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Nein – so ging es nicht weiter.
Sie konnte ihr Leben, wie es jetzt war, nicht länger ertragen, und sie wollte auch nicht!
Fort, fort – gleichviel wohin! Nur ein paar Tage lang andere Luft atmen. Fremde Möbel um sich sehen und unbekannte Menschen, die sie nicht bemitleideten. Andere Wege wandern – Wege, von denen man noch nicht wußte, wohin sie führten. Nachts den Kopf auf ein Kissen legen, das nicht so viele, viele Tränen aufgesogen hatte . . .
O Gott, o Gott – einmal dem ewigen Schmerz entfliehen! Sie hütete und pflegte ihn schon lange genug, müde, hilf- und trostlos, wie eine Mutter ihr Kind, das niemals wieder gesund werden kann.
Aber allein mußte sie gehen. Das war die Hauptsache. Wenn sie Ernstchen mitnahm, würde der sie immer erinnern . . . Er hatte zu viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Darin lag die tägliche Qual, von der der arme kleine Schelm nichts ahnte. Sie konnte die schmerzhafte Wollust nicht lassen: zu belauschen, wie die feinsten, seltsamsten Züge, die sie an Friedrich geliebt und durch die er sie gepeinigt hatte, in dem kleinen Jungen auferstanden und weiter wuchsen. Das nervös-sensible Temperament, das in Freude und Leid gleich über alle Grenzen ging, und damit vereint das kalt Grüblerische, die beinahe lauernde Beobachtungsgabe – der ungeduldige Ekel an jeder Unvollkommenheit und bei einem Hang zur Melancholie die heftige Sehnsucht nach ruhiger, stetiger Heiterkeit . . . Übrigens – kein Wunder – sie besaß all diese widersprechenden Eigenschaften ja selbst. Sie war eine ihrem Manne zu verwandte Natur, so sagte sie sich tausendmal. Darum hatten sie sich nicht ineinander finden können. Die Schwierigkeiten, das Zerrissene, an dem er schon im eignen Wesen schwer genug trug, fand er bei ihr wieder. Es mußte ihn bis zum Wahnsinn reizen – da er sie einmal nicht mehr liebte oder vielleicht niemals geliebt hatte.
Bei dem Kleinen lag die Gefahr in der großen, altklugen Zärtlichkeit und Sorge, die er für sie empfand.
Ein Bübchen von kaum sieben Jahren sein und Tag und Nacht den Jammer einer verlassenen Frau mittragen und mitfühlen – es war ja eigentlich grauenhaft . . . Sie spürte es oft dem Kinde an, wie sich etwas in ihm gegen das fortwährende Leiden empörte. Wie er dann bei geringen äußeren Anlässen gehässig und boshaft und zornig werden konnte – ganz wie sein Vater. Und nachher die Gewissensqualen, die die arme kleine Seele wieder durchmachen mußte. –
Dem Jungen würde es eine größere Erholung sein, in der Stadt mit der alten Köchin zu hausen, als mit ihr aufs Land zu gehen, sagte sich Walborg mit herzzerschneidender Bitterkeit. Sie rieben sich gegenseitig auf. Wie sie und Friedrich es getan . . . Bis ihr schließlich für ihre heiße Liebe ein hysterischer Haß und Widerwille zum Dank wurde. Das durfte nicht sein. Sie sah es kommen – und zum zweitenmal in ihrem Leben durfte ihr das nicht geschehen.
— — — — —
Sie stellte sich einsame Waldwege vor, auf denen sie schweigend wandern und stille werden würde. Und dann friedlich und ein wenig gestärkt heimkehren.
In solchen Gedanken richtete Walborg ihren Koffer.
Zwischendurch beschlich sie der Zweifel. Mit jedem Stück des täglichen Gebrauchs packte sie etwas von ihrem täglichen Leiden ein – ging es also nicht mit ihr? Mußte sie es nicht an dem fremden Ort mit den Dingen wieder hervorholen?
Aber trotzdem . . . Sie hatte noch niemals den Versuch gemacht, sich zu retten. Seitdem das Gericht vor nun bald zwei Jahren die Scheidung ausgesprochen, und sie damit in dem verzweifelten Kampf um ihres Gatten Herz und Liebe endgültig besiegt worden, galt es ihr als unabänderliche Tatsache, daß ihr Leben bis in seine Wurzeln zerstört war.
In diesem Sommer begann sie zuerst aus dumpfer Finsternis aufzublicken und die Zerstörung in ihr mit dem Verstande schaudernd zu betrachten. Von dem Zeitpunkte an fragte sie sich, was geschehen könne, um die Wunden zu heilen. Sie wollte das in der Einsamkeit überdenken.
Am Rande des Kiefernwaldes stand der Gasthof, auf dem weißen Sand der märkischen Ebene. Ein rötlich-violetter Streifen Heidekraut, der breite, zerwühlte Fahrweg und dann Kartoffel-, Rüben- und Roggenfelder, weitgedehnt, um den Horizont rings der Saum blaudunkler Wälder. Ein sehr einfaches Landschaftsbild, aber es gefiel Frau Walborg. Eine Bekannte hatte das Gasthaus empfohlen. Sie sei im Juli mit ihren Kindern draußen gewesen und gut verpflegt worden. Man sei auch so ungeniert. Das alles hatte Walborg zugesagt und sie auf die Idee gebracht, ihre eingeschlossene Existenz zu durchbrechen. Für eine weitere Reise, die planvoll ins Werk gesetzt werden mußte und mit allerlei Schwierigkeiten und dem Verkehr mit Menschen verknüpft war, hätte sie doch nicht den Mut gefunden.
Sie wollte ja auch nichts Ungeheuerliches erleben. Nur Ruhe und Frieden wollte sie genießen. Nun saß sie am Morgen nach ihrer Ankunft im Heidekraut. Ein dünnes Bändchen, eine Novelle von Turgenieff, lag ihr im Schoß. Sie hatte ein paar Seiten gelesen, und dann mochte sie nicht mehr. Irgend etwas in ihr widerstrebte plötzlich heftig und wollte sich nicht vom Dichter in seine Stimmung zwingen lassen. Dieser graue Nebel über den Dingen – diese Traurigkeit, in die er seine Menschen einspinnt – der dumpfe Bann, der sich sacht auf den Leser lenkt, bis eine müde Hoffnungslosigkeit wie ein unabwendbares Schicksal seinen Geist und seine Seele lähmt . . . Das war heute nichts für sie. Damit wollte sie hier nicht wieder beginnen.
Und als sie lange hinaus in den blauen Himmel sah, das Flimmern der Sonne auf dem weißen Sandweg über den Gewächsen der Felder beobachtete und auf die verschiedenen Düfte merkte, die bald herbe, bald honigsüß, harzscharf oder mildkräftig aus Wald und Rain, von den Skabiosen und den Erikakelchen und von den Breiten des reifen Roggens zu dem unbegreiflich wundervollen Arom des heißen stillen Sommermorgens zusammenströmten, da fühlte sie schon, daß sie noch empfinden konnte. Es stahl sich eine zarte Freude an der Erscheinung der Welt in ihre Sinne. Ihre Glieder dehnten sich, sie legte sich auf das weiche, nachgebende Blumenpolster, verschränkte die Arme unter den Kopf und reckte sich aus. Ach, war das wohlig angenehm. Wie gut, daß sie nicht gezögert hatte, und nun gerade die schönen Tage fand, die ersten ganz sicher schönen nach vielem Regen.
Mittags war sie erstaunt, eine ganze Table d'hote vorzufinden. Man hatte in der Veranda gedeckt, die aus rohem Kiefernholz etwas unmotiviert neben das alte Haus gebaut war. Die Gäste bestanden meist aus Städtern, welche mit den Vorortzügen herausgekommen waren. Das Haus selbst beherbergte nur ein paar alte Damen und deren Nichten oder Töchter.
Walborg hatte gar keine Toilette gemacht, nicht einmal das Haar geordnet; kleine Blättchen und winzige Erikazweige hingen ihr noch in dem Nacken-Knoten, der wirr und lose geworden war vom Liegen. Die Sonne hatte sie förmlich durchglüht, sie fühlte, wie ihr die Wangen brannten. Die Hausgenossinnen ihr gegenüber am Tisch redeten sie gleich an und betrachteten sie mit augenscheinlichem Vergnügen. Walborg schwatzte munter, sie wunderte sich über sich selbst, wie zutraulich und lebhaft sie war. Als sie aufstand, um zu gehen, grüßte man sie von allen Seiten. Das machte ihr Spaß. Früher hatte sie große Macht über die Menschen besessen – dann war sie unsicher geworden, weil die schöne Herrscherkraft bei dem Einen versagte. Und selbstquälerisch hatte sie beobachtet, wie die vergrämte Frau auch den Freunden gleichgültig zu werden begann.
Die alten Damen hatten ihr innig die Hand gedrückt. Heiter ging Walborg über den mit bescheidenen Blumenanlagen dürftig gezierten Vorplatz durch die offenstehende Haustür in den breiten, altmodischen Flur. Sie hatte eine Frage an die Wirtin zu richten. Diese, eine behäbige Frau, stand in Unterhandlung mit einem soeben angelangten Radfahrer. Sein Fahrzeug lehnte am Tor. Er glühte vor Hitze. Walborg sah seinen braunroten Nacken, auf dem kleine Tropfen glitzerten. Nein, war der Mann echauffiert! Er blickte sich nach ihr um und lächelte, halb verlegen, sich in diesem Überzug von Staub und Schmutz vor einer Dame zeigen zu müssen. Aber es stand ihm nicht schlecht, denn er war jung und kräftig und seine Augen glänzten lustig. Es strahlte förmlich eine heiße Lebensfreude von ihm aus. Als er Walborg wartend stehen sah, ließ er ihr höflich den Vorrang. Nachdem ihr Anliegen seine Erledigung gefunden, dankte sie ihm mit einer Kopfbewegung und ging durch den Flur auf den Wirtschaftshof hinaus. Sie wohnte im Rückgebäude, das nach dem Walde lag, in der oberen Etage. Man hatte sie hier einquartiert, weil sie um Ruhe gebeten hatte und weil man hier nichts von dem Kommen und Gehen der Tagesgäste spürte. Neben ihrem Zimmer befand sich ein großer, leerer Tanzsaal, der nur einigemal im Jahre benutzt wurde.
Walborg schloß, in ihrem Zimmer angelangt, die Jalousien, zog ihr Kleid aus und legte sich aufs Bett. Ein unendliches Wohlgefühl durchströmte sie. Im Einschlafen hörte sie Poltern vor ihrer Tür, Stimmen und Schritte, die sich wieder entfernten.
Von dem Tanzsaal führte eine Glastür auf einen breiten Balkon. Walborg hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft entdeckt. Wenn man dort oben saß, schaute man mitten in das Geäst der alten Kiefern hinein. Sie hatte nach der Reise, froh dieser völligen Abgeschiedenheit, stundenlang träumend dem leisen Rauschen der Wipfel gelauscht, und bei dem eintönigen Wogen und Summen war sie schließlich doch wieder dahin gelangt, ihren alten Jammer neu zu zergrübeln.
Heute durchschritt sie wieder das große, verstaubte Gemach und trat hinaus, als das Abendrot den Wald zu färben begann. Sie sah eine Gestalt am Geländer lehnen, bestrahlt von rötlichem Licht, auch drang der Duft einer Zigarre zu ihr. Sie erkannte den Radfahrer, der am Mittag eingetroffen war. Er grüßte. Sie empfand einen ärgerlichen Verdruß. Es war ihr fatal, daß sie in ihrem Reich nun nicht mehr allein war. Am liebsten wäre sie sofort wieder umgekehrt.
»Es scheint, man hat uns beide hier oben mutterseelenallein einquartiert«, sagte der junge Mann lächelnd.
»Ich lege Wert auf völlige Ruhe«, antwortete Walborg kühl, er konnte merken, daß seine Gegenwart ihr lästig fiel.
»Nun – ich pflege mich nach einer weiten Tour in der Nacht außerordentlich still zu verhalten«, versicherte er eifrig; »ich hoffe also, die gnädige Frau nicht allzusehr zu stören.«
»Ich glaube, es ist für uns beide Platz in dieser weitläufigen Etage«, bemerkte Walborg liebenswürdiger.
Auf ihren freundlichen Ton hin redete er noch ein wenig und erzählte ihr, daß er beabsichtige, am nächsten Tage mit seinem Rade weiter zu gehen.
Und dann verstummten sie.
Von der schwindenden Sonne gesandt, wandelte das Abendglühen durch den Wald und glitt an den braunen Stämmen und Ästen empor, daß ihre Rinde sich rot und röter zu färben begann, bis ein purpurnes Leuchten überall, so weit das Auge reichte, aus dem dunklen Nadelwerk hervorstrahlte.
Und immer höher stieg der feurige Schein. Ein mächtiges, ein geheimnisvolles Leben in den alten Kiefernkronen. Als bräche die Glut, die sie den Tag über in ruhiger Kraft bezwungen und an sich gehalten, nun aus ihrem Innern hervor. Gleichsam von einer gewaltigen Leidenschaft entzündet, heiß, stark und innigglühend stand der Wald.
Und plötzlich war alles vorüber: das Leuchten – die Farbe – die Form – das Leben der Bäume. Mit einem Schlage. Starr, kalt, tot, in unbestimmten Massen verschwanden sie im fahlen Grau der aufsteigenden Dämmerung.
Der Mann neben Walborg wendete ihr sein Antlitz zu. »So möchte man leben und so sterben«, sagte er. »Wenn das Glück uns faßt, sich ganz durchflammen lassen und dann – kein Sehnen und Zappeln und Sperren und Haltenwollen . . . Aus – und vorbei!«
»Wohl dem, der die Kraft hat, so zu fühlen«, antwortete Walborg.
»Ha, – man kann sich dazu erziehen«, rief der Radfahrer fröhlich. »Glauben Sie mir, gnädige Frau, nur dann hat man was und manchmal sogar recht viel vom Leben.«
»Das mag wohl sein«, erwiderte sie ausweichend.
Er berichtete ihr nun plaudernd von seinen Abenteuern den Tag über, und ließ harmlos, mit einer Art von kindlich-liebenswürdiger Eitelkeit merken, wie er auf seinem Rade der eigenen Gewandtheit und Geschicklichkeit froh werde. Walborg konnte das ganz gut verstehen, und die Offenheit, die Natürlichkeit, mit der er sich zeigte, wie er war, gefiel ihr. Nebenbei bemerkte sie, daß eine angenehme Frische von seinem Körper ausging. Er hatte also gebadet. Das gab ihr gleich ein gutes Vorurteil für ihn.
Als sie sich zurückzog, schüttelten sie sich die Hände.
Nachdem Walborg ihre kleinen Halbschuhe vor die Türe gesetzt hatte, während sie den Riegel vorschob, wurde sie plötzlich in der Einsamkeit ihres Zimmers ganz rot. Es war ihr ein wunderlicher Gedanke durch den Kopf gegangen.
Gnädige Frau,« sagte der Kellner, »ich habe Ihr Frühstück auf den Balkon getragen.«
»'s ist recht, Georg.«
»Es wird heut sehr schwül. Jetzt geht die Luft noch ein wenig. Der Herr, der gestern angekommen ist, sitzt auch schon draußen.«
Walborg stutzte.
Ach Unsinn – sie war doch kein Kind mehr. Warum sollte sie nicht mit diesem Fremden eine halbe Stunde schwatzen, da sie sich doch gut unterhielten . . . Mit schmerzhafter Wehmut ergriff sie das Bewußtsein: sie war eine freie Frau – sie hatte nach niemand zu fragen.
Er stand auf, als sie heraustrat, wischte sich eilig den Bart mit dem kleinen Serviettchen und verbeugte sich. Seine Blicke liefen an ihrer Erscheinung hinab, und ein leises Lächeln, halb, schelmisch, halb bewundernd, zuckte um seine Nasenflügel.
Sie setzte sich und schenkte Tee aus dem kleinen, neusilbernen Kännchen in die Tasse. Er klagte etwas über die Hitze. Heut sei kein Tag, an dem man radeln könne. Zerstreut stimmte sie zu.
»Nein, wie verwandelt der Wald ist«, sagte sie . . . »Gestern abend die tiefen, satten Farben: Purpur, Braun, Schwarzgrün – heut alles hell, zart, duftig. Der feine Glanz der Nadeln gegen den blauen Himmel – und jetzt, wo der Wind durch die Kronen weht, das silberig-grüne Flirren und Flimmern . . .«
Er betrachtete sie, nicht die Baumkronen, während sie sprach, und lächelte wieder.
»Wundervoll«, sagte er leicht ironisch.
»Sie haben ja gar nicht hingesehen.«
»Was wollen Sie – ich bin kein Naturschwärmer.«
»O –!«
»Ja – ich habe mich nach der Richtung hin geprüft . . . Sie mögen mich nun verachten, ich fühle positiv nichts. Eine hübsche Gegend ist mir nur wichtig als Rahmen für sonstiges Gute: für den Sport – für die Liebe!«
»Sie übertreiben – gestern abend zum Beispiel . . .«
»Das war ein Sensationsstück, das die Natur uns vorspielte – man betrachtet es, wie man sich eben ein gelungenes Theaterstück ansieht. Aber die geheimen, wundersamen Entzückungen . . . Ich denke oft: da steckt auch ein rechtes Stück konventionelle Heuchelei.«
»Viele Menschen empfinden sie in Wahrheit.«
»Viele –? Einzelne!«
»Nun ja, einzelne«, sagte Walborg nachdenklich, und sie dachte der Angst, wenn sie gefühlt, daß sie Friedrichs Farben-, Formen- und Stimmungsschwelgereien nicht verständnisvoll genug hatte folgen können – der Furcht, ihn durch einen unrichtig gewählten Ausdruck, durch Schweigen oder Reden zu reizen und zu kränken.
»Freude an der Natur ist eben ein Genuß wie ein anderer auch – man muß sich nur nicht einbilden, daß er besser oder edler oder gütiger macht«, sagte sie, und es war ihr dabei angenehm, wie wenig man ihrem leichten Ton die schwere Erfahrung anhören konnte.
»Wenn Sie es so meinen, bin ich einverstanden«, rief er lebhaft. »Nur der Kultus, den man in Deutschland mit so etwas treibt, ist mir verhaßt, wie jeder Kultus. Deutsche Naturempfindung – deutsches Gemüt – deutsche Treue usw. Das letzte ist auch so ein Kapitel . . . Warum bewundern wir eigentlich Treue? Im Augenblick, wo sie bewußt ausgeübte Pflicht wird, vernichtet sie sich selbst und ist in Wahrheit schon gebrochen.«
»Sie ist eben keine Tugend, sondern eine Eigenschaft. Weh' dem, der sie hat, sie kann zu einem bösen Schicksal werden.«
»Das ist eine arge Ketzerei, gnädige Frau!«
Walborg lachte. Rieger sah mit Erstaunen und Interesse, wie ernst ihre Augen blieben, während dieses leise spöttische Lachen ihren Mund umspielte.
Sie plauderten noch eine Weile so fort. Walborg fand plötzlich ein aufregendes Vergnügen darin, um die Wette mit dem fremden Manne ihre eignen Ideale, die sie so elend gemacht, zu zerpflücken und in alle Winde zu verstreuen.
An diesem Nachmittag schlief sie nicht. Mit fieberhaft arbeitendem Hirn und pochenden Schläfen lag sie auf ihrem Sofa.
Wieder der seltsame Gedanke von gestern abend.
Er ließ sie nicht.
Und er wuchs und wuchs – nahm Gestalt an . . . Hatte je eine Frau den Mut gehabt, solchen Gedanken zu packen, festzuhalten – danach zu handeln? Mit klarer, kalter Überlegung?
Und wenn sie den Mut besaß?
Was hatte sie denn zu verlieren?
— — — — —
Während sie mit Rieger auf der Veranda über Fragen der Literatur und der Kunst disputierte, und lebhafter und kühner wurde, harrte eine tödliche Angst in ihrer Seele – ein Grauen vor dem eignen Wollen. Das Gespräch geriet auf gefährliche Pfade – wie war es möglich, die Liebe zu umgehen?
»– Wissen Sie wohl, daß ich noch niemals einer Frau begegnet bin, die so rücksichtslos und zugleich so graziös mit ihrem ganzen Seelenvermögen va banque spielen kann?« sagte der Mann. »Alle Achtung!«
Und da blitzte und funkelte das Lachen auch in ihren ernsten Augen. Mit einem Schlage verwandelten sich Angst und Grauen in eine wilde Lust an jedem Wagnis.
Am nächsten Morgen auf dem Balkon, wo sie nun schon wie gute Freunde miteinander hausten, teilte Rieger Walborg mit, er warte auf Briefe und müsse deshalb noch bleiben.
Sie hatte gewußt, daß es so kommen mußte.
Sie hatte seinen Entschluß ja selbst herbeigeführt.
Und doch war sie bestürzt und erschüttert.
Gleich nachdem sie das Frühstück genossen, ergriff sie ihr Buch und ging in den Wald. Rieger hatte gefragt, was sie vornehmen wolle, aber in ihrer unbestimmten Auskunft lag die Antwort, sie wünsche seine Begleitung nicht. Beklommen saß sie auf den knisternden, dürren Nadeln. Die Luft war heiß und still, von Harzgeruch erfüllt, fast betäubend. Walborg saß mit geöffneten, trockenen Lippen, die Hände matt im Schoß; ein atemraubendes Warten zehrte in ihr, wie ein glimmender, noch eingeschlossener Brand.
Nein – durfte das sein? Was tat sie denn? Liebe war ja doch etwas Furchtbares! Aber sie liebte ihn auch nicht, den Fremden. Es war nur ein toller Siegerstolz, daß sie wieder begehrt wurde.
Ha – ha –! Sie sprang auf und warf die Arme über den Kopf zurück und reckte sich empor.
Endlich wieder – endlich wieder . . .!
Sie strich mit den Händen über ihr Gesicht, über Stirn und Haar, als müsse sie die Schmach der letzten Jahre von sich streifen, gleich einer welken Haut.
— — — — —
Mittags war Rieger zurückhaltender, förmlicher und ernster, als sie ihn noch gesehen. Aber sie wollte ihn nicht wieder lassen. Sie mußte den Triumph auskosten. Hatte Friedrich nicht gesagt, sie gehöre nicht zu den Frauen, in die Männer sich verliebten? Darum könne sie sich nicht wundern – er habe sich eben geirrt, und Freundschaft reiche zur Ehe nicht aus. Wie ihr das Wort als eine ewige Wunde im Herzen brannte –.
Sie hatte das Mittel gefunden, ihre Seele von dem Gehaßten zu lösen . . .
Nur rücksichtslos, grausam gegen sich selbst – nur kein Schwanken und Zweifeln . . .
Rieger begleitete sie nach Tisch um das Haus, durch den Garten. Er ging stumm neben ihr, und sie schwieg auch.
Ein trockner, glühender Wind raschelte mit den verdorrten Blättern der Gebüsche und wirbelte kleine Wolken feinen Sandes von den Wegen empor. Die Augen schmerzten Walborg in dem grellen, weißen Sonnenglanz; wenn sie die Lider schloß, sah sie rote Funken durch blaue Finsternis tanzen.
»Ich will hinaufgehen«, murmelte sie leise.
»Warum?«
»Ich bin müde.«
»Gehen wir in den Wald, Sie können dort ruhen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist zu heiß.«
»Ja, es ist sehr heiß.«
Sie sahen sich an. Seine Lippen bebten unter dem Bart.
»Also – auf Wiedersehen . . .?«
Sie standen und sahen sich an. Langsam, schwer hoben sie die Hände und legten sie ineinander. Fest umklammerte er die ihre.
»Hätten wir uns früher gefunden«, murmelte er.
Sie ging mit gesenktem Haupte. Er blieb auf demselben Fleck. Sie fühlte seinen Blick, als schreite sie in Flammen.
– – – – Eine Zeit darauf hörte sie seinen Schritt in dem leeren langen Korridor vor ihrem Zimmer. Sie sprang auf, glitt nach der Tür und lauschte, das Ohr am Holzwerk. Sie war entkleidet und schauderte, die nackten Arme über die Brust zusammengedrückt; sie fror in der Mittagsglut. Sein Schritt zögerte und hielt inne. Sie hatte darauf gewartet. Zitternd tastete sie nach dem Riegel. Ja – er war geschlossen. Ihr deuchte, sie müsse ersticken.
Der Mann ging langsam weiter. Sie schlüpfte auf ihr Lager zurück, drückte den Kopf in die Kissen und weinte.
Später entfloh sie in den Wald. Trotz der schwülen Luft ging sie immer weiter zwischen den schlank aufstrebenden, dünnen Stämmen. Und sie ging sehr weit. Unruhe und Fieber trieben sie, doch war sie froh gestimmt. Sie kam bis zu einem See, der flach und grau in einem Ausschnitt des Kiefernbestandes lag. Der Wald war hier für eine Weile zu Ende, man sah über andere Felder. Schweres Dunstgewölk von einer seltsam fahlen, gelbrötlichen Farbe stand am Himmel. Man spürte hier auch wieder den heißen Wirbelwind. Wenn er über das graue Gewässer fuhr, zeichnete er es mit flimmernden Kreisen und Kurven, daß es schien wie eine mit gekräuselten Ornamenten geschmückte Stahlplatte.
Dort saß Walborg lange in einer Ecke, wo die Bäume sie vor dem Winde schützten. Vor ihr kroch eine Schnecke über ein bestaubtes Klettenblatt. Ihr fiel eine Beobachtung ein, die sie vor Jahren gemacht; wie sie einmal zwei Schnecken zugesehen hatte, die sich einander näherten, schwerfällig und doch für Schnecken erstaunlich eifrig, und sich mit den Fühlhörnern betasteten, als küßten sie sich. Walborg war grausam genug gewesen, die armen Liebenden zu stören, kleine Barrikaden von Hölzern zwischen sie zu bauen, und mit dem größten Erstaunen hatte sie nun bemerkt, wie energisch der Wille der trägen, schleichenden Tiere da wurde, wie sie sich hoch aufreckten und gegeneinander stürmten, wie leidenschaftlich sie sich zeigten. Das Schauspiel hatte sie gespannt und erregt.
An jenem Maimorgen bei den vernunftlosen, armseligen Tieren war ihr plötzlich der tiefe Zusammenhang klar geworden, der durch die ganze Natur geht und sie alle – alle die Lebewesen ewig und fest miteinander verbindet. Es war ihr wie eine Offenbarung.
Jetzt kroch das Schnecklein einsam seinen Weg über das verstaubte Blatt, denn es war August, und wo war seine Maigefährtin geblieben?
Die Menschen hatten doch manches vor den Schnecken voraus, dachte Walborg.
— — — — —
»Wir verstehen uns eigentlich recht gut«, sagte Rieger einmal zu ihr. Walborg schüttelte den Kopf.
»Sie kennen mich nicht.«
Sein Wesen, seine Art – der selbstverständliche, heitere Zynismus seiner Lebensauffassung waren ihr fremd, kaum sympathisch, doch erregend.
Oder schürten nur die eigenen Gedanken, der krampfhaft ergriffene Wille ihn zu erringen, das Feuer in ihr?
Als er sich einen Stuhl holte und neben sie setzte, abends auf der Veranda, fühlte sie eine bange Freude durch ihren Leib rinnen, den heimlichen Genuß an seiner körperlichen Nähe. Sie sprachen auch kaum noch miteinander – Worte ohne rechten Sinn. Sie lächelten ohne Ursache und fragten sich viel mit den Augen. Aber keines wagte noch die rechte Antwort zu geben.
Einmal griff er über den Tisch, um Streichhölzer für seine Zigaretten heranzuziehen. Da fühlte sie, wie seine Schulter die ihre berührte, vorsichtig, es konnte auch Zufall sein, so flüchtig war es – die fremden Menschen saßen ringsum und keiner hätte es bemerken können. Aber sie litt und verstand atemlos eine erste, wortlose, verstohlene, fragende Liebkosung.
Zwei Stunden später, als sie heim wollte, sich vor dem wilden Pochen ihres Blutes – sich vor ihm in ihrem stillen Stübchen zu retten, verabschiedete sich Rieger in Gegenwart der übrigen Gäste förmlich von ihr. Das machte sie sicher. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch ein Stück in den Wald zu gehen. Es war totenstill, beängstigend still, zwischen dem Gewirr der hohen Stämme. Das Mondlicht fiel hell durch die dürren Baumkronen auf den Boden – eine gespenstische Helle, verschleiert von den Schatten der Nadelzweige.
Walborg drückte beide Hände an das springende, schlagende Herz. Ein unbändiger Jubel war in ihr.
Er will mich, er begehrt mich . . . –!
Ihr war, als könne Friedrich fühlen, daß ein anderer sie an sich reißen wollte – als müsse es ihm auf eine geheimnisvoll magnetische Weise weh tun. Er war seiner Macht über sie zu sicher gewesen.
O – sie war stark – viel stärker, als sie selbst gewußt. Sie ballte die Hände und knirschte mit den Zähnen, und ihre Augen glänzten kriegerisch.
Frei sein – frei und erlöst von all dem Leiden. Neu beginnen – neu genießen . . . Und geliebt werden . . .
Geliebt . . .
Ach – sie war auch klug geworden. Sie wollte gewiß nicht wieder nach Seelenharmonie und dergleichen bedenklich schmerzlichen Dingen verlangen . . .
Sie sah Riegers weiße Stirn vor sich, die so scharf von dem sonnverbrannten Gesicht abstach, das kurze, dichte, dunkle Haar, das vergebens versuchte, sich zu kleinen Löckchen zu krümmen, – sie sah seinen kräftigen, verführerischen Mund mit den festen, weißen Zähnen – und sie bebte vor Lust.
Mit geschlossenen Augen, in taumelnder Müdigkeit schwankte sie weiter – blieb stehen – versuchte sich zu beherrschen. Eilig ging sie zurück. Am Waldrand fand sie Rieger. Er hatte hier auf sie gewartet, unter den Ästen einer breiten Kiefer, wo er sie sehen mußte, wann sie daher kam, im Mondschein, der auf dem weißen Wege lag.
»Warum wollen Sie schon hinein?« bat er. »Es ist ja so schön hier. Und dort ist eine Bank – Sie kennen sie ja. Lassen Sie uns noch ein wenig plaudern.«
Sie schüttelte den Kopf.
»O bitte – bitte –«
»Nein – ich will nicht.«
Sie wußte selbst nicht, warum sie das sagte. Sie wollte ja. Aber sie fürchtete sich plötzlich. Eine Feigheit ergriff sie vor dem Sturm in der eigenen Brust. Und ihr schauderte vor dem Manne.
Schnell und rücksichtslos schritt sie weiter.
»Was ist denn geschehen«, so hört sie seine Stimme. »Sind Sie mir böse? habe ich etwas getan, sie zu beleidigen?«
»Nein, nein. Aber es ist ja schon viel zu spät, sehen Sie denn das nicht ein?«
»Durchaus nicht. Wir sind doch selbständige Menschen.«
»Ja schon. Ich will nicht.«
»O – das ist etwas anderes«, sagte er verletzt und kalt.
Da schämte sie sich wieder ihrer wilden Angst. Vielleicht war alles nur in ihr, und er meinte nichts als Freundlichkeit und harmlose Bewunderung. Ja – sie wünschte, daß es so wäre.
»Gute Nacht, Herr Rieger, schlafen Sie wohl«, sagte sie mit einem Versuch zu ruhiger Heiterkeit und wendete sich zu ihm zurück, denn sie war schon einige Schritte vorangegangen.
»Gute Nacht, gnädige Frau«, antwortete er, nachdem er ihr die Hand gedrückt. »Sind Sie mir auch nicht böse?«
»Nein – warum sollte ich?«
»Ja – was war denn das eben – der Ton? – Ich bin ganz erschrocken – ich hatte mir wirklich nichts gedacht, als daß es oben erstickend heiß sein würde, und daß wir noch ein wenig plaudern könnten. Dabei ist doch kein Unrecht.«
»Gewiß nicht. Ich bin müde.«
»Sie sind nicht müde.«
Nun wußte sie, daß er eben gelogen hatte. Und sie wurde weich und übermütig zugleich, indem sie schnell weiter schritt und hörte, daß er ihr folgte.
»Nehmen Sie sich in acht, Herr Rieger, hier sind Stufen.«
Er war neben ihr und faßte ihre Hand. »Führen Sie mich«, bat er leise.
»Ob die Tür noch offen ist? Ich möchte nicht wieder über den Hof.«
»Sie ist offen. Ich habe sie vorhin versucht.«
Das Haus war schon dunkel. Er zündete ein Streichholz an und leuchtete ihr durch den Flur und ein Stück Treppe hinauf.
»Unser einsames Reich«, murmelte er zärtlich.
»O – in den Dachstuben hausen die Mädchen und die Knechte«, scherzte sie.
Die winzige Leuchte verlosch.
»Ich habe kein zweites«, flüsterte er. »Darf ich Sie leiten?« Er nahm ihren Arm und drückte ihn an seine Brust.
Aneinandergeschmiegt stiegen sie schweigend die übrigen Stufen empor.
Oben faßte er sie heftig und suchte ihre Lippen. Sie sträubte sich ein wenig, aber er hielt sie fest und küßte sie, bis ihr Atem und Besinnung verging. Zuletzt riß sie sich doch erschrocken los, lief davon und schloß sich ein.
Sie wußten beide, daß es nur eine kurze, letzte Pause war, ehe sie sich angehörten.
— — — — —
In ihrem einsamen Reich, wo niemand sie störte und niemand sich um sie kümmerte, genossen sie ihr jähes Glück und die heißen Sommernächte. Auf dem mondbeleuchteten Balkon, den nur die schweigenden, dunklen, hohen Waldbäume belauschen konnten, in dem weiten, weißgetünchten Tanzsaal mit dem verstaubten Kronleuchter und den aufeinandergelegten Stühlen im erhöhten Orchester tollten sie, und küßten und neckten sich. Es war, als habe Rieger die Macht, ihr von seiner derberen, genußfreudigen Natur zu schenken.
Am Tage lagen sie mit Büchern, die nicht gelesen wurden, und Zigaretten, die Rieger trotz heftigster Verliebtheit rauchte, im rötlichen Heidekraut am Waldsaum – schläfrig, über die Gluten seufzend, nach Regen und Abkühlung verlangend und doch sehr fröhlich. Oder sie schlenderten durch die Felder, und führten törichte, frivole Gespräche, von denen sie außerordentlich befriedigt waren.
In Gegenwart anderer Menschen waren sie sehr gesetzt und hüteten ihr Geheimnis sorgfältig. Aber die alten Damen hielten sich jetzt auffällig von ihnen fern, und Wirt und Wirtin zeigten ihnen eine freundliche Protektion.
Mit kraftvollem Leichtsinn riß der Mann Walborg über alle Gefahren scherzend hinweg. Bei seinem geflissentlich zur Schau getragenen Egoismus war viel zarte Güte in ihm. Und seine Liebe kannte kein Pein-Bereiten. Walborgs Herz brannte vor Dankbarkeit. Sie lernte viel in diesen Sommertagen.
Sie lernte die große Wahrheit von der Notwendigkeit der Freude. Nicht nur ein bedenklicher Luxus war sie ihr nun. Nein, o nein – durch Schrecken und tödliche Schauer hatte sie mit starker Hand das rettende Kleinod ergriffen und drückte es triumphierend an die erlöste Brust.
Walborg trat aus der Bahnhofshalle. Ein Dienstmann sollte ihr den Koffer heimbringen. Warum denn einen Wagen nehmen an diesem feuchten, schattigen Abend, der so erquickend war, nachdem der Mittag das ersehnte Gewitter gebracht hatte. Sie fühlte sich nicht ermüdet von der kurzen Reise, im Gegenteil: sie sehnte sich danach, ihre Glieder zu bewegen. Mit einem gütigen Lächeln blickte sie auf die Spaziergänger, die durch die Straßen strömten, auf die Bürgermädchen mit den bunten Hüten und den hellen Kleidern, die am Arme ihrer Liebsten still-befriedigt oder lebhaft-kokett umherwandelten. Walborg erinnerte sich, wie die Menschen sie gereizt und geärgert hatten, als sie vor zehn Tagen die Stadt verließ. Jetzt konnte sie sich mit humoristischer Fröhlichkeit an dem alltäglichen, ein wenig albernen Glück ihrer Mitmenschen ergötzen. Sie war nicht mehr getrennt von ihnen durch einen alten, starren, fürchterlichen Schmerz – sie war den kleinen Mädchen mit den lächerlichen Hüten und den hellen Kleidern ordentlich gut. Denn sie fühlte etwas Gemeinsames mit ihnen.
Und die auf dem Pflaster spielenden Kinder hätte sie bei den Händen fassen und mit ihnen Ringelreihen tanzen mögen. Sie beschleunigte ihren Schritt – hatte sie nicht ihren eignen kleinen Jungen fast vergessen in dem Genesungsrausch nach langer Todesqual . . .
Ihr Heim empfing sie mit Lichtern, Kränzen und Blumen. Und Erni stürzte ihr mit einem hellen Jubelschrei entgegen, sprang ihr jauchzend, schreiend vor Entzücken an den Hals. Sie hielt ihn, küßte ihn, drehte ihn im Kreise umher, wirbelte mit ihm in den Salon hinein, und atemlos, lachend fielen sie in einem zärtlichen Knäuel auf die Chaiselongue nieder.
»Gnädige Frau sind aber munter«, sagte die alte Dienerin erstaunt.
Später saß Erni ihr auf dem Schoß, der dünne, schmächtige Junge mit dem feinen, spitzen Gesichtchen, streichelte ihr die Wangen und betrachtete sie eingehend.
»Mama – du bist so anders«, sagte er nachdenklich.
»Dummes Bübchen, wieso denn?«
»Ja – ich weiß nicht – du bist so anders . . .«
Walborg wurde rot.
»Ach, was du redest.«
»Du gehst so leicht, und deine Kleider wiegen sich, wenn du gehst. Du bist so lieb, so lustig . . . Ach – Mamachen – du gefällst mir so gut!«
Walborg lächelte resigniert. Ihre Augen hatten einen tiefen, feuchten Schimmer, ihre Brauen zogen sich im Leiden zusammen. – Zu denken, daß sie den sogenannten ewigen Moralgesetzen nach in diesem Augenblick hätte Reue empfinden müssen . . . Was galt Reue gegen den totenstillen Gram der Erkenntnis, der unter ihrer Freude lag?
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Sie drückte das Köpfchen ihres Kindes an ihre Brust, daß es ihr nicht mehr ins Gesicht zu sehen vermochte, und liebkoste sein Haar mit zarter, leichter Hand.
»Du Erni – jetzt laufen wir viel spazieren, was? Und legen uns ins Gras und erzählen uns Geschichten . . .«
»Ach ja!« schrie der Junge begeistert. »Bist du nicht mehr immer so müde. Mamachen?«
»Nein, ich bin nicht mehr müde.«
»Mamachen –«
»Was denn, mein Junge?«
»Es ist auch ein Brief gekommen . . .«
»Ja,« fragte Walborg zerstreut, »von wem denn?«
Der Knabe zögerte mit der Antwort. Er schmiegte sich an seine Mutter. Geheimnisvoll flüsterte er ihr ins Ohr: »Ich glaube, er ist von Papa.«
Walborg ließ ihren Sohn los. Sie wurde kalt und blaß vor Schrecken.
»Du irrst dich wohl, Kind«, antwortete sie still.
Was sollte er ihr schreiben?
Erni brachte den Brief herbei. »Sieh mal, das ist doch Papas Handschrift.«
»Ja – du hast recht.«
»Kommt er denn wieder?« fragte das Kind gespannt. »Lies doch schnell!«
»Erni, sei verständig,« sagte Walborg scharf, »Papa fragt jedenfalls nach Dingen, die dich nichts angehen. Und wiederkommen tut er nicht.«
Sie steckte den Brief in die Tasche. Der Kleine sah enttäuscht drein. Sie erhob sich und schickte das Kind hinaus.
Was wollte er?
– Was konnte er noch von ihr wollen?
Nachdem er sich zwei Jahre lang nicht um sie gekümmert . . . Gerade heut –?
Sie riß das Kuvert auf und las. Ihre Brust spannte sich unter einem tiefen Atemzuge, ihre Nasenflügel bebten, ihre Wangen brannten. Mit einem innern Jauchzen der Verachtung warf sie das Schreiben auf den Tisch.
Er meldete ihr seinen Besuch in einer geschäftlichen Angelegenheit, fragte dringend und demütig, ob sie ihn empfangen würde.
Ja – sie wollte ihn schon empfangen . . .
Und sie durfte ihm zeigen, daß seine Macht über sie gebrochen war . . . Er kam wieder, nun er sie für immer verloren hatte . . . Wie sie das genießen würde!
Sie hatte Friedrich nach seinem Wunsch ihre zusagende Antwort telegraphiert. Schwere, wirre Träume peinigten sie die ganze Nacht hindurch. Was in aller Welt konnte er von ihr wollen, fragte sie sich zornig in jeder Viertelstunde. Es war ganz seine Art – sie so unnötig zu quälen. Und das Wiedersehen würde Erni aufregen. Der Junge würde dann eine lange Weile immerfort von seinem Vater sprechen, und davor fürchtete sie sich. Sie mußte ihn entfernen – aber Friedrich würde jedenfalls seinen Sohn sehen wollen. Sie kam zu keinem Entschluß.
Abends ging sie noch eine halbe Stunde an die Luft. Die Sache erregte sie doch ein wenig, sagte sie sich – aber das war natürlich – ganz natürlich.
Als sie heimkam, gegen halb neun, öffnete die alte Dienerin ihr mit etwas verstörtem Gesicht die Tür.
»Der Herr ist drin. Gerade seit ein paar Minuten ist er da. Ich traute mich doch nicht, ihn abzuweisen.«
»Ich erwartete seinen Besuch – aber erst morgen«, antwortete Walborg kühl. »Und Erni?«
»Schläft schon. Ich habe ihm gesagt, er sollte bloß den Jungen nicht wecken.«
»Das ist gut, Auguste.«
Walborg nahm Hut und Mäntelchen ab, trat vor den Spiegel und ordnete das Gelock über der Stirn.
Mochte er warten. Es war doch wundervoll angenehm, keine Angst mehr zu fühlen vor seiner bösen, ungeduldigen Laune. Sie lächelte spöttisch in sich hinein.
In ihrem Salon schaute sie suchend umher, erstaunt, Friedrich nicht zu erblicken. Die nur angelehnte Tür ihres Schlafzimmers öffnete sich. Den Kopf mit dem spitzen, blonden Bart ein wenig vorgestreckt, den weichen, braunen Hut in der Hand, trat Friedrich, auf den Zehen balancierend, heraus.
So hatte sie ihn unzählige Male aus der Tür kommen sehen, wenn er abends noch ausging und das schlummernde Kind nicht stören wollte.
»Er schläft ganz fest«, sagte der Mann leise mit gerührtem Lächeln. »Wie groß er geworden ist – gar kein kleines Kind mehr – schon ein richtiger Junge.«
Sie nickte mit dem Kopf, ohne ein Wort der Begrüßung finden zu können.
»Ich muß mich entschuldigen, hier eingedrungen zu sein während deiner Abwesenheit«, begann er befangen und kühler im Ton. »Aber ich . . . ich konnte die Zeit nicht erwarten. Das war doch begreiflich.«
Sie blickte ihn an und bemerkte, daß er den Bart kürzer trug als früher. Beinahe hätte sie eine Äußerung darüber gemacht, als ihr einfiel, daß es sie gar nichts mehr anging, daß es ein fremder Mann sei, der dort aus ihrem Schlafzimmer und von ihrem Kinde kam.
Ein fremder Mann? Wie ähnlich Erni ihm war. Ganz derselbe Blick, mit dem er sie anschaute, mitleidig, freundlich und bittend. Wie erwachsen der Blick bei dem Kinde, wie kindlich er bei dem Manne wirkte. Und immer hatte Friedrich sie so angeschaut, wenn er etwas von ihr verlangte, was ihr furchtbar erschien . . .
»Du bist gewiß erstaunt, mich hier zu sehen«, begann er wieder verlegen.
»Ja – was wünschest du von mir?« fragte sie kalt. Der Ton klang viel herber und feindseliger, als sie beabsichtigt hatte. Denn sie war ja doch auch von dem Haß gegen ihn befreit.
»Willst du dich nicht setzen?« fügte sie freundlicher hinzu.
Er nahm einen Stuhl und legte den Hut neben sich auf einen Tisch.
Sie stand noch eine Sekunde, wollte zum Sofa gehen, um ihm ferne zu sein, und setzte sich plötzlich auf ein Fauteuil, weil die Knie ihr einknickten und es ihr schwindlig wurde.
»Ja – da ist man nun wieder in den alten Räumen . . . Wunderlich, – wunderlich . . .«
Sie hob überrascht den Kopf. Ihr war, als erwache sie aus einem tiefen Schlaf, der ihr Bewußtsein noch halb umnebelte. Es war doch natürlich, daß er hier saß – zum Erstaunen war es nur gewesen, daß er gegangen und so lange fern geblieben.
»Ich komme nämlich, um eine Angelegenheit mit dir zu erledigen, die uns beiden gleich sehr am Herzen liegen muß«, begann er in seiner etwas pedantischen Weise, und dann lachte er unbehaglich.
»Wir sind am Ende doch verständige Menschen. Nun alle die unangenehmen Geschichten so lange hinter uns liegen, können wir ja auch wieder ganz gute Freunde werden.«
»Gewiß«, sagte sie höflich, weil sie sich aufs neue zu der Empfindung durchrang, daß sie von der Liebe und dem Haß zu ihm ja befreit sei.
»Soll ich nicht die Lampe . . .«
»Ach nein – es bleibt ja jetzt so lange hell.«
»Ich würde dir eine Zigarre . . ., aber ich habe keine im Haus . . .«
»Es macht nichts. Ich kann mich nur kurz aufhalten. Und ich rauche auch fast gar nicht mehr.«
Dies berichtete er ihr ganz in seinem alten vertraulichen Ton, dem Ton, der sie immer wieder in die Täuschung eingewiegt hatte, er liebe sie doch noch, ohne es selbst zu wissen.
Jetzt tat es ihr plötzlich weh, daß irgendein anderer Einfluß erreicht, was sie so oft und vergebens versucht hatte: ihm das unmäßige Rauchen abzugewöhnen.
»Du siehst übrigens gut aus«, bemerkte er. »Ganz frisch und verjüngt!«
»Du auch, Friedrich.«
»Es ist mir lieb, wenn du das findest«, rief er lebhaft.
»Warum sollte es mich nicht freuen?« fragte sie heiter.
»Ja – es gibt nichts Besseres, als auseinander zu gehen, wenn man seiner gegenseitig überdrüssig geworden ist.« Und er streckte sich behaglich in seinem Stuhl.
»Da hast du wohl recht«, antwortete sie träumend.
»Siehst du? Ich wußte ja, daß du schließlich auch zu der Erkenntnis kommen mußtest. Du bist doch im Grunde eine gescheute und großdenkende Frau, wenn nur das unglückselige weibliche Gemüt dir keine Streiche spielt.«
Sie dachte, während er sprach, sie müsse ihn einmal genau betrachten. Neugierig fragte sie sich, wie er ihr wohl erscheinen würde, nun er ihr nicht mehr als ein Feind, sondern als ein gleichgültiger Mensch gegenübersaß. – Sie sah die gekrümmte rote Narbe an seinem linken Auge, die sie so oft im Scherz geküßt hatte. Und die eingedrückten Schläfen, die Furche, die auf dem schmalen, nervösen, geistreichen Männergesicht von der Nase bis zum Munde herunterlief, die seinen, witternden Nüstern, der spitze, blonde Bart um das vorgestreckte Kinn, der sich beim Sprechen ein wenig auf und nieder bewegte. »Man kommt schließlich auch dahin, das weibliche Gemüt zu überwinden«, sagte sie und wußte dabei, daß sie irgend etwas ganz anderes hatte sagen wollen.
Aber es freute ihn augenscheinlich, daß sie gerade dies aussprach.
Er beugte sich zu ihr und antwortete herzlich:
»So ist's recht. Dann werden wir uns schnell verstehen.«
Sie sprach nicht, sondern blickte in Gedanken versunken vor sich nieder.
»Ja – ja . . .«
Eine Pause.
»Es geht mir gut, Walborg. Denk' nur, ich habe die Absicht, mich wieder zu verheiraten . . . – – Ja – ja . . . so ist das Leben . . .« –
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»Ich habe nun eine Bitte an dich. Fahre nicht gleich auf und schrei' nicht nein, sondern höre mich ruhig an . . .
Sie schrie ja gar nicht. Sie saß ganz still. Sie hätte nicht einen Finger rühren können vor Schrecken.
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Verheiraten . . .? Er wollte sich verheiraten . . . Nicht eine Geliebte – eine Ehefrau . . . Ihr Mann – Ja freilich – sie waren geschieden – das hatte sie vergessen. Und sie . . . Jetzt fiel ihr alles wieder ein . . . Und doch, doch so eine fürchterliche Enttäuschung? Hatte sie denn trotz allem, was geschehen war, immer noch die wahnsinnige Hoffnung festgehalten, Friedrich könne zu ihr zurückkehren? Hatte sie es nicht im verborgenen Grunde ihres Gefühls vor einer Stunde noch gehofft? – Das war ja grauenhaft . . . Nein – nein – es konnte ihr vollständig gleichgültig sein, daß Friedrich sich wieder verheiraten wollte. Im Gegenteil, sie mußte es freudig begrüßen. Sie war um so freier. Es war ja nun wirklich alles aus zwischen ihnen beiden . . . Ihr äußeres Ohr hörte dabei immer, was Friedrich weitersprach.
»Also das Mädchen ist wirklich ein reizendes Geschöpf. Voll Humor und Lustigkeit. Gerade was ich brauche. Das glücklichste Gegengewicht. Diese unverwüstliche gute Laune! – Weißt du, Walborg – mir ist in letzter Zeit ganz klar geworden, was uns getrennt hat. Wir machten beide fortwährend zuviel Ansprüche aneinander. Das hält auf die Dauer kein Mensch aus. Das erbittert und geht einem auf die Nerven. Ich habe da auch manches Unrecht an dir begangen. Aus der Entfernung lernt man gerechter urteilen. Ich verlangte ein Wesen von dir, das dir die Natur doch nun einmal nicht gegeben hat.«
»Vielleicht wenn ich glücklicher gewesen wäre«, sagte sie mit großer Selbstüberwindung. »Es waren doch Fähigkeiten zur Lebensfreude da. Ich fühlte nur vom ersten Tage an, daß irgend etwas in mir dich irritierte. Schon in der Brautzeit. Und das machte mich unsicher . . .«
»Das hätte eine andere Frau eben den Mann nicht merken lassen«, belehrte er sie überlegen. »Ich bin gar nicht so schwer zu behandeln, und auch im Grunde nicht schwer zu gewinnen. Man muß es nur auf die rechte Weise anfangen. Du warst nie harmlos unbefangen – nie . . .«
Walborg blieb stumm.
Sie lauschte dumpf gespannt, mit kaltem, starrem Entsetzen nach innen: Wie ein Gefühl, das sie abgestorben glaubte, sich wieder meldete. Während er redete, kam und ging es ruckweise, dann als beginne er behutsam ein Messer in ihre Brust zu bohren, anfangs nur ein taubes, wehes Empfinden . . . und plötzlich der rasende Schmerz – –
Er lachte mit einemmal laut und ärgerlich. »Warum reden wir nur über die alten abgetanen Geschichten. Kaum bin ich mit dir zusammen, fängt's schon wieder an!«
Er sprang auf und ging im Zimmer umher. Bei seinem Wandern nahm er eine Vase vom Schreibtisch und betrachtete sie.
»Schade – gekittet. War so ein hübsches Ding! Man sollte Sachen, die zerbrochen sind, wegtun.«
Walborg dachte an den Morgen, als er sie zur Überraschung auf den Frühstückstisch gestellt hatte – die ganze Stube war voll Sonnenschein gewesen – und er so lieb –. Die Erinnerung an einen der wenigen warmglücklichen Tage in ihrem Verhältnis – und sie hätte sie wegtun sollen . . .
»Erni hat sie an die Erde geworfen«, murmelte sie entschuldigend. »Er weinte so, daß ich ihn nicht strafen konnte . . .«
Friedrich schüttelte den Kopf und stellte das Glasgefäß gleichgültig beiseite.
»Ist er immer noch so zart und empfindsam? Erni meine ich?«
»Ja, sehr.«
»Er hat doch eine trübe Kindheit – der arme, kleine Mensch.«
»Ich kann's nicht ändern«, antwortete sie hart.
»Ich weiß – ich weiß«, sagte er traurig und sehr sanft. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Aber er ist doch auch mein Sohn, und sein Wohl liegt mir am Herzen.«
Ihre Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder.
»Überhaupt fehlt mir der Junge grausam«, rief er ungeduldig.
»Eigentlich könntest du ihn mir für eine Weile mitgeben. Die Eltern meiner Braut – ja – wir sind einig . . . es ist nur noch nicht veröffentlicht. Sie möchte den Jungen gern erst kennen lernen. Ja – also – sie hat mir selbst den Vorschlag gemacht. Sie haben da so ein Häuschen gekauft – sehr nett, im Grünen – unter uns gesagt: sie wollen es uns später überlassen, ich freue mich sehr darauf . . . – Ich habe ihr viel von Erni erzählt, sie ist ein so gutes Herz, hat ihn schon lieb. Sie wird reizend mit ihm sein. Wir bummeln im Wald – sie erzählt ihm Geschichten, das kann sie so hübsch. Ich sage das nur, um dir ein Bild zu geben. Der Junge muß durchaus einmal in eine heitere, vergnügte Umgebung. – Es ist ja ein großes Verlangen und fordert Selbstüberwindung von dir. Darüber bin ich mir ganz klar. Ich möchte dich nur überzeugen . . .«
»Daß er bei dir besser aufgehoben ist als bei mir.«
»Wie hämisch nun wieder.«
»Ich wollte nicht hämisch sein.«
»Nun dann nicht. Verzeih.«
Ein mattes, blödes Lächeln zog ihren Mund schief, daß er anzusehen war wie der Mund einer sehr alten, häßlichen, boshaften Frau.
»Siehst du, liebe Walborg,« sagte der Mann ernst, »so ein Gesicht sollte der Junge nicht zu sehen bekommen. Das ist ihm nicht gut. Er verkümmert einfach in dieser giftigen Atmosphäre.«
Sie schlug ihm nicht mit der Faust ins Gesicht – sie wies ihm nicht die Tür . . .
Sie fühlte nur, wie seine Stimme mit uralter, bekannter Melodie den tödlichen Zauber wieder übte – wie er durch seine Gegenwart, durch seine Person ihre ganze Kraft betäubte. Willenlos saß sie vor ihm und hielt ihm ihre zitternde Seele entgegen, daß er sie marterte, so viel er begehrte.
Er blieb neben ihr stehen, legte seine Hand auf die ihre und blickte sie mit seinen eindringlichen, blauen Augen verlangend an. »– Schickst du mir den Jungen morgen früh an die Bahn? Es ist, wie gesagt, nur ein Versuch.«
»Ein Versuch?« lallte sie mit schwerer Zunge und starren Lippen, »du willst ihn behalten.«
»Ich denke nicht daran, dir das Kind fortzunehmen. Nun – nun – das wird sich ja finden. Jedenfalls kannst du ihn immer sehen, wenn du magst.«
»Nein – ich gebe ihn nicht her«, wollte sie schreien, aber sie konnte nicht, denn sie mußte ihre ganze Lebenskraft aufwenden, um nicht in ein wildes Weinen auszubrechen.
»Jetzt soll der Junge sich ja nur ein wenig zerstreuen . . . Lebe wohl, Walborg. Ich hole ihn mir lieber selbst, morgen, nicht wahr? – – Antworte mir doch nur ein Wort?«
Sie nickte geistesabwesend mit dem Kopfe, wie ein Mensch auf der Folterbank auch das Unglaublichste zugibt.
»Dank dir, Walborg. Es ist mir ein rechter Trost, dich so beruhigt und vernünftig gefunden zu haben.«
Der Mann nahm eilig seinen Hut, während er einen mitleidigen Blick über die Frau warf. Er sah, wie etwas in den Zügen ihres Gesichts wühlte, das ihn erinnerte und erschreckte – dem er zu entfliehen wünschte.
Er wollte ihr die Hand reichen, sie riß die ihre jäh zurück. Friedrich zuckte ein wenig die Achseln und ging schnell hinaus.
Walborg fiel schlaff in sich zusammen und starrte in die nächtliche Dämmerung, die grau und fahl das Zimmer zu füllen begann.
– – Es war umsonst gewesen – alles umsonst. Sie war nicht vor ihm gerettet – sie mußte die Qual weiter tragen, ihr Leben lang. –