Gabriele Reuter
Frauenseelen
Gabriele Reuter

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Clementine Holm

Frau Clementine Holm wohnte in einem Hause, dessen rechte Seite das Freskogemälde eines Drachens mit blauem Kopf und gelbem Schweif zeigte, während sich links von der Eingangstür drei Mandarinenbäume und eine große Sonne mit einem Menschengesicht befanden. Frau Clementine war begeistert von diesen primitiven Malereien und hatte das Haus nur um ihretwillen gewählt, trotzdem seine Lage im Levantiner Viertel unbequem war und auch nicht für comme il faut galt. Sie hatte eine Neigung zum Ungewöhnlichen und gab der deutschen Kolonie in Alexandrien einige Jahre hindurch reichlichen Anlaß, sich mit ihr zu beschäftigen; bis sie dann stiller wurde und endlich ganz still.

Nicht, daß sie aufregende und skandalöse Liebesabenteuer gehabt hätte, was ja bei einer noch ansehnlichen Witwe von üppigen Formen und mit schönen braunen Augen nicht unerhört gewesen wäre. Aber schon der Umstand, daß sie meist – in ihrem Hause immer – barfuß und in langen, weiten, wallenden Gewändern von leuchtenden Farben einherwandelte, erregte bei den deutschen Frauen, die eine solide, ehrbare Sitte unter dem fremden Mischvolk hoch zu halten wünschten, einigen Anstoß. Frau Holms lebhaftes Temperament suchte Betätigung und fand sie in der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die sie auf ihre eigene, etwas romantische und gewaltsame Weise betrieb. Sie weigerte sich standhaft, Mitglied des deutschen Nähvereins zu werden, weil sie befürchtete, der Schlag könne sie dort vor langer Weile rühren. Sie tat nichts für das Diakonissenhaus, dieses Lieblingskind der Kolonie, und ihr Name fehlte regelmäßig auf den Sammelbögen für die protestantische Kirche. Sie befand sich stets in Opposition zu dem, was offiziell vorgeschlagen wurde. Dagegen hatte sie eine ganze Reihe von Privatschützlingen, für die sie wirkte und schaffte. Bald stöberte sie irgend ein illegitimes Paar auf, das weder Glück noch Stern gehabt hatte und gerade am Verhungern war, als sie mit köstlichen Fleischgelees und Hühnerpasteten eigener Fabrikation anrückte. Bald war es die ganze kinderreiche Familie eines verkrachten Kaufmannes, für die gesorgt, genäht und gekocht werden mußte. Bald war es ein unsäglich talentvoller Musiker, den sie dem Schicksale entriß, in einem Kontor sein Brot verdienen zu müssen, indem sie ihn ohne Bedenken für ihren Ruf in ihr Haus aufnahm, mit ihm vierhändig spielte und ihm aus ihrer Chaiselongue-Decke von braunem Peluche einen Rock machen ließ, welchen der Unglückliche bei dem Konzert, das sie für ihn arrangierte, tragen mußte. Junge Leute, männlichen und weiblichen Geschlechts, die in der Hafenstadt nach irgend einer Existenz suchten, waren ihre bevorzugten Protegés. Ihnen eine Anstellung zu verschaffen war ihr eine wahre Lust. In den Geschäftsstuben der großen Handelshäuser, auf dem Konsulat, ja in den türkischen Ministerien, überall kannte man Frau Clementine Holm und empfand einen bangen Schrecken, wenn die umfangreiche Gestalt in ihren phantastischen Gewändern und großem, wogenden Hute erschien und sich zu energischen Vorschlägen breit und wuchtig in den ihr höflich gebotenen Sessel niederließ.

So kam es, daß Frau Holms Haus immer von Persönlichkeiten bevölkert wurde, die nicht gerade zu den sicher gefestigten Stützen der Gesellschaft gehörten und dem Ton in ihrem Salon einige lärmende und freie Noten verliehen.

Sie hatte ihre großen, weißgetünchten Räume in einem romantisch-orientalischen Stil herausgeputzt, der mehr auf deutschen Künstlermaskenbällen als im Orient selbst zu Hause ist.

Mit besonderer Freude drapierte sie junge Mädchen, die bei ihr aus- und eingingen, stellesuchende Bonnen und Lehrerinnen, angehende Chansonetten-Sängerinnen und Novizen für das Ballett der Kairiner Oper in die wunderbaren Stoffe und Schmucksachen, welche sie in Menge besaß. Die jungen Damen, die allmählich von ihr zusammengeschleppt waren, mußten zu der Beleuchtung bunter Papierballons auf dem flachen Dache des Hauses phantastische Stellungen einnehmen oder auch Tänze ausführen, zu denen Frau Holm begleitende Gesänge dichtete und komponierte. Unten auf der Straße sammelte sich bei solchen Gelegenheiten eine Menge von Arabervolk, das lachend die »Fantasia« bewunderte und sich zuletzt kreischend und brüllend um die Reste des festlichen Imbisses prügelte, die Frau Holm ihm hinunterwarf. Es geschah nun wohl, daß eines oder das andere der Mitwirkenden, von so viel Publikum erschreckt, sich weigerte, ferner an den Kunstübungen teilzunehmen. Aber dann konnte Frau Clementine Holm sehr böse werden. Sie haßte »Kleinlichkeiten«.

Entzog sie infolge solcher Zwistigkeiten einem Schützling plötzlich ihre Gunst, so ging dieser in der Stadt umher, hob die Schultern, machte eine wichtige, geheimnisreiche Miene und deutete an, daß die Dankbarkeit ihm zu reden verbiete, sonst . . .

Selbst Leute, welche die warmherzige, impulsive Frau hochhielten, verstanden es zuletzt nicht mehr, daß sie es nicht müde wurde, sich von undankbaren jungen Menschen zum Narren halten zu lassen. Es begannen Stimmen laut zu werden, die ihrer Güte gegen Jünglinge zwischen siebzehn und vierundzwanzig Jahren böse Gründe unterschoben.

Frau Clementine Holm pflegte zuweilen weich und wehmütig zu sagen: Vielleicht hilft eine andere gute Seele dafür auch meinem Ottokar, wenn er in Not ist. Aber das rührte niemanden, denn man glaubte nicht recht an diesen Ottokar, von dessen Existenz die eigene Mutter, wenn man sie darnach ausforschte, nur einen höchst unbestimmten Begriff zu geben vermochte. In Wahrheit hatte er seit zehn Jahren nichts von sich hören lassen. Aber das sagte Frau Holm niemandem. Auch nicht, wie sehr ihr ganzes Tun und Lassen durch diesen schemenhaft gewordenen Sohn regiert wurde. Die kirchlich durchaus freidenkende Frau hegte den mystischen Glauben, daß sie auf eine ihr selbst unerklärliche Weise durch ihre Liebe in die Ferne wirken und das Schicksal ihres Ottokar durch ihr Handeln beeinflussen könne. Selbst von einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Schönheit, welche vielleicht in irgend einem schlummernden Talente ihren Grund hatte, beunruhigt, war es allmählich zur fixen Idee bei ihr geworden, daß ihr Junge seinen Pensionseltern in Deutschland entflohen war, weil das trübe Alltagsdasein eines Gymnasiasten seinem schwärmerischen Geiste unerträglich gewesen sei, daß er nun, ein Pilger auf den Pfaden der Romantik, die Erde durchstreife. Mit lebendiger Phantasie nährte sie diesen Traum: was die weite Welt ihm nicht geboten, solle er, wenn er endlich heimkehren würde, bei seiner Mutter finden. Darum ging ihr Sinnen und Trachten immerwährend darauf, ihr Haus zu einem Hort der Schönheit und der Heiterkeit zu gestalten.

Der Ottokar, von dessen Männlichkeit, Intelligenz, Feinfühligkeit und Güte sie unaufhörlich sprach, ohne das mindeste davon zu wissen, wurde ihren jungen Mädchen, all diesen hübschen, auf schwankem Boden mühsam sich aufrechthaltenden Kindern als ein ferner wunderbarer Lockvogel zur Tugend gezeigt . . . »Denn natürlich für meinen Ottokar kann ich nur eine tadellos anständige Frau brauchen – also merkt's euch!«

Ein »himmlisches Geschöpf«, welches Frau Holm besonders ins Herz geschlossen hatte, weil ihre kecke Anmut sie entzückte, merkte sich's leider nicht. Sie hielt den Ottokar auch für eine Mythe und zog nach kurzer Zeit der Protektion von Frau Holm die eines reichen englischen Junggesellen vor.

Frau Holm weinte bittere Tränen über die Verlorene. Dann meinte sie zu ihren anderen Gästen: Daß es ein reicher Mann ist, finde ich gemein. Ich hätte sie einem armen, schönen Künstlerjungen gegönnt. Auch dieses »Wort« fand seinen Weg in die Öffentlichkeit. Das Künstlerische stand nun aber in der Kolonie, die wie alle überseeischen Kolonien in ihren Familien ein arbeitsames und etwas nüchternes Element repräsentierte, nicht gerade in hohem Ansehen. Man rechnete es noch so ziemlich zum Vagabundentum. Hätte man nicht den verstorbenen Herrn Holm als einen tüchtigen und soliden Kaufmann gekannt, man hätte seine Witwe wohl ganz mit ihren Schützlingen identifiziert. Man zog sich mehr und mehr von ihr zurück. Zu seinen Lebzeiten hatte sie sich in ihrer Eigenart nicht so gehen lassen dürfen. Er hatte wohl auch den Jungen ihrem Einfluß entziehen wollen und ihn deshalb so früh nach Deutschland in Pension getan, meinten die Leute.

Frau Holm sprach niemals über ihren Mann. Sie konnte es ihm nicht eine Stunde lang vergessen, daß es ihr mißlungen war, die Spur des entflohenen Sohnes wiederzufinden. Sie haßte sein Andenken, wie ein leidenschaftliches Weib nur hassen kann.

An einem glühenden Chamsintage, den sie liegend zugebracht hatte, einen Turban von nassen Tüchern um den Kopf gewickelt, verfiel sie aus einem Zustand von nervöser Angst und Aufregung gegen Abend in eine sonderbare Apathie. Und endlich mußte sie wohl eingeschlummert sein und geträumt haben. Oder war es eine Halluzination? Sie ist sich selbst darüber niemals ganz klar geworden. Genug, sie sah ein Bild: In ihrem Salon, in dem sie lag, stand vor dem Klavier, wie vor einem Altar, ein junges Paar, bereit zur Trauung. Der Mann war hochgewachsen und besaß eine große Nase; das Gesicht des Mädchens konnte sie nicht unterscheiden, sie trug nicht das übliche weiße Brautkleid mit dem grünen Kranz, sondern Rosen im Haar und rosenrote Gewänder. Auch das Klavier war mit Rosen- und Geranien-Girlanden geschmückt, Kerzen brannten, ein Prediger im Talar schlug eine Bibel auf.

Ein Gefühl von beinahe kindlicher Glückseligkeit durchströmte Frau Holms Herz. Sie blieb liegen, ohne sich zu rühren, um die Gewißheit länger zu genießen, daß sie ihren Sohn wiedersehen werde . . .

Wie es denn wohl Wirkungen in die Ferne gibt, mochte der Traum eine solche gewesen sein. Durch Vermittelung des Konsulats gelangte nach ungefähr einer Woche ein Brief in die Hände von Frau Holm, in dem ihr Sohn zum ersten Male seit seiner kindischen Flucht Nachricht von sich gab und ihr mitteilte, er hoffe, sie im nächsten Jahre besuchen zu können.

Nachdem Frau Clementine aus dem ersten Freudenrausch wieder zu sich gekommen war, begann ein verdoppelt freudiges und geschäftiges Leben für sie. Wieder tauchte sie bei den einflußreichen Persönlichkeiten der Alexandriner Gesellschaft auf, wo sie zwar viel für andere, aber noch niemals etwas für sich erbeten hatte. Diesmal setzte sie ihnen mit ihrer naiven und eindringlichen Beredsamkeit auseinander, daß sie eine sehr einträgliche und ehrenvolle Stellung für ihren Sohn brauche, denn jeder Mensch müsse doch einsehen, daß sie ihren Ottokar, nachdem sie ihn zehn Jahre entbehrt, jetzt in ihrer Nähe zu haben wünsche.

Noch einmal hielt sie ernste Umschau unter ihren jungen Mädchen und wählte zuletzt eine hübsche, bescheidene Gouvernante als Schwiegertochter. Einige Erfahrungen von Widerspenstigkeit hatten sie gewitzigt. Daß das arme Ding keinerlei Anverwandte besaß und in ihrer kläglich besoldeten Stelle bei ein paar verzogenen Griechenkindern ihr Leben vertrauerte, hatte ihre Wahl vielleicht ein wenig beeinflußt. Desto mehr würde Gretchen den Glücksfall, der sie traf, zu schätzen wissen. Und Gretchen . . . wie dieser Name schon den Weltfahrer heimatlich und traulich anmuten mußte . . .

Frau Clementine vernachlässigte alle ihre anderen Schützlinge um dieses Zukunftskindes willen. Die Waldhexe konnte Hänsel und Gretel nicht mit größerer Sorgfalt füttern und mästen, als Frau Holm ihr zartes Gretchen. Denn »Männer lieben das Füllige«, sagte sie mit ruhiger Sicherheit.

Vor allem mußte Gretchen die konventionelle Modetracht aufgeben, den schönen jungen Körper nicht mehr einschnüren und sich mit den Gewändern bekleiden, die Frau Holm ihr aus selbstgewählten Stoffen schnitt und nähte. Ihr glattes, seidiges, dunkles Haar, welches ihr bis über die Knie reichte, mußte sie aufgelöst herabwallen lassen, um den Kopf nur von einem silbernen Reifen zusammengehalten, und statt Stöckelschuhen trug sie Sandalen. So wurde Gretchen mit ihrer weichen, stimmungsvollen Haltung eine Erscheinung, die in den Kreisen englischer Ästheten Aufsehen erregt haben würde. Ein Londoner Maler von bedeutendem Ruf, der sich gerade in Ägypten aufhielt, lief ihr auch einmal, als sie mit ihren Zöglingen spazieren ging, straßenweit nach und belästigte sie mit der Beschwörung, ihm Modell zu stehen. Infolgedessen wurde ihr die Stellung in dem griechischen Hause gekündigt. Aber Frau Holm war selig. Die Anerkennung ihres Geschmacks durch den englischen Künstler war ihr ein hoher Triumph. Sie liebte von da ab die erwählte Schwiegertochter noch weit zärtlicher. Sie nahm Gretchen nun zu sich ins Haus, um durch keinen fremden Einfluß mehr ihren Erziehungsplan stören zu lassen. Sie las und musizierte mit ihr, sie gab ihr Gesangsunterricht, und Gretchen entwickelte eine Stimme, die so weich und friedlich klang, wie ihre ganze Person anmutete. Sie ließ geduldig alles mit sich vornehmen und sah mit einem so sanften, gelassenen Lächeln dem Unwahrscheinlichsten entgegen, daß sie ein wenig an jene griechischen Schönen erinnerte, denen ein göttlicher Gemahl in Gestalt einer Wolke oder eines Schwanes nahte, ohne daß sie sich besonders darüber verwunderten.

In den heißen Sommernächten, wenn die Moskitos ihre leisen, bösen Summlieder sangen, hatte Frau Holm dagegen manchen inneren Kampf zu bestehen. Da bekam die Freude selbst ein verzerrtes Gesicht und legte ihr schwere, kalte Geisterhände auf die nach Atem ringende Brust.

Wie würde Ottokar wiederkehren . . .?

So sicher, wie sie sich in Bezug auf ihn vor den Leuten zeigte, war sie denn doch nicht.

Welche Art von Mensch war er geworden?

Er schrieb ihr, daß er eine Stellung auf einer Plantage errungen habe, von der er leben könne. Aber was wollte denn das besagen? Was schließt das Wort »leben können« nicht für verschiedene Existenzen ein!

Welche Erfahrungen mochten hinter ihm liegen, welche dunklen Wege mochte er gegangen sein! Und wie viel von dem Schmutz und Staub dieser Wege war nicht vielleicht auf seine Seele gefallen und haften geblieben?

Ihm wollte sie das reine, gute Kind, das Gretchen, ohne Besinnen in die Arme legen . . . War das nicht ein verruchter Leichtsinn oder noch Schlimmeres?

Aber wenn sie so weit in ihren schweren Gedanken gekommen war, dann richtete sie sich auf ihrem Lager in die Höhe und blickte mit heißen Augen in die Nacht . . .

Ja gerade wenn es so war, wenn ihr Junge als ein zerbrochenes, unglückliches, krankes Geschöpf heimkehren würde, dürfte kein Mittel zu kostbar sein, um ihn der Freude, dem Leben, dem Glücke zurückzugewinnen. Und mit entzückter Grausamkeit opferte Frau Holm in ihren schlaflosen Nächten hundertmal das ahnungslose Mädchen auf dem Altar ihrer phantasievollen Mutterliebe.

Je näher die Zeit kam, für die Ottokar seine Ankunft gemeldet hatte, desto leidenschaftlicher und schmerzensvoller wurde Frau Holms Sehnsucht. Die zehn Jahre hatte sie erduldet, die letzten zwei Monate vermochte sie fast nicht mehr zu ertragen. Lag sie nicht wach, in bangen Befürchtungen, so hatte sie quälende Träume, sah ihn in schrecklichen und jammervollen Lagen und konnte ihm nicht helfen. Dann erwachte sie mit lautem Schrei, rief Gretchen und fragte erregt, ob es nicht geläutet habe – sie meine, es stehe jemand an der Haustür. Hatte Gretchen dann durch die geschnitzten Läden geschaut und ihr versichert, nur der Türhüter schlafe draußen auf seinem Baumwollensack, so legte sie sich mit einem tiefen Seufzer wieder nieder. Zuweilen aber wurde die Angst so groß, daß die gewaltige Frau weinend und klagend umherlief und sich und Gretchen alle Gefahren ausmalte, die Ottokar noch auf der Reise treffen könnten. Das gute Kind ging dann stundenlang mit ihr auf und nieder in den Zimmern mit den bunten Draperien, wo Krokodil-Mumien und mit Schildkrot und Silber eingelegte Laternen von der Decke herabhingen. Hatte sie ihre mütterliche Freundin ins Bett zurückgeschmeichelt, so sang sie sie endlich, wie man es bei aufgeregten Kindern tut, mit sanfter, leiser Stimme in Schlaf. Zuletzt stellte sich starkes Fieber bei Frau Holm ein, und sie verfiel so sichtlich, daß Gretchen an Ottokar schreiben mußte, wenn er seine Mutter noch am Leben finden wolle, so möge er seine Reise beschleunigen.

Ottokar dankte ihr in einem leidlich stilisierten Brief für ihre Liebe zu seiner Mutter und bat sie um ihr Bild. Das durfte sie ihm zwar nicht senden, denn Photographien, meinte Frau Holm, geben oft bedenklich falsche Begriffe von einer Persönlichkeit. Aber es war doch eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Ottokar wußte von seiner Mutter Plänen für sein Glück.

Gretchen hatte zwar den schüchternen Vorbehalt zu machen gewagt: sie wolle Ottokar erst sehen, ehe sie endgiltig ihr Jawort gebe. Über diese mädchenhafte kleine Schrulle ging Frau Holm mit kurzem, sicherem Triumphlachen hinweg.

Endlich kam Ottokar. Merkwürdig, wie nüchtern meist solche Augenblicke, in denen sich die Sehnsucht und das Empfinden eines ganzen Lebens zusammendrängt, nach außen wirken. Der junge Holm küßte seine Mutter auf den Mund, und ihr war schwindlig und wirr im Kopfe. Sie sagte nur: »Mein Junge!« und begann zu weinen und streichelte seine Hände.

Darauf führte sie ihn in ihren orientalischen Salon, wo Gretchen stand, mit aufgelösten Haaren und zwei blasse Rosen in dem silbernen Kopfreifen. Ottokar nahm die Vorbereitungen für das, was sie waren. Er warf einen schnellen, prüfenden Blick auf das Mädchen, das verlegen vor sich niederlächelte, ergriff energisch seine Hände, zog es zu sich, küßte es auf den Mund und sagte: »Das ist jetzt also meine Braut!«

Dazu lachte er, mit einem tiefen behaglichen Lachen, und nickte seiner Mutter freundlich zu.

Frau Holm war die schnelle und einfache Entwicklung der Dinge nicht ganz recht. Sie hatte an stummes Werben, vor allem an lange und innige Beratungen zwischen sich und ihrem Sohne gedacht. Und nun war ihr alles gewissermaßen über dem Kopfe weggenommen. Das kränkte sie ein wenig.

Sie hätte es mädchenhafter von Gretchen gefunden, wenn diese fürs erste noch scheu vor Ottokar geflohen wäre.

Aber Gretchen staunte glänzenden Auges den schlanken, großen, schönen Herrn an.

Gott sie wäre ja schon dankbar gewesen, wenn er keinen Buckel und keine Trinkernase gehabt hätte.

Und nun –!

Die zartfarbige Kravatte mit der grauen Perle . . . und die sicheren nonchalanten Bewegungen eines Mannes, der sich in der Welt umgesehen hat. Und dies verwirrende Lächeln in seinen Augen, um seine Mundwinkel, das irgendwie mit ein klein wenig Spott gemischt schien und welches sie nicht zu deuten wußte.

Er beobachtete sie unausgesetzt, während er seiner Mutter Hand hielt und deren Fragen beantwortete. Das bescheidene Gretchen fühlte mit Entzücken, daß sie unvermerkt in diesem Kreise zur Hauptperson wurde. Es wirkte auf das Mädchen wie starker Wein. Ihr hübsches Gesichtchen war ganz in Rosenröte getaucht, sie lachte über Ottokars Scherze und erwiderte sie mit einer lustigen Schelmerei, die Frau Holm noch gar nicht an ihr kannte. Sie ließ sich nicht zwei Sekunden bitten, sondern setzte sich ans Klavier und sang ihre Lieder, die Frau Holm ihr mit unermüdlicher Geduld eingeprägt hatte, denn Gretchen war nicht besonders musikalisch. Der junge Mann trat zu ihr und wendete ihr die Noten um. Als sie das Lied zu Ende gesungen hatte, beugte er sich über sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie antwortete ebenso leise, und es entspann sich eine ernsthafte und eifrige Unterhaltung zwischen den beiden.

Frau Holm saß in der anderen Ecke des Zimmers allein auf ihrem Divan. Es war nur eine kurze Zeit. Und sie hätte still für sich in der Freude schwelgen können, daß ihre Wünsche sich so über alles Hoffen und Erwarten zu erfüllen schienen. Aber statt der Freude überfiel sie eine unbegreifliche Traurigkeit, und sie kam sich so einsam und verlassen vor wie noch niemals in ihrem Leben.

– – Als es zehn Uhr schlug, sagte sie zu ihrer Schwiegertochter: »Du siehst müde aus, Kind, geh' zu Bett.«

Ihr Sohn wollte Einspruch erheben, aber es klang ein scharfer Ton in ihrer Stimme, als sie kurz antwortete: »Gretchen ist gewöhnt, um zehn Uhr ins Bett zu gehen.«

Gretchen war gehorsam. Als sie das Zimmer verlassen hatte, fiel Frau Holm ihrem Sohne mit stürmischer Leidenschaft um den Hals und rief: »Du hattest ja keinen Blick mehr für mich, und ich habe gehungert in Sehnsucht nach dir, zehn Jahre lang . . .«

Der Schrei ging wie ein Messer durch Ottokars Herz. Aber es ist nicht angenehm, Messerstiche zu fühlen, deshalb suchte Ottokar seine Mutter zu beschwichtigen und sagte ruhig, indem er sie zum Divan führte: »Man muß doch gegen die von der Frau Mama erwählte zukünftige Gattin höflich sein . . . – Aber sag' mal, Mütterchen, wo hast du eigentlich dies exzentrische Prinzeßchen aufgegabelt?«

»Ach, exzentrisch – das gute Gretchen? Ich habe Mühe genug gehabt, ihre philisterhaften Anschauungen zu überwinden und sie aus dem alltäglichen Gänschen zu einer Frau heranzubilden, die meines Sohnes würdig ist.«

»So – so! Du hast dies Erziehungswerk an ihr vollbracht«, sagte Ottokar nachdenklich, indem er sich eine Zigarre anzündete. »Nun – da brauchen wir ja noch nicht zu verzweifeln. Aber du bist ganz blaß geworden, Mütterchen, die Erregungen dieses Abends sind doch etwas zu viel für dich geworden, du mußt schlafen gehen.«

»Wie kann ich schlafen,« sagte Frau Holm mit erstickter Stimme, »wenn ich sehe, daß meine Pläne für dich mißglückt sind, daß Gretchen dir nicht gefällt.«

»Morgen ist noch ein Tag, an dem wir weiter über die Sache reden können«, antwortete Ottokar in einer bestimmten Weise, die für den Augenblick das Gespräch definitiv abschloß.

– – Beim Frühstück am nächsten Morgen trug Gretchen die dunklen Zöpfe in einem Kranz um das Haupt gewunden, das lose Gewand war von einem weißen Schürzchen zusammengehalten. Ottokar klatschte in die Hände und rief: »Bravo! Das lasse ich mir schon eher gefallen.«

»Fandest du sie nicht entzückend in dem Kleide, das sie gestern trug?« fragte seine Mutter verletzt.

»Scheußlich!« antwortete Ottokar ruhig. »Ich wäre am liebsten gleich wieder abgereist.«

»Ottokar!«

»Wahrhaftig – ich bekam einen Todesschrecken und habe alle meine Selbstbeherrschung nötig gehabt, um dir den ersten Abend nicht zu verderben. Selten habe ich eine solche Herzenserleichterung gespürt als in dem Augenblick, wo du mir gestandest, daß Fräulein Gretchen sich nur auf deinen Wunsch so hergerichtet habe.«

»Aber Ottokar!« rief Frau Clementine empört, »du willst doch nicht etwa, daß deine Frau sich kleiden soll wie ein Ladenmädchen.«

»Nein, nicht wie ein Ladenmädchen, aber wie eine Dame.«

»Und findest du, daß deine Mutter sich nicht kleidet wie eine Dame?«

Er warf einen Blick über sie hin.

»Ach, Mutter«, sagte er und seufzte. Er dachte an seine Kindheit, und wie die Jungen in der kleinen deutschen Stadt ihn gehöhnt und gefoppt hatten wegen seiner langen Locken und seiner blauen Samtpumphöschen. Und wie er die Samtkostüme verabscheut hatte und seine Mutter dazu . . . Vielleicht war es einer der Gründe, um derentwillen er ihr in den zehn Jahren nicht geschrieben . . . Das Herz hat heimliche Falten, wohin sich alte Kinderschmerzen verkriechen und lange leben bleiben.

Jedenfalls war Ottokar jetzt ein Mann, der seinen Geschmack und seinen Willen ohne besondere Erregung durchsetzte. Er nahm einfach einen Wagen, fuhr mit seiner Braut in ein großes Ausstattungsgeschäft – eine Märchenprinzessin trat hinein, eine fein taillierte junge Pariser Mondaine trat heraus. Gretchens glückliches Gesicht bei dieser Metamorphose beruhigte ihn sehr und schmeichelte auch ein wenig seiner Eitelkeit.

Frau Clementines Mienen waren nicht ganz so befriedigt als die des jungen Paares, während es sich vor ihr zeigte.

»Siehst du, Mütterchen, so kommt Gretchens reizende Figur zur Geltung.«

»Ihr schönes Haar soll niemand sehen als du, ihre Figur willst du zur Geltung bringen . . . Das finde ich eine undelikate Auffassung«, sagte Frau Holm kalt.

»Sie ist doch eine allgemeine«, sagte ihr Sohn freundlich beschwichtigend.

»Wenn du dich nach der Allgemeinheit richtest . . .«

»Gewiß, sie hat meistens recht.«

»So sagen alle alltäglichen Menschen.«

»Ich will auch weiter nichts sein als ein alltäglicher Mensch.«

»Wenn du nur das werden wolltest, hättest du nicht auf und davon und zur See zu gehen brauchen.«

»Mutter, erinnere mich nicht an den wahnsinnigen Streich. Ich habe ihn so bitter gebüßt, daß ich dadurch von allen Extravaganzen gründlich geheilt bin. Aber du machst ein so ernsthaftes Gesicht – hättest du lieber gesehen, ich wäre als ein romantischer Vagabund zu dir zurückgekehrt?«

Frau Holm schwieg und verließ das Zimmer. Dieser Sohn, an dem es so gar nichts zu beschützen, zu pflegen, zu beeinflussen gab, der so wohlgenährt, stattlich und in sich gefestet vor ihr stand, was sollte sie mit ihm anfangen?

In ihr erhob sich ein rebellischer Trotz. Seit vielen Jahren war sie es gewöhnt, immer und überall die Gebende zu sein und die mit etwas Geräusch und Tätigkeit Gebende.

Hier sollte sie nun mit einem Male still sitzen und nichts tun als lieben? Lieben – und sich mit den spärlichen Überresten begnügen, die von seinem Gefühle und von seinem Interesse für sie abbröckelten? . . . Der Löwenanteil fiel ja Gretchen in den Schoß. Ihr, die ihn friedlich hinnahm, die nicht wie Frau Holm sich, seit man ihr das zehnjährige Kind vom Halse gerissen, in Sehnsucht verzehrte, in einer Sehnsucht, die schließlich wurde wie ein verschwiegener, heimlicher Wahnsinn.

Ihre Seele schrie nach all den Küssen, den Zärtlichkeiten, der Liebe, die ihr vorenthalten worden war und die nun dieses junge Ding in Empfang nahm.

Ja, sie hatte schenken, königlich spenden wollen. Aber sie hatte auch eine heiße und stürmische Hingebung von beiden Seiten dafür in Empfang nehmen wollen.

Und nun . . .

Über diesem quälenden Schmerz wollte sie nicht bemerken, wie das arme Gretchen, welches Ottokar täglich versicherte, wie froh sie sei, nicht mehr zum Staunen der Leute herumgehen zu müssen, sich zugleich bemühte, ihrer Schwiegermutter zu beweisen, daß sie auch unter einem Pariser Korsett ihr dankbares Herz bewahrt habe. Frau Holm scheuchte die zarten töchterlichen Liebkosungen durch eisige Schweigsamkeit von sich. Und Gretchen weinte sich an Ottokars Brust aus über den Zwiespalt, in den ihr Gefühl geriet, und er tröstete sie, wie ein verständiger, nüchterner Mann tröstet, und das verband die beiden noch viel inniger.

In Frau Clementine aber tobte und raste die Eifersucht. Sie wurde förmlich zu einer physischen Qual. Gretchens Gegenwart wurde der unglücklichen Frau unerträglich. Schon ihr Schritt, ihre Stimme regte sie auf, kränkte sie, erboste sie.

Überraschte sie das junge Pärchen, wie es sich schnäbelte, oder bemerkte sie, wie Ottokar leise die Hand seiner Braut faßte, so kam eine blinde Wut des Hasses gegen das Mädchen über sie.

Und sie vergiftete den beiden alle Tage und alle Stunden mit boshaften Reden, mit kaltem Schweigen, mit rotgeweinten Augen und einem schlaffen, matten Märtyrergesicht.

Zwischen diesen Seelenerschütterungen aber förderte sie mit aller Energie ihren Plan, dem Sohn eine Lebensstellung in ihrer Nähe zu verschaffen. Gleich nach seiner Ankunft hatte sie ihm ihre Absichten und Hoffnungen mitgeteilt. Ottokar antwortete ihr zwar, er sei mit seiner jetzigen Anstellung im ganzen zufrieden. Aber wenn sie es wirklich erreiche, ihn als Administrator vizeköniglicher Besitzungen zu plazieren, so würde er sich das schon gefallen lassen. Denn seine Gesundheit würde am Ende ein Leben in den Tropen auf die Dauer nicht vertragen.

Frau Holm veranstaltete nun zur Feier von ihres Sohnes Rückkehr ein großes Fest. Sie lud die alten Freunde ihres Gatten dazu ein, und eine Menge Leute, von denen sie glaubte, daß sie ihr zu ihrem Ziele verhelfen könnten. Die ganze Schar ihrer Protegés wurde aufgeboten, denn es sollte etwas ganz Originelles werden, mit Musik, Aufzügen, lebenden Bildern und Tänzen, so wie es die Alexandriner Gesellschaft noch niemals gesehen hatte. Die Vorbereitungen waren für Frau Holm dasselbe, was für einen Dichter die Proben zur Premiere seines Lebenswerkes sind. Sie strahlte vor Glück. Man hörte ihre tiefe, klangvolle Stimme durch alle Räume tönen, über allem Schwatzen und Lachen der jungen Welt, mit der sie umging wie mit Marionetten, die sie an Fäden lenkte. Für Ottokar hingegen gestalteten sich diese Vorbereitungstage nicht sehr gemütlich. Seine Braut entwischte ihm alle Augenblicke, um Spitzenrosetten an verzwickte Samtspenzer zu nähen, aus Fenster-Rouleaux griechische Gewänder herzustellen und Girlanden von Papierrosen über den Türen zu befestigen. Aber Frau Holm bemerkte in ihrem Eifer Ottokars Verstimmung gar nicht. Alles geschah ja doch für ihn! Sie lebte wieder in ihrem Traumlande, wo die Papierrosen zu duftenden Wunderblüten wurden, wo die ein wenig lächerlichen und törichten Reigentänze eine tiefe, feierliche Bedeutung erhielten. Im Grunde ihres Herzens war sie froh, als der festliche Abend anbrach und von den geladenen Familien fast alle sich entschuldigen ließen; da war man die Philister los und konnte unter sich vergnügt sein. Ihr Lachen klang wie das eines jungen, frohen Geschöpfes, als sie, in einen orangegelben Seidenstoff gekleidet, einen Zweig großer weißer Datturablüten wie ein Zepter in der Hand, neben ihrem Sohne saß und die in griechische Gewänder gehüllten jungen Leute tanzend und singend Blumen über sie ausstreuten.

Ottokar machte ein finsteres, gepeinigtes Gesicht. Später traf ihn Frau Holm, wie er mitten in der allgemeinen Fröhlichkeit einem schönen, jungen Italienerburschen, der eines der Mädchen auf den nackten Arm küssen wollte, sehr ernst bedeutete, sofort das Haus zu verlassen.

Zu seiner Mutter sprach er ein böses Wort von Tingel-Tangel-Lustbarkeit.

Er, der Abenteurer, hatte aus allen wilden Fahrten seines Lebens nur ein Ideal gerettet: das bürgerlich Korrekte. Es ging ihm wie manchem vielerfahrenen Manne, der nicht versteht, wie eine Frau unschuldige Freude an Dingen haben kann, die ihm durch unreinliche Erinnerungen vergiftet sind.

Seit jener Abendgesellschaft war seine gelassene Liebenswürdigkeit gegen seine Mutter einem kühlen, fremden Wesen gewichen.

Ottokar hatte Frau Holm schon während der ersten Erwähnung ihrer Zukunftspläne gebeten, bei den Schritten, die sie tun wolle, vor allen Dingen ihrer Würde nichts zu vergeben.

Ob sie diesen Wink völlig verstand und beherzigte?

Es war später nicht wieder die Rede von ihren Hoffnungen und Absichten gewesen. Ottokar nahm sie nicht mehr ernst.

Eines Abends kam Frau Holm mit wogender Brust und mit fliegendem Atem heim, bleich vor Erregung, von Staub und Schweiß bedeckt.

»Ich habe es erreicht! Ich habe es erreicht!« rief sie jauchzend ihrem Sohne zu und fiel erschöpft auf einen Stuhl. »Ich habe den Khedive selbst gesprochen, er hat deine Anstellung genehmigt! . . .«

»Ismail Pascha selbst?« fragte Ottokar ungläubig. »Aber Mutter, wie hast du denn das angestellt?«

»Seit Wochen schon bot ich alles auf, damit der Konsul mir eine Audienz verschaffe. Oder der Minister. Aber sie haben mich immer mit leeren Versprechungen hingehalten. Nun wußte ich aber, daß der Vizekönig in diesen Tagen in Alexandrien ist und seine Mutter besucht. Da habe ich einen Wagen genommen und bin hinausgefahren nach Nummero Talata, dem Schlosse da draußen am Kanal, wo die alte Vizekönigin-Mutter wohnt. Und Zigarren und Gold hatte ich mit mir und einen Korb mit Kuchen und Süßigkeiten.

Und Gott sei Dank, schwatzen kann ich ja Arabisch wie Deutsch. Da habe ich bei dem Soldaten im Schilderhause angefangen und ihm vorgeredet, ich müsse den Vizekönig sprechen, weil mein Kind, das ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hätte, seit es ein kleiner Bub' war, endlich zu mir zurückgekommen sei, und nun wolle es wieder fort übers Meer, wo die Menschen sterben vor Hitze und von den wilden Tieren gefressen werden. Und habe ihm Zigarren zugesteckt und Rupien und Zuckerzeug für seine Kinder . . . Ihr wißt ja – die Araber und Türken – was bei denen die Mutter gilt . . . Überall haben sie mich durchgelassen. Und das Zuckerzeug hat noch mehr gewirkt als das Geld und die Zigarren, weil es für ihre Kinder war.

Und so habe ich im Garten warten dürfen, bis der Vizekönig aus der Stadt gekommen ist im offenen Wagen, mit vier Läufern; deren weiße Ärmel blies der Wind auf, daß sie wie mit ausgebreiteten Flügeln liefen . . . Und wie sie näher und näher getanzt kamen, die braunen Jungen vor den sausenden Pferden her, da war es mir, als brächten sie mir das Glück. Und ich wurde so mutig! Und als der kleine dicke Herr mit seinem roten Fez ausstieg und durch das Portal kam, bin ich ihm einfach zu Füßen gefallen, auf den Gartenkies hin und habe ihm alles gesagt, was ich schon dem Schilderhaussoldaten und den Gärtnern und Türhütern und Kawassen und all den Kerls gesagt hatte. Ganz dasselbe.

Bei ihm war Achmed Pascha, der mich kannte und ihm bestätigen konnte, daß ich die Wahrheit redete. Und Ismail ist eben auch Türke, und Ihr wißt ja, wie viel er auf seine Mutter hält. Und halb war er gerührt und halb hat er gelacht. Wenn man ihn amüsiert, soll man ja alles bei ihm erreichen. Da habe ich mich denn recht zum Hanswurst gemacht. – Was schadete es – es war ja für meinen Jungen. Und da habt ihr nun das Resultat: Administrator in Kaffr Zagat und zwanzigtausend Francs Gehalt im Jahr . . .! Ismail läßt sich nicht lumpen!«

Gretchen fiel ihr um den Hals, weinte, küßte ihr die Hände. Ottokar ging nachdenklich im Zimmer auf und nieder.

»Junge – ist es dir nicht recht?« fragte Frau Holm, aus der siegreichen Aufregung plötzlich niederstürzend in eine klägliche, bedrückte, demütige Stimmung.

»Mutter – du bist eine merkwürdige Frau«, sagte Ottokar. »Man muß dich bewundern und doch – ich möchte, du hättest das nicht für mich getan.«

»Ottokar – bist du so klein?«

»Vielleicht bin ich kleinlich. Aber ich komme nicht darüber hinweg, in Gedanken dich dort knien zu sehen vor dem Manne, der doch nur ein großer Narr ist . . . Ich wollte, du hättest das nicht getan – – Wir reden noch darüber . . .«

»Ottokar – –?«

»Nicht jetzt – nicht jetzt . . . Wenn du ruhiger geworden bist.«

Frau Clementine Holm lag die ganze Nacht hindurch mit unruhigen Gedanken wachend auf dem Lager.

Ihr großer Herzenswunsch war der Erfüllung nahe, sie würde ihren Sohn in der Nähe behalten. Trotz seiner Bedenken zweifelte sie keinen Augenblick an seinem Glück über diese Stellung. Zwanzigtausend Francs Gehalt – das weist man doch nicht von der Hand.

Natürlich würde sie mit nach Kaffr Zagat hinausziehen. Wenn er sich nun nicht verheiratete . . . Welch ein herrliches Leben konnten sie beide mit einander führen. Gewiß würde sie dann nach und nach auch wieder Einfluß auf ihn gewinnen. Sie wollte es ja so gut und klug beginnen, ihn unvermerkt zu den Geistesquellen zu führen, aus denen sie die Nahrung für ihre Seele schöpfte. Denn es ließ sich ja nicht leugnen, daß er ein rechter Alltagsmensch geworden war – ihr Traumgott und Held. Wer mochte übrigens wissen, wie weit auch hier Gretchens heimliche Einflüsterungen im Spiele waren. Sie hatte sich gründlich in dem Mädchen getäuscht. Eine tückische, falsche Person war sie, wie hatte sie sich zu verstellen gewußt, um ihr Ziel zu erreichen! Könnte Ottokar mit einer Frau glücklich werden, die ihn lehrte, die eigene Mutter zu mißachten? Nicht durch ihre Schuld sollte sein Leben verpfuscht werden. Die Liebe zwischen den beiden war törichte Sinnenlust. Man durfte sie nicht berücksichtigen. Redeten sie denn je ein ernstes Wort miteinander? War es nicht ein unaufhörliches Necken und Küssen, eine Lust am Oberflächlichsten? Sie mußte sie trennen – es war ihre Mutterpflicht. Sie empfand Gretchen so sehr als ihr Geschöpf, daß sie sich förmlich wunderte, sie nicht durch ihren Wunsch allein in irgend einer Versenkung verschwinden lassen zu können.

Am nächsten Morgen, als Frau Holm am Kaffeetische erschien, war ihr Sohn schon ausgegangen. Frau Holm zog die Brauen unzufrieden zusammen. Sie hatte ausführlich mit ihm über die Zukunft reden wollen. Und immer, wenn sie diese Absicht hatte, war es, als ob er sie schon ahnte und ihr entschlüpfen wolle.

»Wird er Mittags zurückkommen?« fragte sie Gretchen. »Wenn du die Güte haben willst, es mir zu sagen?«

»Ich weiß es nicht, Mama.«

Frau Holm lachte bitter.

»Als ob du es nicht wüßtest.«

»Wirklich nicht, Mama.«

»Na ja – nenne mich nicht immer Mama. Ich bin nicht deine Mama.«

Gretchen schwieg erschrocken und hielt es für geraten, nach einer Weile im Nebenzimmer zu verschwinden.

Von dort hörte man sie einen Walzer probieren, anfangs etwas stümperhaft, dann glatter, munterer.

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Rauschen und Flattern, wie von einem großen Vogel, der mit den Flügeln schlägt; ein heftiges Atemholen.

»Was spielst du da?« rief Frau Holm.

»Den Walzer aus der ›Fledermaus‹.«

»Wie kommst du dazu?« schrie Frau Holm zornig. »Weißt du nicht, daß ich das leichtfertige Stück hasse?«

»Ottokar hat mir die Noten geschenkt. Er wollte gern etwas Lustiges von mir hören. Alle Welt spielt es in diesem Winter!«

»Ich verbitte mir, daß in meinem Hause dieser frivole Schund gespielt wird!«

»Aber wenn es doch Ottokars Lieblingsstück ist . . .«

»Lüge nicht, du hinterlistiges Geschöpf!« Frau Holm geriet in blinden, wütenden Zorn, in dem alle Qual der letzten Wochen einen jähen Ausbruch fand. Sie riß die Notenblätter vom Pulte und schlug sie dem Mädchen um die Ohren. Am Arme zerrte sie Gretchen vom Klavierstuhle empor, und die haßglühenden Augen auf sie geheftet, schrie sie: »In einer Stunde hast du mein Haus zu verlassen. Nimm deine Sachen – was dir geschenkt worden ist, kannst du behalten – ich gönne dir den Plunder. Aber komme mir und meinem Sohne nicht mehr unter die Augen!«

Aufschluchzend, in Todesangst vor der großen, gewaltigen, ihrer Sinne kaum noch mächtigen Frau lief Gretchen hinaus, griff nach Hut und Mäntelchen, flog die Treppe hinunter und warf sich in einen Wagen. Gott sei Dank, wußte sie ja, in welchem Café ihr Ottokar saß und darüber nachdachte, wie dieses schwierige und gefährliche Verhältnis zwischen ihnen und der Mutter am friedlichsten zu lösen sei.

Einige Stunden später erschien Ottokar bei Frau Holm. Milde, friedlich, ausgeweint, kam sie ihm entgegen. Aber er ging an ihr vorüber, er sah sie gar nicht.

. . . Ja – konnte er denn schon wissen, was geschehen war?

Sie versuchte zu erklären. Er schnitt ihr das Wort ab.

»Reden wir nicht mehr über die Sache, Mutter. Ich habe Gretchen gesprochen – es ist wohl am besten, so wie es gekommen ist.«

Frau Holm blickte ihn ängstlich und demütig an. Sehr bleich sah er doch aus – es ging ihm nahe . . . O, sie wollte ihn ja auch so pflegen und lieben . . . Wenn er sich nur ausgesprochen hätte . . .

Aber er ging schweigend in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab.

Und so verrann der Tag in einem beklommenen, dumpfen Schweigen. Gegen sechs Uhr ging Frau Holm aus, etwas zum Abendessen zu besorgen.

»Reis mit Kurry« sollte es geben, eine Speise, die sie verabscheute und für ungesund hielt, die aber Ottokar liebte . . .

Als sie heimkam, hatte ihr Sohn sich inzwischen entfernt. Sie hielt bis um neun Uhr abends das Essen warm. Dann sagte ihre Dienerin: »Ich denke nicht, daß der Herr heute abends zurückkommt, er hat ja seinen Koffer mitgenommen.«

Frau Holm starrte sie aus großen Augen an. Ein kalter Schauer lief ihr durch die Glieder. Sie ging mit schweren Schritten in Ottokars Zimmer. Papier lag umher, angerauchte Zigarrenenden, Streichhölzer, auf dem Tische ein paar alte Handschuhe . . .

Sie fiel auf den Rand seines Bettes, wo er die Nacht vorher noch geschlafen, und dort saß sie, bis es dunkler und dunkler wurde und endlich ganz finster.

Das Mädchen kam und fragte, ob sie sich nicht niederlegen wolle, aber sie schüttelte nur den Kopf.

In der Nacht schrak die kleine Araberin in ihrer Kammer hin und wieder aus dem Schlafe auf und lauschte furchtsam. Es drang zu ihr ein heiseres Schreien und Stöhnen, wie es sich dem Menschen in unerträglichen Schmerzen entringt.

Ein Tag – ein ganzer Tag verging noch ohne Nachricht. Dann am Abend brachte ein Bote einen Brief von Ottokar. Er schrieb der Mutter, daß er es für besser halte, in seine bisherige Stellung zurückzukehren. Gretchen habe er mit sich genommen und werde sich in Aden mit ihr trauen lassen.

—   —   —   —   —

Von dieser Zeit an sah und hörte man nicht mehr viel von Frau Holm in der europäischen Kolonie. Sie lebte still in ihrem leergewordenen Hause und hegte einen bösen Haß auf ihre Landsleute. Zuweilen holte sie sich kranke Fellahkinder von der Straße und pflegte sie. Von den umwohnenden Türken und Arabern wurde ihr eine demütige Ehrfurcht entgegengebracht, und sie erhielt von ihnen den Beinamen: die Mutter der großen Trauer. Es ging ein Gerücht, daß sie zum Islam übergetreten sei, aber das wurde nie als sicher bestätigt.

 


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