die schwere Last gehemmt wurden, kamen sie doch rasch vorwärts und ließen die unglückliche Schar weit hinter sich in dem weißen Grabtuch des Schnees. Die Hand des Herrn, die aus Flammenglut und Wogendrang errettet, war über ihnen und führte sie glücklich aus der ebenso schrecklichen Gefahr des eisigen Todes unter den wandelnden Schneebergen. Nach zahlreichen Gefahren und Leiden hielten, etwa eine Stunde, nachdem der Schlitten das Bataillon verlassen, die Pferde vor der offnen Fenz eines großen Gehöfts, in die sich zahlreiche Herden schon beim Beginn des Sturmes glücklich geflüchtet hatten und wo sie jetzt im Schutz der langen, niedern, ein weites Viereck bildenden Stall- und Scheunengebäude kauerten. Der alte Tatar führte die Pferde ins Gehöft, und auf den Ruf der Reisenden eilten die Bewohner und die versammelten Hirten aus dem Schutz des Hauses den Erschöpften zu Hilfe.
Zwei Stunden darauf saß, wie in jener Winternacht in dem Kruge der polnischen Wälder, Graf Lubomirski mit dem jungen Offizier, in dem er zu seinem freudigen Staunen Djemala-Din, den kaukasischen Prinzen, wiedergefunden, am warmen Herdfeuer des Mennoniten Hesekiah zusammen. Der wackere Jäger Bogislaw, der so manche Gefahr mit ihnen treulich bestanden, wachte jetzt bei Michael Lasaroff, dem jungen Unterfähnrich, den sie starr und leblos in das Haus getragen, und der, endlich durch die angestrengte Anwendung aller Hilfsmittel wieder ins Leben zurückgerufen, sich in diesem Augenblick unter der Obhut der Frauen des Hauses und unter hoch aufgetürmten Betten in tiefem Schlafe befand ... Draußen tobte der Schneesturm noch immer mit gleicher Heftigkeit, und die des Landes Kundigen erklärten, daß er mindestens vierundzwanzig Stunden in derselben Weise anhalten werde, während welcher Zeit es unmöglich sei, den Schutz des Gehöftes zu verlassen. Vergebens hatten der Graf und der junge Kaukasier eine bedeutende Summe demjenigen geboten, der die Unglücklichen zum rettenden Hort führte. Die Kälte war nachts so heftig geworden, das Schneetreiben so wütend, daß selbst das kühnste Herz vor dem gewissen Tode verzagte. Man hatte sich begnügen müssen, am Eingange des Dorfes Wachen aufzustellen, die viertelstündlich abgelöst werden mußten und von Zeit zu Zeit Gewehre abschossen. Aber man wußte, daß bei der Macht des Sturmes der Schall kaum über den nächsten Umkreis dringen konnte, daß alles vergeblich und das Schicksal der Unglücklichen wahrscheinlich längst entschieden war: ein Grab unter dem Leichentuch der Schneelawinen, – ein Riesengrab für tausend mutige, treue Kriegerherzen, die noch vor wenigen Stunden auf dem Wege zu Ehre und Pflicht so lebenswarm geschlagen.
Diese Gewißheit warf die Schatten trüber Stimmung über alle Mitglieder der Versammlung, selbst über die sonst für das Schicksal ihrer Zwingherren ziemlich gleichgültigen Tataren. Die Mennonitenfamilie hatte im gemeinsamen Gebet die Unglücklichen dem Schutz und Erbarmen des Höchsten empfohlen, und die Männer saßen still in dem großen Küchenraum umher, dem Wüten des Orkans lauschend. Djemala-Din hatte dem Grafen mitgeteilt, daß er auf dem Wege zum Kaukasus sich befinde. Der Emir Schamyl hatte, wie wir bereits aus der Unterhaltung der russischen Offiziere auf der Mastbastion am Tage des ersten Bombardements wissen, neben der Summe von 40 000 Rubel die Zurückgabe seines ältesten Sohnes als Lösegeld für die Fürstinnen Tscheftsawadse und Orbelian verlangt, und der Kaiser hatte es dem jungen Manne freigestellt, ob er dem Verlangen seines Vaters Folge leisten wolle oder nicht. Was Djemala-Din von sich gewiesen, als die Boten seines Vaters ihn zur heimlichen Flucht zu bewegen suchten, erschien ihm jetzt, wo er die Gräfin Wanda am Kaukasus wußte, in einem andern Lichte, und er hielt es für eine Pflicht der Ehre und Liebe für sie, sich zur Befreiung der ihr verwandten Damen zu opfern. Die Hoffnung, sie wiederzusehen, von ihren Lippen den Dank für das Opfer zu empfangen, und im Hintergrunde der unbestimmte Traum, sie dennoch dort auf dem Felde wilder Abenteuer für sich zu gewinnen, wie sie selbst ihn durch ihre Phantasie angeregt, machten ihm den Entschluß leicht.
Erst hier, am Herde des Mennoniten in der wilden Steppe, wo das Schicksal ihn so wunderbar mit den Verwandten der Geliebten zusammengeführt, vernahm er zum ersten Male, daß auch sie selbst in den Felsennestern seiner Heimat als Gefangene schmachte. Die Aufregung, in die ihn diese Nachricht versetzte, war zu sichtbar und groß, um von dem Greise mißverstanden zu werden, der bereits auf dem Schloß in Volhynien die keimende Liebe des von ihm wertgehaltenen jungen Mannes beobachtet hatte. Obschon Gräfin Wanda ihm nichts vertraut, beurteilte er doch die hochherzige, romantische Richtung ihres Geistes und Herzens zu richtig, um zu zweifeln, daß sie die Gefühle des jungen Tscherkessenfürsten erwiderte, und das tiefe Nachdenken, in das er soeben versunken, galt zum großen Teil der seltsamen Schicksalsverkettung des jungen Paares und seiner Zukunft.
»Ihre Lage, Prinz,« sagte er endlich, »wird sich äußerst schwierig gestalten. Sie wissen, daß der Kampf zwischen den freien Bergvölkern und den Russen aufs neue heftig entbrannt ist. Sefer-Pascha und Beisched-Pascha haben ihnen schon im Sommer bedeutende Hilfsmittel zugeführt, die russischen Festungen am Schwarzen Meere sind in den Händen ihrer Landsleute, und die Schlacht am Ingur hat auch dort die russische Macht gebrochen. Von den alliierten Flotten wird nach dem Beginn der bessern Jahreszeit eine große Expedition an die östlichen Küsten des Schwarzen Meeres ausgeführt werden, und daß England Ihren tapfern Vater unterstützt, ist doch offenes Geheimnis. Er wird von dem Erben seiner Macht mit Recht fordern, daß er in dem neuen, günstigen Kampfe für die Freiheit an seiner Seite stehe, daß er sich würdig zeige der großen Aufgabe, die Unabhängigkeit der Stämme, die ihm einst gehorchen werden, gegen die Tyrannei zu verteidigen. Ich bin ein Greis, Freund, und fühle, daß dieser Krieg der Fürsten, von dem wir soviel für die Sache der allgemeinen Freiheit hofften, in einer Versöhnung ihrer Interessen und Vorteile auslaufen wird, denn manche bittere Erfahrung hat mich belehrt, daß Zwiespalt und Eigennutz noch nicht die Völker zu einer gemeinsamen Erhebung gegen die Unterdrückung reif gemacht haben. Aber es gibt Wehrfesten des glorreichen Kampfes, die diesen ewigen Streit, wenn auch der Sieg uns hier entrissen wird, fortführen, an denen die entarteten Völker Europas sich immer aufs neue verjüngen und stählen. Eine solche stolze Feste ist der Kaukasus und sein Ringen um Freiheit – wollen Sie sich ihm weihen, wie Ihre Väter taten? Werden Sie eintreten in den Krieg gegen Rußland, das Sie bisher mit hundert Lockungen verführt hat und das Sie jetzt verstößt und verhandelt gleich einer Ware um zwei wertloser Weiber und adeliger Namen willen?«
Der junge Offizier sah einige Augenblicke ernst vor sich nieder; er fühlte, daß von seiner Antwort die Meinung des fanatischen Greises, vielleicht die Hoffnung seiner Zukunft abhängig sein würde. Aber er empfand zugleich, daß jedes Ausweichen, jede Täuschung seiner selbst und seiner Liebe unwürdig sei. – »Djemala-Din,« sagte er fest und bestimmt, »wird nie sein Schwert im Kampfe gegen den Zaren Nikolaus, seinen Freund und Wohltäter, ziehen.« – Der alte Pole schaute finster und halb verächtlich auf ihn ... »So werden Sie ein Zwittergeschöpf sein zwischen Krieger und Sklaven, dem sowohl die Seinen als auch seine bisherigen Freunde mit Mißtrauen gegenüberstehen werden ... Sie werden untergehen in diesem Kampfe, den Sie als Held Ihres Volkes bestehen würden. Ich hatte es anders gehofft und gewähnt, daß die Tochter eines unglücklichen, dennoch hoffenden und ringenden Volkes in dem Sohne des glücklicheren Volkes durch ihre eigene Begeisterung die Flamme seines Rechts geweckt habe.« – Der Tscherkesse sah ihn erstaunt und zweifelsvoll bei dieser offenen Anspielung an. – »Darf ich Ihre Worte deuten, wie mein Herz es möchte? ich beschwöre Sie, Graf – –« – Der Pole unterbrach ihn ... »Hören Sie mich an, Djemala-Din, Sohn des Imams und vielleicht die Hoffnung der Zukunft eines ganzen Volkes. Die Vorsehung hat uns eigentümlich hier zusammengeführt, und es ist eine seltsame Stunde und Umgebung, in der ich Ihnen hier meine Seele eröffnen will. Draußen der tobende Sturm, der die Söldner Rußlands unter seiner eisigen Last begraben; wir selbst, seine demütigen Sklaven, kaum dem Tode entgangen, und durch Sie alles gerettet, woran das Herz eines Greises mit den Banden irdischer Liebe gekettet ist. In meine Knabenzeit drang der Donner des Heldenkampfes von Dubienka, dann jenes andern unglücklichen Rufs von Maciejowice, wo mein Vater an der Seite von Polens größtem Helden verwundet wurde. Mit der Muttermilch habe ich den Haß gegen die Unterdrücker meines Vaterlands eingesogen, und als ein neuer Stern seiner Hoffnung in Frankreichs Kaiser ihm aufging, stand der Jüngling unter seinen Adlern und focht seine Schlachten vom Ebro bis zur blutgetränkten Moskwa und auf Deutschlands und Frankreichs Fluren, immer vertrauend auf die Napoleoniden, und immer getäuscht von dem trügerischen Geschlecht, das aus den Freiheitshoffnungen der Völker nur eine Staffel seines Ehrgeizes macht. Nach dem Fall des Kaisers lebte ich teils in meinem Vaterlande, das unter dem russischen Druck seufzte, teils auf Reisen durch England, Amerika und Italien, und hier trat ich in den Bund jener großen Gemeinschaft, die über die Welt verbreitet und deren Aufgabe es ist, die Freiheit der Völker zu erringen und ihre Fesseln zu zerbrechen.« Er schien eine Antwort von seinem jungen Gefährten abzuwarten, doch dieser begnügte sich, ihm schweigend zuzuhören, und der alte Revolutionär fuhr fort: »In jener Zeit, während die Männer, die für die Freiheit standen und wirkten, gleich den gehetzten Tieren durch alle Länder Europas verfolgt wurden, starb mein Weib, das ich mit einem einzigen Kinde im Vaterlande zurückgelassen. Meine Tochter wurde von Fremden erzogen. Das Jahr 1830 kam, von den Barrikaden von Paris, die uns nur ein Königtum in anderer Gestalt erkämpften, eilte ich, ein Mann bereits in der Neige der Jahre, dem Vaterlande zu, das noch einmal seine Fahne erhob zum blutigen Kampf. Ich focht in den Schlachten von Ostrolenka und Grochow, und an meiner Seite Wandas Vater, der Gatte meiner jüngsten Schwester; auch Lubienski, in dessen Schloß in Volhynien wir jene Weihnachten zubrachten, war unser Waffengefährte. Sie wissen, wie auch damals Polens Stern durch die Uneinigkeit seiner Führer und die Wortbrüchigkeit Frankreichs den russischen Bajonetten erlag. Aber noch ein anderer, tiefgreifender Verlust traf mein alterndes Leben. Ludmilla, mein einziges Kind, mein einziges Vermächtnis einer geliebten, hochherzigen Frau, die bei meiner Schwester lebte, in den Grundsätzen und Gefühlen ihrer ganzen Familie erzogen, häufte Schmach auf das Haupt ihres Vaters. Ein russischer Offizier, der im Schloß meines Schwagers im Quartier gelegen, der Vater Michaels, gewann ihr Herz, und als ich Polen verlassen mußte und sie mit mir nehmen wollte nach Frankreich, weigerte sie sich, mich zu begleiten; sie trotzte dem Vaterfluch und folgte dem Feinde ihres Vaterlandes, dem Offizier des Zaren.«
Der alte Mann stützte das Haupt in die Hand und starrte in die Kohlen des Herdes. – »Ich war einsam in der Welt – kein Kind, kein Vaterland, ein gefährdeter, verbannter Wanderer auf dem Rundkreis der Erde, gehetzt im Kampf mit ihren Gewaltigen. Dieser Kampf allein war jetzt meine Liebe, mein Kind! Sie, noch vor wenigen Tagen der Offizier einer jener Gewaltigen, und bald vielleicht, wie ich, ein Kämpfer für die Freiheit – Sie ahnen nicht, auf welchem Vulkane die Throne Europas stehen, wie unterwühlt der Boden unter ihren Füßen ist, und wie mächtig und blutig von Stunde zu Stunde als Menetekel die Hand der Unsichtbaren an ihre Pforten klopft und an die Forderungen der Völker mahnt. Es ist ein Kampf auf Tod und Leben, der seit drei Jahrzehnten zwischen den Kämpfern der Freiheit und den Männern der Throne gefochten wird, mit tausend Waffen und Mitteln, im Dunkel der Nacht und der Verborgenheit und gleich den Vulkanen und Erdbeben ausbrechend in hellen Flammen, wann und wo die Gegner es am wenigsten geahnt. Hundertmal besiegt von den Schergen der Gewalt, hundertmal fruchtlos durch Verrat und Zwietracht der eigenen Glieder, findet die Sache der Freiheit, gleich dem Proteus, im Blute der Niederlagen neue Kraft und neuen Mut zum Kampf, und sie erzieht die Völker für den dereinstigen Sieg.«
»Und was verstehen Sie unter diesem? Was ist die Tendenz jenes großen und geheimen Bundes, von dem wir selbst in der Abgeschiedenheit einer Garnison gehört haben?« – »Die Selbstherrschaft der Völker, ihre Befreiung von dem Joch der einzelnen Tyrannen, die allgemeine soziale Republik.« – Der Offizier legte die Hand auf das Knie des Greises ... »Das ist es, wo unsere Wege sich scheiden, Graf Lubomirski,« sagte er mit edler Ruhe. »Ich bin ein junger Mann und habe nur wenig beobachten können im Vergleich zu Ihrem langen und reichen Leben, aber ich fühle, daß das edle Wort Freiheit und Kampf für Sie gar oft mißbraucht wird. Ich bin kein so entarteter Sohn meiner heimatlichen Berge und meines Volkes, daß ich nicht tief im Herzen sein heiliges Recht erkennen sollte, mit Blut und Gut seine Unabhängigkeit gegen den fremden Herrscher zu verteidigen. Die Selbständigkeit der Nationen und ihr heiliges Recht der Geschichte, des Glaubens und der Sitten – daß ist die große Sache der Freiheit, und wo diese ihr Banner erhebt, ob an der Weichsel oder am Kuban, sie wird immer alle edlen Herzen für sich begeistern, – nicht das hohle Geschrei der Republik und des Sozialismus.« – »Wie Sie es nennen mögen, – es ist gleich, die Streiter der Freiheit sind alle Brüder einer großen Sache! Ich habe mich nicht getäuscht, und Sie werden dennoch einer der Unsern sein im Kampf gegen Rußland, den gefährlichsten Feind der Neugeburt der Welt.« – »Niemals, solange Kaiser Nikolaus lebt, niemals wird Djemala-Din, Schamyls Sohn, gegen den Mann das Schwert erheben, der sein Freund und Wohltäter war. Erst wenn dessen Augen geschlossen, dem er den Fahneneid geschworen, obgleich der Kaiser ihm diesen gelöst, wird den Sohn des freien Tscherkessiens nichts mehr hindern, für die Unabhängigkeit seines Volkes gegen das russische Volk zu kämpfen. Bis dahin wird Schamyl, mein Vater, die Ehre seines Sohnes selbst ehren.«
Der greise Agent und Kämpfer der revolutionären Ideen war von der einfachen und edlen Erklärung und Auslegung des jungen Mannes ergriffen. Das Bewußtsein, daß auch ihn selbst im Grunde doch nur die Begeisterung für die Befreiung des eigenen Vaterlandes in die Reihen der revolutionären Propaganda getrieben, bis das nationale Streben in jenen sozialen Tendenzen und dem alles Edlere und Selbständigere zersetzenden Demokratismus untergegangen, war ihm noch nie so klar und deutlich vor die Seele getreten, als bei der schlichten Deutung des Tschetschenzen über das, was er unter »Kampf für die Freiheit« begriff. – »Was Sie unter sozialer Republik, unter Demokratie verstehen,« fuhr der junge Mann fort, »ist mir nicht ganz klar – ich kenne und ehre die Einrichtungen im Lande meiner Väter und in jenem anderen Lande, das mich erzogen. Wie soll ich Begeisterung hegen für etwas, das mir unbekannt und ungewohnt ist? Jedes Land hat seine Sitte, und für ihre Bewahrung opfert das Volk sein Blut. Die Edlen und Mächtigen werden, wie der Knecht ein Knecht, immer Edle und Mächtige bleiben und ihre Stimmen im Rate gehört werden. Die Fürsten sind die Statthalter Gottes auf Erden und ein heiliges Erbe der Völker. Ich bin ein Fürstensohn und werde, da mich Allah berufen, das Erbe meiner Väter zu wahren wissen.« – »Sie sind Moslem?« – »Ich habe nach der Bestimmung des Kaisers die Religion meiner Väter nicht zu wechseln brauchen. Auch ohne den Namen eines Christen sind die heiligen und milden Grundlehren Ihrer Religion die meinen. In den Tälern des Elbrus und Kuban ist der Glaube der Nazarener kein Fremdling, sondern besteht seit Jahrhunderten, und meine Mutter war eine Christin. Aus meiner Knabenzeit weiß ich, daß Maria und der weiße Christ selbst von unsern mohammedanischen Stämmen heilig gehalten werden. Doch was sprechen wir von mir, dem Unbedeutenden, dessen Namen und Gedächtnis auch unter seinen Freunden bald verschollen sein wird – Sie selbst haben Ihre Erzählung noch nicht geschlossen; der Name zweier teuren Wesen fehlt darin, und ich habe aus dem Munde Michaels den Namen seines Großvaters nur mit Liebe nennen hören.«
Das von dem politischen Fanatismus und seinen Intriguen lange verschlossene Herz des alten Mannes öffnete sich wider Willen bei dem Namen seines Enkels, des letzten aus seinem Blut. – »Die Härte gegen mein Kind,« sagte er traurig, »hat manche Nacht den Schlaf von meinem Lager gescheucht, obschon ich wußte, daß ich recht getan. Lasaroff, ihr Gatte, war ein eingefleischter Russe, aber sonst ein wackerer Mann, und seinen Bemühungen allein ist es zu danken, daß das Besitztum meiner Schwester nicht konfisziert wurde und ihrer Familie erhalten blieb. Erst acht Jahre nach Polens Besiegung traf mich der letzte Gruß meines Kindes von ihrem Sterbebett, auf dem sie Michael das Leben gegeben. Der Vaterfluch hatte ihre frühern Kinder dem Tode geweiht, und sie bat mich sterbend um meinen Segen und meine Vergebung für das letzte. Der Tod sühnt alle Schuld, und dies alte Herz öffnete sich einer unendlichen Liebe für den unbekannten Enkel. Lasaroff, sein Vater, starb wenige Jahre nach seiner Gattin, und Michael wurde nach seiner Bestimmung in einem der Korpshäuser in Petersburg erzogen.«
»Und Ihre andere Familie? Ihre Schwester?« – »Sie blieb bis zu ihrem Ende eine treue Tochter Polens, während ihr Gatte, der an meiner Seite gefochten, mit Rußland seinen Frieden machte, und ihr Sohn später im russischen Kriegsdienst stand und mit dem Gatten seiner älteren Stiefschwester, wie – ich muß es zu unserer Schande sagen – so viele Polen, im Kaukasus zur Unterjochung Ihrer freien Nation unter dem Doppeladler focht. Er fiel vor fünf Jahren als ein Opfer der Cholera, und seine uns fremde Frau und Kinder sind die Erben der Güter in Polen. Aber meine Schwester hatte ein zweites, jüngeres Kind, eine Tochter, Wanda, die Sie kennen, und in der ihr Geist, ihr Herz, ihre Vaterlandsliebe fortlebten. Sie sah ich in Berlin und Paris, sie liebte ich und durch sie erhielt ich Nachricht von dem letzten meines Blutes, von meinem Enkel, und blieb in Verbindung mit ihm. Es wird Sie nach dem, was Sie ausgesprochen, wenig kümmern, aus welchen Gründen ich vor fast zwei Jahren, durch eine frühere Bekanntschaft mit dem russischen Staatskanzler unterstützt, die Amnestie des Zaren annahm und nach Polen und Rußland kam. Nicht einer der geringsten war die Sehnsucht nach meinem Enkel und die Liebe zu ihm, die noch einmal das welke Herz des Greises erfüllte und belebte.«
»Und darf ich fragen, welche Absichten Sie mit ihm hegen?« – »Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß die politische Aufgabe, die mich in dieses Land führt, mißlungen ist. Die Ereignisse sind uns aus den Händen gewachsen, andere und gefährlichere Gegner als Zar Nikolaus sind unserer heiligen Sache entstanden und haben unsere Pläne durchkreuzt, und wir können augenblicklich nur die welterschütternden Ereignisse beobachten und so viel als möglich die einzelnen Phasen für uns benutzen. Ich glaubte Michael, da er nur ein Knabe ist, noch nicht siebzehn Jahre, gesichert vor den Stürmen der Zeit in jener Anstalt zu Petersburg, wohin ihn das Testament seines Vaters bestimmt; ich bedachte und ahnte nicht, daß er den Geist desselben und seine Gesinnung geerbt. Am Rande meines Lebens muß ich sehen, wie das Kind meines Blutes von mir abfällt und ein fanatischer Anhänger meines Feindes ist. In Odessa, wo ich größtenteils mich aufgehalten, seit mich meine Nichte bis dahin auf dem Wege zu ihrer Stiefschwester am Kaukasus begleitet, überraschte mich der jubelnde Ruf des törichten Knaben, daß sein Abgott, der Zar, ihm gestattet, in ein Regiment für die Krim einzutreten, und daß er bereits auf dem Marsch hierher sei. Die Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag und machte das alte Herz erbeben. Ich eilte ihm entgegen, ich versuchte durch alle meine Verbindungen das Geschehene rückgängig zu machen – vergebens: er weigerte sich, seinen Dienst zu verlassen oder zu vertauschen, ja ich vermochte ihn nicht einmal dazu, die Strapazen, die seinen jungen Körper aufreiben müssen, sich zu erleichtern. So folgte ich, von Angst getrieben, schon von Kiew den Märschen seines Bataillons.« – »Und nun?« – »Gott selbst hat entschieden! Das Bataillon, zu dem er gehört, ist durch seinen Ratschluß in diesem Augenblick wahrscheinlich vertilgt aus der Reihe der Bestehenden, er vielleicht das einzige Leben von tausenden, das mit Ihrer Hilfe gerettet ist durch mich. Seine Pflicht gegen den Kaiser und sein Vaterland ist erfüllt, sein neues Leben gehört mir, seinem Retter und einzigen Verwandten. Ich werde ihn mit fortnehmen aus diesem Lande, wo der Mensch nur die Zahl ist in den Augen seines Herrn, und ihn, fern von hier, nach einem ruhigeren Leben führen, wo meine letzten Tage seinem Glück geweiht sein und ihn Besseres kennen lehren sollen als die Opferung für Zwingherrschaft und Tyrannei.«
»Aber Wanda, Ihre Nichte?« – »Sie lieben sie?« – Eine dunkle Glut überflog das edle Gesicht des jungen Tschetschenzen. – »Warum soll ich leugnen, wessen ich mich nie zu schämen brauche? Es wird das Glück meines Lebens sein, daß ich nur einen Dienst ihren Freunden zu leisten hoffen durfte und jetzt sie selbst auslösen kann aus der Gewalt von Menschen, die für sie Fremde und Barbaren sind. Ehe der Mond noch einmal seinen Kreislauf vollendet, wird die Gräfin Wanda in den Armen der Ihrigen sein.« – »Und verloren für dich, Tor!« sagte der Greis hastig. »Halte fest, was das Glück dir beschert; du bist würdig, sie zu besitzen.«
Djemala-Din sah ihm erstaunt, bestürzt ins funkelnde Auge ... »Warum wollen Sie eine Hoffnung wecken, die nie verwirklicht werden kann?« – »So liegt es an dir allein, Mann! Keinem möchte ich Wanda lieber gönnen als dir, dem künftigen Führer eines freien und edlen Volkes, das Polen mit Strömen von Blut und unvergänglichem Haß rächt an den Unterdrückern, das allein Rußlands Macht bisher widerstanden hat. Nimm sie hin, die Tochter Polens, die du dir gerettet unter dem Mordmesser der Raubgesellen und die dich liebt mit dem Feuer ihrer edlen Seele. Wanda denkt zu groß und hochherzig, um nicht dem Mann ihrer Liebe zu folgen auch über die Grenzen der hohen Zivilisation, und an ihrem Geist, ihrem Heldenfeuer und freiem Sinn wird deine eigene Seele und Begeisterung zum Kampf für die Freiheit.« – »Glänzender Traum – hoch über dem Glück der Sterblichen, wie der Adlerhorst meiner Ahnen über den niedern Tälern der Kabardah!« – Er preßte die Hände auf die stürmisch klopfende Brust. – »Welches Bild zeigst du mir, o Vater – sie, die Tochter milderer Sitten und Künste, die Göttin des Nomaden? – sie, die Schöne und Zarte, das Weib des Kriegers der wilden Berge, die Christin das Weib des Moslem – – –«
»Was kümmert das die Liebe?! Deine Sache, Fürstensohn der Abchasen, ist es, dem Polenkinde den Willkomm und das Haus zu bereiten unter deinem Volke; deine Sache ist es, die Braut zu gewinnen, indem du sie zurückbehältst in deinen Bergen oder mit dem Säbel in der Faust aus dem Lager der Russen holst. Der Segen und die Einwilligung eines Greises, eines Verwandten, sei mein Abschiedsgeschenk an dich für ihre und Michaels Rettung.« – Er schrieb eifrig beim Licht des Feuers auf ein Blatt einer Brieftafel, siegelte es und gab es dem ehemaligen Offizier. – »Das Wort des Bruders ihrer Mutter wird ihr weibliches Zaudern beseitigen, wo es die Erfüllung eines hohen Lebenszieles gilt. Möge der Himmel euch schützen und Polens Tochter durch ihre Liebe sühnen, was Polens Söhne in den Reihen Rußlands gegen ein freies Volk gefrevelt haben. Danke mir nicht, Djemala-Din, mein Sohn – dein und Wandas Glück liegt in deiner eigenen Männerhand. Von deinen Bergen sende mir mit ihr den Gruß der Freiheit – und laß uns ruhen nach dem Sturm der Natur und der Seelen, denn die Ruhe tut diesem alten Körper not!« Er drückte ihn innig an seine Brust – dann schlich er nochmals zum Bett seines schlummernden Enkels und teilte mit dem Tscherkessenfürsten das Lager, das die Gastlichkeit der Mennoniten ihnen bereitet. – – – – – – – – – –
Der wilde Schneesturm dauerte mit gleicher Heftigkeit, wie die Tataren es vorausgesagt, bis zum Nachmittag des andern Tages. Jeder Versuch, während des Morgens ins Freie zu dringen zur Aufsuchung der Verunglückten, scheiterte an der Wut des Orkans und der grimmigen Kälte. Erst mit der beginnenden Dunkelheit legte sich der Aufruhr der Natur ebenso plötzlich, wie er entstanden, und es konnte die Verbindung mit den nächsten Gehöften wieder hergestellt werden. Aber nirgendswo fand sich eine Kunde von dem unglücklichen Bataillon, und die ganze männliche Bevölkerung der Kolonie und der in ihrer unmittelbaren Nähe liegenden Stanzia machte sich noch am Abend auf, beim Schein des hellen Sternenlichts die Spuren der Vermißten zu suchen ... Djemala-Din und Bogislaw begleiteten sie, während der Graf bei dem infolge der ausgestandenen Leiden erkrankten Knaben zurückblieb. Eine Stunde weit von der Kolonie, mitten in der öden Steppe, fand man die Bestätigung des gräßlichen Unglücks, nachdem man schon lange vorher in einer tiefen Regenschlucht das zerschmetterte Gefährt des Grafen und mehrere Bagagewagen, sowie rings auf der weiten Schneefläche zahlreiche Leichen Erfrorener vereinzelt entdeckt hatte. Ein Berg von Schnee, von dem Sturm zusammengewirbelt, wölbte sich hier gleich einer mächtigen Tumule, aus dessen Grunde menschliche Glieder und Waffen hervorragten. Die Steppenwölfe umheulten den riesigen Grabhügel und flohen bei Annäherung der Lebenden.
Mit rüstiger Kraft von Stunde zu Stunde sich ablösend, ging man daran, die Lawine zu öffnen – je weiter man kam, desto herzzerreißender wurde das Schauspiel, das sich den Blicken bot. Haufen von Leichen übereinander liegend, starr und eisig, daß bei den Stößen der Schaufeln und Hauen die Glieder wie Glas absprangen, enthüllten sich den Augen. Als der Morgen tagte, stieß man auf das Schrecklichste. In dichtem Haufen gedrängt, aufrecht fest an einander gepreßt und durch ihre Masse sich haltend, viele noch die Gewehre in den erstarrten Händen, standen mehr als dreihundert Leichen, ein Karree von toten Kriegern, in ihrer Mitte der Podpolkawnik, ihr Führer, gleich als erwarteten sie den Feind ... Und der Feind war über sie gekommen, aber nicht der, dem Menschenkraft und Menschenmut widerstehen konnten im ehrlichen Kampf. Die grause Kälte hatte ihre Kraft gebrochen, die Grabesluft des Schnees ihren Mut mit dem Leben getötet. In den starren Augen schien noch der Trotz des Kriegers zu funkeln, die Reihen schienen nur des belebenden Kommandos zu harren, um sich zu neuem Leben zu entfalten. – Aber der Kommandoruf, der sie weckte, sollte nur die Posaune des ewigen Weltgerichts sein, die die Gräber öffnen wird und die Toten laden zum Gerichte des Herrn!
Der junge Tschetschenze floh schaudernd von der schrecklichen Grabstätte. Noch am selben Tage schied er von dem Grafen und seinem früheren Schulgenossen und setzte seine Reise nach Perekop und Kertsch fort; denn der Gedanke, die Geliebte schutzlos unter seinen tapferen, aber wilden Landsleuten zu wissen, drängte ihn zur fieberhaften Eile. Ende Februar langte er in Chassawjurth an, wo der Fürst Tscheftsawadse sich aufhielt, und seine eigene Ungeduld beschleunigte die Verhandlungen.
Der 22. März war der Tag, den der Emir selbst zur Auswechslung der Gefangenen an den Ruinen des Forts von Schoib-Kapu an der Grenze der großen Tschetschnia bestimmt hatte. – – – – – – –
Den jungen Unterfähnrich, den einzigen, welcher aus jener furchtbaren Nacht von dem Bataillon das Leben gerettet, fesselte wochenlang Krankheit an das Haus des menschenfreundlichen Mennoniten und mit ihm den alten Grafen, seinen Großvater und dessen treuen Diener. Nur langsam ging die Kräftigung des Jünglings wieder vor sich, und sehnsüchtig saß er am Fenster des kleinen Stübchens, das ihr Wirt ihm eingeräumt hatte, und schaute den Kolonnen nach, die Tag um Tag vorüber nach dem Süden zogen zu Kampf und Ruhm.
Der alte Revolutionär sorgte mit der Aufmerksamkeit und Liebe einer Mutter für jedes Bedürfnis, für jede Pflege des Enkels, während jedes seiner Worte ihn für seine Pläne zu gewinnen berechnet war. Das Schweigen des Jünglings galt ihm als Zugeständnis für die Erfüllung seiner Wünsche, und schon bereitete er ihre Abreise nach Odessa vor, um von dort nach Frankreich oder der Schweiz zu gehen, als an einem Morgen der Unterfähnrich plötzlich verschwunden war. Ein zurückgelassener Zettel zeigte ihm die Täuschung, in die er sich gewiegt hatte. Die Worte lauteten: »Tausend Dank und Segen für Deine Liebe, Großvater, aber Michael Lasaroff hat das Herz eines Russen, und sein Platz ist in Sebastopol!«