Gabriele Reuter
Frauenseelen
Gabriele Reuter

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Graue Stunden

Es hatte den ganzen Tag geregnet. Helene trat ans Fenster und blickte hinaus. Noch immer rann die graue Flut vom Himmel nieder. Noch immer das leise Picken der Tropfen an den Fensterscheiben. Noch immer das eintönige Rieseln und Rauschen. Noch immer das Stöhnen des Windes im Ofenrohr.

Helene hatte genäht und dann einen kurzen Brief geschrieben. Nun war es sechs Uhr, und die Dämmerung kam schon geschlichen. Wie Nebel auf der See die stillgleitenden Schiffe einhüllt, sank Traurigkeit über die Frau. Eine trübe Melancholie – von den schmutzigen, naßglänzenden Straßen, von den kahlen, triefenden Baumzweigen, die sich vor ihren Augen wie in Schmerzen wanden, aus der schweren feuchten Luft schien sie durch die mit Dunst und Gerinnsel bedeckten Fensterscheiben zu ihr einzudringen.

Helene seufzte ungeduldig. Sie hatte gehofft, der Regen werde aufhören, daß sie noch ein wenig ausgehen könne. Sie war ja nicht unbescheiden gewesen und hatte gleich auf Sonnenschein und blauen Himmel gerechnet. Nur ein wenig ausruhende Stille in der Natur.

Es lag ihr so schwer auf der Brust . . .

Und jetzt rauschte es wieder heftiger, das feine Rieseln wurde ein hartes Klatschen, große Blasen tanzten auf den braunen Lachen über dem Pflaster.

Ein Wagen fuhr vorüber. Sein Leder blinkte vor Nässe – wie häßlich bespritzt es war, – wie trübselig die Mähnen der Pferde niederhingen, – wie demütig in sein Schicksal ergeben der alte Droschkenkutscher mit dem Wachstuchhut, von dem kleine Bäche ihm in den Kragen liefen, sich in seinen großen Mantel hineinduckte.

Ach Gott – so ein dummes, armes Leben – Tag und Nacht da auf seinem Bocke zu sitzen und nur zur Abwechselung den müden, lahmen Gaul durch die Straßen treiben . . . Jämmerlich . . .

Helene wartete – wußte nicht, was sie wollte, und überlegte, warum sie sich durchaus in das abscheuliche Wetter hinauswagen müsse.

Sie konnte ja auch daheimbleiben. Es wäre viel verständiger gewesen.

Sie hatte nur so eine klägliche Sehnsucht nach Menschen . . . Sie, die sonst stolz darauf war, die Einsamkeit zu lieben und sich selbst genug zu sein. Nur irgend eine Zerstreuung – ein törichtes Geschwätz, das ihr über die Stunden weghalf, in denen sie den Tag nicht mehr ertragen konnte.

Es kam immer so über sie um diese Zeit. Ja, ja . . . auch im goldensten Frühlingslicht – da eigentlich erst recht. Eine wunderliche Ungeduld . . . Sehnsucht und Verzagen – Überdruß und Begehren – Langeweile oder Lebensfieber . . . Sie wußte nicht.

Gewöhnlich wartete sie nicht, bis das Gefühl ein Schmerz geworden, sondern rannte fort, sobald sie es nur von weitem kommen ahnte.

Rannte? . . . Natürlich rannte sie nicht, sondern ging still und gesittet, einen Besuch oder eine Besorgung zu machen. Aber eine Flucht war es doch.

Zu wem könnte sie jetzt z. B. gehen? Zu der Professor Berthold? Guten Tee fand sie dort wenigstens. Auch Geschwätz. Wie der Gedanke daran sie degoutierte. Diese geistreichen Disputationen über »Fragen« –: über die Frauenfrage, die soziale Frage, die Ehefrage, die Übervölkerungsfrage . . . Als überböte man sich, Leitern hinaufzuklettern, einer immer höher und kühner als der andere – aber die Leitern führten gar nirgends hin, sondern ragten nur so in die Luft hinein – – das war auch wert, sich darum eine Lungenentzündung zu holen! Allerdings – dann hätte ja alles auf einmal ein Ende.

Warum fürchtete sie sich also davor? Ach – sie würde wahrscheinlich keine Lungenentzündung bekommen, sondern einen albernen Schnupfen, der sie nur noch ein wenig müder und mißvergnügter machen würde, als sie sich ohnehin schon fühlte.

Ob Rudolf jetzt wohl eine ähnliche Stimmung zu leiden hatte? Der Gedanke machte sie lachen. In seinem Anwaltsbureau, mit dem schwierigen, verantwortungsvollen Prozeß im Kopf und auf dem Gewissen – der hatte gerade Zeit zu aussichtslosen Melancholien! Wie grundverschieden doch das innere Leben vom Manne und von der Frau bleibt – auch wenn sie noch so glücklich verheiratet sind.

Helene ging in das Zimmer zurück, nahm den eben geschriebenen Brief, blickte zerstreut auf die Adresse und warf ihn mit einer gleichgiltigen Bewegung wieder auf den Tisch. – Auch eine Freundschaft, von der man sich einmal unendlich viel Schönes versprach – nun hatte man sich schon längst nichts mehr zu sagen. Es hatte keinen Sinn, sich überhaupt noch zu schreiben, sie nahm auch immer ihre kleinsten Briefbogen.

Wie viel Überflüssiges man auf die Weise mit sich schleppte – Dinge, Verhältnisse, die einem anhingen, ohne daß man es doch wollte. – –

Lag es an ihr, daß ihr alles Erleben so zerrann, wie Sand, der einem Kinde zwischen den Fingern hindurch läuft, weil es nicht gelernt hat, was Festhalten ist?

Warum sollte sie festhalten, was ihr nicht wertvoll erschien? Warum das bißchen Kraft vergeuden, um gewaltsam abzuschütteln, was ja doch endlich von selbst sich löste?

Hu – da schlug ein gewaltiger Schauer gegen die Glasscheiben. Wie das Wetter draußen plötzlich leidenschaftlich werden konnte: als bräche aus den Wolken ein zorniges Schluchzen hervor – und dann rannen die Tränen wieder gelassener in müder Wehmut eine lange Weile, bis der Wind und der Regen aufs neue lautere Klage begannen. Sonderbar – als fühle die Natur auch hin und wieder das Bedürfnis, alle Lebensfreudigkeit aufzugeben und sich einem haltlosen, geheimnisvollen Kummer zu überlassen. Helene träumte hinaus. Sie fröstelte. Ihre Hände wurden kalt. Und es erschien ihr mehr und mehr, sie habe ein Recht, eine zwingende Pflicht, traurig zu sein.

Ja – und dabei hielt man sie für eine Frau, die auf der Höhe des Daseins stand.

Eine glückliche Frau . . .

Sie glaubte das ja auch von sich selbst.

Sie hielt Unglück nicht nur für einen Schicksalsschlag – es kam ihr blamabel vor, niedrig und gemein.

Oft und oft hatte sie sich gesagt, daß sie auch die Kraft haben wollte, glücklich zu sein, wenn ihr Mann sein Vermögen verlor, wenn Krankheit und Not sie prüfen würden.

Und sie begann ihrer Seele verständig zuzureden, wie man einem verdrossenen Kinde zuspricht. Sie erzählte sich von ihrem lieben, guten Mann, von ihren Sommerreisen, von Musik und Blumen und Bildern . . .

– Was hatte es nur auf sich mit dieser Traurigkeit, die im Hintergrunde von allem lauerte, mit diesem trostlosen Widerwillen gegen die ganze Welt?

Vielleicht war es körperlich? Vielleicht . . . Wenn es einen besonderen Grund hätte?

Sie hielt den Atem an vor plötzlichem Schreck, vor jäher Freude. Aber – nein . . . dann . . . Unsinn! Es konnte ja nicht sein. Sie war ja kindisch.

Wer weiß wie oft – als Kind schon, als junges Mädchen war sie so lebensmüde gewesen.

Und das war es hauptsächlich – so offenbarte ihr jetzt plötzlich eine aus ihrem tiefsten Seelenleben emporquellende Stimme, – weshalb sie die Hoffnung hegte, durch die Liebe von diesem heimlichen Schmerz befreit zu werden. Alles andere kam erst in zweiter Linie.

Sie fühlte deutlich, wie es wieder dieselbe Hoffnung war, aus der hervor sie sich so heftig ein Kind wünschte. Und ihr wurde klar, daß ihr dann nur eine neue, die letzte und ödeste Enttäuschung bevorstand: die Erfahrung, daß auch das Mutterglück sie nicht ausfüllen und befriedigen würde.

Keine Rettung – keine auf dieser Erde.

War es ein Wunder, daß die Menschen sich ein Jenseits schufen und in unbestimmten Träumen eines Kommenden sich trösteten?

Oder sie erkünstelten sich seltsame Freuden: legten Briefmarkensammlungen an oder schrieben Dramen, lernten Radfahren, machten Bergtouren, – oder sie arbeiteten fieberhaft für irgend etwas, von dem sie doch selbst wußten, daß es nicht viel Zweck hatte. Und wieder andere legten Feuer an die Häuser ihrer Nachbarn – wenn sie zufällig die Macht besaßen, verwüsteten sie auch die Welt durch Kriege und Schlachten . . . und die Frau ihr gegenüber im ersten Stock räumte unaufhörlich ihre Möbel um und schalt mit ihrem Dienstmädchen. Es war im Grunde alles ein und dasselbe: ein fortwährendes Fliehen, ein ängstlicher, banger Kampf gegen das Eine – Unaussprechliche – Unbegreifliche, das allen Menschen auflauerte, und von dem doch niemand wußte, was es war, woher es kam und wohin es trieb.

Und endlich überwältigt es uns doch – alle – alle . . .

Oder sind wir es, die da siegen?

Wer will das sagen.

Ist der Tod ein Sieg oder ein Unterliegen . . .?

Helene schloß die Augen und versuchte sich das Verschwimmen und Vergehen jeder Empfindung vorzustellen – die große Stille.

Langsam und schwer rannen ihr die Tränen aus den geschlossenen Wimpern, glitten an ihren Wangen nieder und tropften lautlos auf ihr Kleid.

Der Regen rann über die Scheiben, als pochten Geisterfinger eintönig gegen das trübe Glas. Der Wind stöhnte, wie er über die Stadt und die weiten Felder fuhr. Und ihre Seele seufzte in einer verborgenen, tonlosen, eingeschlossenen Welt.

—   —   —   —   —

O, wie allein – wie allein sie war . . .

Nur einen Menschen! Einen Menschen zum Liebhaben! Wenn Rudolf jetzt nur kommen wollte – sie in die Arme nehmen, in unendlichem Verstehen . . .

– – Und käme er wirklich – was konnte er ihr helfen? Sie blieb ja doch allein – und er blieb auch allein. Immer war da ein Rest, in dem sie sich nicht verstanden – ein weites Gebiet, zu dem er den Eintritt nicht fand. Und oft war es ihr, als spiele sich hier ihr ganzes, wahres, eigentliches Leben ab.

Liebesstunden . . . Ein Aneinanderpressen von Herz an Herz, von Mund an Mund – ein wildes schmerzliches Versuchen, eins zu werden . . . Und dann alles wieder wie vorher. Und keines wußte, wie das andere dachte – fühlte – empfand – wie es tief, tief in ihm aussah.

Man redete miteinander. Man schonte sich nur. So fremd – so fremd . . . zum wahnsinnig werden fremd.

– Darum war Ehe so etwas Aufreibendes: ein fruchtloser Versuch, das Unerreichbare zu greifen, das Unmögliche zu verwirklichen.

Sonderbar, daß es Zeiten gab, wo sie trotzdem ganz fröhlich war.

Aber dann regnete es auch nicht so unaufhörlich.

Es half nichts.

Sie wollte ankämpfen. Und so holte sie ihren Mantel, ihren Hut, zog ihre Gummischuhe an und beschloß zu Walborg zu gehen.

Das war ein erlösender Einfall. Warum war er ihr nicht schon früher gekommen?

Walborg – die war eine von den Vorsichtigen. Die wußte, was es mit den Tücken und Bosheiten des Schicksals auf sich hatte, die glaubte nicht mehr an Freundschaft – beteuerte keinem, daß sie ihn brauche.

Sie verlangte auch von niemand, daß er glücklich sein sollte, wenn er keine Lust dazu hatte.

Das war so angenehm. Sie war so gelassen.

Mit ihren ruhigen Händen würde sie ihr den nassen Mantel abnehmen. Und die Lampe würde schon brennen. Und sie saßen auf dem kleinen Sofa und redeten leise mit einander: wie wunderlich doch alles sei und wie närrisch die Menschen, wie verworren und nutzlos ihr Tun. Und Helene dachte daran, wie Walborg den Ausspruch ihrer alten Waschfrau über das Leben zu zitieren pflegte: »so alles in allem kann die Geschichte mich nicht gefallen« – ein Ausspruch, über den sie einmal sehr gelacht hatten und der stets etwas Erheiterndes für sie behielt, weil er alles, wofür sie die feinsten und delikatesten Worte suchten, so kurz und bündig zusammenfaßte.

Helene stellte sich das deutlich vor, während sie durch die Straßen schritt, um sich Mut zu machen. Die Luft wehte ihr frisch über die Wangen, und der Kampf, den sie mit dem Sturm um ihren Schirm zu führen hatte, belustigte sie.

Als sie ihr Ziel erreicht hatte und die Treppe hinaufstieg, fiel ihr plötzlich auf, daß die Stufen noch unbeleuchtet waren. Wenn Walborg nicht zu Haus wäre?

Nein – daran mochte sie gar nicht denken. Sie verlangte so sehr nach ihr.

Helene drückte mit erwartungsvoll klopfendem Herzen an der Klingel. Sie war zitternd gespannt und lauschte auf den ihr so wohlbekannten Schritt. Nichts . . . Alles blieb still. Sie drückte noch einmal.

Trostlos blickte sie einige Augenblicke die Treppe hinab und klingelte dann ganz hoffnungslos zum drittenmal.

Mit schmerzzuckenden Lippen ging sie, und unterwegs auf der dunklen Straße, unter dem schützenden Schirm, brach sie in Weinen aus. Das tat ihr gut. Ihre Brust bebte in kindlichem, heftigem Schluchzen. Ihre Tränen strömten in reichlicher Flut, wie der Regen, mit dem sie sich mischten. Sie dachte nicht mehr an das öde, widerwärtige Wetter. Sie verfolgte ihren Schmerz nicht mehr bis zu seiner Wurzel und von dort wieder zu allen Ausstrahlungen hinaus. Fühlte sie überhaupt noch Schmerz?

Sie weinte nur – anfangs stürmisch, dann gelinde, friedlich – beruhigt.

Als sie auf einem weiten Umweg wieder nach Hause kam, trocknete sie sich mit ihrem Tuch die letzten Tropfen von dem feuchten Antlitz, indem sie zu den Fenstern ihrer Wohnung emporsah. Jetzt schimmerte hinter ihnen ein rötlicher Lampenschein. Er verbreitere nicht viel Helle in der Finsternis rings umher. Ein bescheidenes engumgrenztes Licht ging von ihm aus. Und doch empfand Helene Vergnügen, als sie ihn erblickte. Es war ein Zeichen, daß Rudolf sie erwartete.

»Du, Frau,« sagte er, als sie zu ihm trat, »ich habe prachtvolles Material! Jetzt keinen Zweifel mehr – mein Klient ist unschuldig. Das war ein Laufen und Umherjagen bei dem Hundewetter . . . Aber so Schritt für Schritt zu sehen, wie man sein Ziel erreicht – das macht doch Freude!«

– Sie interessierte sich nicht sehr für den Mann, den Rudolf verteidigte. Gott mochte wissen, ob diese viele Mühe nicht verschwendet war. Sie lächelte dennoch und setzte sich auf die Armlehne seines Stuhles und ließ sich erzählen. Lauter Dinge und Verhältnisse, die ihr fremd waren, die sie nicht recht verstand. Und dazwischen bereitete sie ihm Tee, und er fütterte sie mit kleinen Fischen, die er mitgebracht hatte, weil er wußte, daß sie eine Schwäche dafür besaß. Und sie fühlte seine Freude, die er mit ihr teilen wollte. Und sie empfand die Lebensgemeinschaft, die sie beide verband. Und es war, als rettete sie sich aus tiefen, dunklen Wassern auf eine kleine, grüne Insel.

Und draußen rauschte der Regen. Und draußen stöhnte der Wind.

 


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