Gabriele Reuter
Aus guter Familie
Gabriele Reuter

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III.

Frau Heidling hegte das unbestimmte Ideal eines innigen Verhältnisses zwischen einer Mutter und ihrer einzigen Tochter. Doch wußte sie durchaus nicht, wie sie es beginnen sollte, ein solches zwischen sich und Agathe herzustellen. Sie sorgte mit peinlicher Pflichttreue für deren Anzug, für Zahnbürsten, Stiefel und Korsetts. Aber wenn Agathe mit einem Ausbruch ihres brennenden Interesses für alles und jedes in der Welt: für die Rätsel in Neros Charakter und für Bürgers Liebe zu Molly, für die Ringe des Saturn und die Auferstehung der Toten zu ihrer Mutter kam, sah sie immer nur dasselbe halb verlegene, halb beschwichtigende Lächeln auf dem blassen, kränklichen Gesicht. Und gerade dann wurde ihr meist das Wort abgeschnitten mit einer von den unaufhörlichen Ermahnungen: halt' Dich gerade, Agathe – wo ist Dein Zopfband wieder geblieben! Wirst Du denn nie ein ordentliches Mädchen werden? Das reizte sie bis zu Thränen und ungezogenen Antworten.

Frau Heidling fragte sich oft erstaunt, ob sie selbst nur einmal so schrecklich lebhaft und exaltiert gewesen sein könne – jetzt war ihr doch alles, was außerhalb ihrer Familie und ihres Haushaltes vorging, sehr gleichgültig. Ihr Mann hielt die in feine Form gekleidete geistige Bescheidenheit an der Frau vor allem hoch, und liebt man einen Mann, so sucht man doch unwillkürlich genau so zu werden, wie er es gern hat. Ja – und die vielen Wochenbetten und der Tod von kleinen Kindern – das macht den Kopf einer Frau recht müde. Aber dafür hat man seine Pflicht im Leben erfüllt. Frau Heidling konnte sich oft ängstigen, daß Agathe durch dieses unruhige Umherfahren ihrer Gedanken noch einmal auf Abwege geraten werde.

Mit der Gouvernante hatte das Mädchen folglich die heftigsten Scenen. Fräulein wurde ganz von dem Plan beherrscht, den wohlhabenden Apotheker des Städtchens oder einen ältlichen Gerichtsrat dahin zu bringen, sie zu heiraten. Agathe verachtete sie deshalb aus vollem Herzen. Mit bitteren Gefühlen machte sie sich aber klar, daß nicht nur zwischen Fräulein und ihr, sondern auch zwischen Eltern und Kindern eine unausfüllbare Kluft bestehe. Einsam und von niemand verstanden, werde sie an diesem Kummer sterben müssen. Mit einem wahren Schwelgen in grausamen Rachegelüsten konnte sie sich dann die Reuethränen ihrer Mutter, die Verzweiflung des Vaters vorstellen. Papa hatte sie übrigens doch lieber als ihre Mutter. Zwar lachte er meistens, wenn sie eine Meinung äußerte, aber er zankte doch wenigstens nicht so viel. Eigentlich war es noch ein Trost, dem Gedanken nachzuhängen, sie sei vielleicht gar nicht das rechte Kind ihrer Eltern und darum könne sie sie nicht so heiß lieben, wie es ihr sehnlichster Wunsch war. Denn sonst – sonst wäre sie ja ein ganz schlechtes, verdorbenes Kind gewesen.

Frau Heidling erkundigte sich bei anderen vertrauenswürdigen Frauen, wie heranwachsende Mädchen zu behandeln seien. »Man soll ja nicht murren,« sagte sie seufzend, »aber es ist doch recht wunderlich vom lieben Gott eingerichtet, daß die Mutter, die die Kinder geboren hat, nachher gar keine Kraft mehr übrig behält, sie auch zu erziehen. Agathe greift mich furchtbar an.«

Ueberall riet man ihr »die Pension«. Sie sah also, daß das Uebel, welches sie quälte, ein weitverbreitetes war, und das beruhigte sie vollständig.

Da sie in ihrem früheren Wohnort, der Hauptstadt der Provinz, mannigfache Beziehungen unterhielt, wandte sie sich dorthin, um von einem geeigneten Institut zu hören. Sie wählte, damit ihre Tochter sich in der Fremde nicht verlassen fühlen möge, die Anstalt, wo sich mehrere frühere Freundinnen von Agathe befanden, unter ihnen Eugenie Wutrow.

* * *

»Du – gestehe mal gleich, wer ist denn Dein sweetheart

So lautete eine der ersten Fragen, die ihre Mitschülerinnen an Agathe richteten, nachdem die Vorsteherin sie in das Arbeitszimmer geführt hatte, wo die jungen Mädchen mit Heften, Büchern und Handarbeiten um einen großen Tisch saßen.

Agathe lernte bereits seit einem Jahre Englisch, aber das Wort sweetheart war in der Grammatik noch nicht vorgekommen. Das sagte sie schüchtern und wurde furchtbar ausgelacht.

Agathe bewohnte mit Eugenie denselben Schlafsaal. Anfangs wurde sie von der kindischen Furcht beunruhigt, Eugenie könne irgend welche Anspielungen auf die Gespräche machen, die sie als kleine Mädchen miteinander geführt. Aber Eugenie schien die Erinnerung daran vollständig verloren zu haben. Sie war ein hübsches und schon recht elegantes Mädchen geworden. Agathe faßte, zu ihrer eigenen Verwunderung, sofort eine heftige Liebe für sie. Es gab nun kein größeres Vergnügen, als mit Eugenie Wutrow zusammen zu sein, sich an sie zu schmiegen und sie zu küssen. Eugenie behandelte die Zuneigung ihrer Kindheitsgespielin wie die Verehrung eines Mannes. Bisweilen war sie kalt und spröde und wies Agathes Liebkosungen herbe ab. Agathe konnte sie weder durch das Anerbieten, die Rechenaufgaben für sie zu lösen, noch durch schwärmerische Briefe, die sie auf das Kopfkissen ihrer Freundin niederlegte, erweichen. Plötzlich war Eugenie dann aber wieder entzückend nett.

Agathe litt neuerdings viel an Zahnweh und geschwollenen Backen. Wenn sie des Nachts hinter dem Wandschirm – der Schlafsaal wurde in dieser Weise zu verschiedenen Privatkämmerchen geteilt – auf ihrem Lager stöhnte und wimmerte, kam Eugenie mit bloßen Füßen herübergeschlichen, brachte Eau de Cologne oder Chloroform, saß auf ihrem Bettrand und strich ihr langsam und gleichmäßig über die Stirn, bis die Schmerzen nachließen, und Agathe unter der magnetischen Wirkung der weichen Mädchenhand einschlief.

Eugenie war eine praktisch beanlagte Natur, sie erriet in jeder Lage ohne viel Besinnen, was hier zu thun sei. Sie war allgemein beliebt unter den Backfischen. Agathe wurde viel von Eifersucht geplagt, wenn Eugenie mit anderen ging oder wenn sie gar den Arm um die Taille einer anderen legte.

Es war ihr darum auch schrecklich traurig, daß sie in einer Frage, welche die Gemüter der Pensionärinnen heftig erregte, nicht zu der geliebten Freundin stehen konnte. Etwa zehn der jüngeren, die noch nicht konfirmiert waren, hatten Religionsunterricht bei dem Direktor des Instituts, einem Doktor der Theologie und Philologie, Namens Engelbert. Er gehörte dem Protestantenverein an, war aus Gewissensbedenken nicht Geistlicher geworden und sprach seinen Schülerinnen offen die Ansicht aus: er halte Jesus Christus nur für einen Menschen, den richtigen Sohn der Maria und des Josef. Darob entstand ein großer Aufruhr unter den Mädchen. Die Tochter eines englischen Predigers erklärte, ihre Eltern würden sie sofort zurückrufen, wenn sie so etwas von Dr. Engelbert hörten. Agathes frommer Wunderglaube empörte sich gegen eine so nüchterne Auffassung der Erlösungsgeschichte. Dr. Engelbert gab sich aber besondere Mühe, gerade sie zu seiner Ansicht zu bekehren. Es waren nicht viele unter den jungen Mädchen, die weltgeschichtliche Fragen mit einem so persönlichen Interesse erfaßten, wie Agathe. Zum ersten Mal wurde sie vor eine selbständige Entscheidung gestellt, Dr. Engelbert forderte stets Selbständigkeit von seinen Zöglingen. Agathe blieb hartnäckig ihrem Gott-Heilande treu. Ohne Wunder und ohne das Walten überirdischer Mächte schien die Welt ihr öde und langweilig. Wohin sie schaute, war alles Leben, Geburt und Tod ihr nur ein Wunder, sie fühlte sich umgeben von unbegreiflichen Geheimnissen, an die man nicht zu tasten wagte.

In den Religionsstunden gab es leidenschaftliche Disputationen, unbestimmte, aber desto heftigere Auseinandersetzungen, bis Agathe schluchzte, und auch Dr. Engelbert, einem weichmütigen Idealisten, die hellen Thränen in seinen großen Vollbart liefen. Der Glaubensstreit wurde in den Freistunden und bis in die Schlafsäle hinein fortgesetzt. Eugenie stellte sich gleich auf die Seite von Dr. Engelbert. Sie äußerte, daß nur ein beschränkter Verstand an Wunder glauben könne. Agathe bebte in der Furcht, Eugenie möchte sie für dumm halten und ihr die Freundschaft kündigen. Aber die Aussicht in ein ewiges Leben voll Engelgesang und himmlischer Glorie konnte sie der Freundin doch nicht opfern.

Welches Glück empfand Agathe daher, als Eugenie sie eines Abends in ihr Kämmerchen herüberholte und mit Chokolade fütterte. Eine ältere, aus Gleichgültigkeit gegen alles Deutsche ziemlich duldsame Engländerin führte die Oberaufsicht über den Saal. Außer Agathe und Eugenie schliefen nur noch einige neu angelangte Landsmänninnen der Miß darin.

»Agathe, hast Du schon einmal einen Mann gern gehabt?« fragte Eugenie leise.

»Aber Eugenie, wie kannst Du denn so etwas denken,« flüsterte Agathe erschrocken und wurde dunkelrot.

»Du hast kein Vertrauen zu mir,« sagte Eugenie verletzt und schloß die Schachtel mit der Chokolade in ihre Kommode.

»Geh' nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und legte sich zu Bett. »Wenn Du offen wärest, würde ich Dir auch etwas gesagt haben. Aber Du bist immer so versteckt. Du bist eine Tugendheuchlerin. Ja, das bist Du.«

Eugenie drehte sich nach der Wand. Agathe saß zaghaft im Korsett und Unterrock auf dem Bettrand. Aus den andern Kammern drang ruhiges Atmen und ein zufriedenes Murren, welches die Engländerin beim Schlafen auszustoßen pflegte. Es war behaglich warm im Zimmer und roch nach Mandelkleie und guter Seife.

Agathe entschloß sich endlich, zu gestehen, daß sie ihren Vetter Martin gern habe. Sie wollte sich des Vertrauens der angebeteten Eugenie würdig zeigen.

Eugenie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch geküßt?«

Agathe beteuerte, daß es nicht »so« wäre; sie habe ihren Vetter ja nur lieber als die anderen Jungen.

Eugenie streckte sich auf ihrem Lager aus und legte den Arm unter den Kopf.

»Agathe, ich habe geliebt!« sprach sie nach einer Weile dumpf und feierlich.

Agathe schlug das Herz wie ein Hammer in der Brust.

»Und – und – hast Du . . .

»Geküßt –; ach – zum ersticken! Und er mich!«

Eugenie hatte sich aufgerichtet, beide Arme um die Freundin geworfen und preßte sie heftig an sich. Agathe fühlte, wie das Mädchen am ganzen Leibe bebte.

»Deshalb haben sie mich ja in Pension geschickt! – Aber es wäre doch zu Ende gewesen. Der Erbärmliche! Agathe – er war mir treulos!«

Sie warf sich in die Kissen zurück, aus den Federn drang ihr ersticktes Schluchzen.

»Wer war es denn?«

»Einer aus unserm Comptoir . . . Weißt Du – das kleine Zimmer, wo die Kisten mit den Cigarrenproben stehen, wo es so dunkel ist – da war es, da haben wir uns immer getroffen. Ach – wie er schmeicheln konnte, wie er süß war und mich auf seine Knie nahm, wenn ich nicht wollte . . . .«

Eugenie küßte Agathe leidenschaftlich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hätte Dir das nicht sagen sollen.«

Agathe beteuerte, daß sie kein Kind sei.

»Schwöre, daß Du es niemand erzählen willst! Auch nicht Deiner Mutter. Hebe die Finger in die Höhe! Schwöre bei Gott!«

Agathe schwur. Sie war ganz betäubt vor Staunen.

»Er wollte mir nachreisen,« stieß die aufgeregte Eugenie hervor.

»Hierher?«

»Er soll nur kommen! Mit den Füßen stoße ich ihn fort! Er hat mich betrogen! Der Schuft! Mit Rosa hat er's zu gleicher Zeit gehalten, und die hat alles erzählt, aus Rache! Ich hasse ihn!«

»Eugenie – ach Du arme Eugenie! Ich ahnte ja nicht, wie unglücklich Du warst,« flüsterte Agathe mit scheuer Verehrung.

»Nein, man sieht es mir nicht an,« sagte Eugenie. »Am Tage verstelle ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Leben nehmen. Wenn ich dies Chloroform austrinke, bin ich tot. Ich trage es immer bei mir!«

Entsetzt riß Agathe der Freundin das Fläschchen mit den Zahntropfen aus der Hand und beschwor sie unter Thränen, um ihrer Eltern und ihrer Freundschaft willen das Dasein zu ertragen.

Sie stand unter dem Zauber der großen klassischen Leidenschaften – Erinnerungen an Egmont, an Amalia und Thekla taumelten durch ihre Phantasie, die Freundin wuchs ihr zu einer unerhörten Größe durch das Geständnis, daß auch sie »gelebt und geliebt« habe.

Nur das rachsüchtige Fabrikmädchen war ihr störend in dieser heiligen Sache. Uebrigens glaubte sie nicht, daß der Commis treulos sei. Er würde sicher bald erscheinen und alles aufklären. Aber wenn ihn dann Eugenie mit den Füßen fortstieße? Wenn er sich aus Verzweiflung erschießen würde? Agathe sah tragische Auftritte voraus und lag mit glühenden Wangen und aufgeregten Sinnen noch stundenlang wachend im eigenen Bett. Sie hatte ein Gefühl, als liefen ihr Ameisen leise und eilig über den ganzen Leib. Dabei hörte sie die unruhigen Bewegungen von Eugenie, ihr tiefes Seufzen.

Durch das Träumen über das Geständnis ihrer Freundin schlich sich heimlich die Ueberlegung, ob sie selbst nicht doch ihren Vetter Martin liebe – so – so – wie Eugenie meinte. Aber es war doch nicht, nein, es war ganz anders – ganz anders.

Endlich schlummerte sie ein.

Plötzlich, nach kurzer Zeit, kam sie wieder zur Besinnung, geweckt von einem großen, brennenden Sehnsuchtsgefühl, welches ihr ganz fremd, ganz neu und schreckenerregend und doch entzückend wonnig war, so daß sie sich ihm einen Augenblick völlig hingab.

»Mani!« murmelte sie zärtlich und verwirrt und faltete ängstlich die Hände. »Ach lieber Gott!«

Sie begann auszurechnen, wieviel Tage es noch bis zu den großen Ferien seien, wo sie ihren Vetter wiedersehen werde.

Darüber schlief sie ein und diesmal fest und traumlos – bis zum Morgen.

* * *

Agathe mußte immer aufs neue staunen, wie stark und sicher Eugenie ihre große Leidenschaft in ihrem Herzen verschloß, und mit welcher Lebendigkeit sie den Tag über an allen Thorheiten, die getrieben wurden, ihren Anteil nahm. Neben den religiösen Kämpfen beschäftigten sich die jungen Damen hauptsächlich mit der Frage, wer von ihnen die längsten Augenwimpern habe. Es wurden zur Lösung dieser Zweifel die schwierigsten Messungen vorgenommen. Wirklich gehörte viel Interesse für die Sache dazu, um sich ein Blatt Papier unter das Lid zu schieben und sich mit einem Bleistift dicht vor dem Augapfel herumfuchteln zu lassen.

Mitten im Vierteljahr kam eine neue Schülerin, die Tochter eines berühmten Schriftstellers aus Berlin. Sie wurde mit der größten Spannung empfangen. Ein völlig farbloses, elfenbeinweißes Gesicht und hellgrüne Augen unter schwarzen Brauen, die über der Nasenwurzel dicht zusammengewachsen waren, gestalteten das Aeußere dieses Mädchens eigenartig genug. Dazu eine Fähigkeit, sich mit der großen Zehe an der Nase kitzeln zu können und die Finger ohne jede Schwierigkeit nach allen möglichen und unmöglichen Richtungen zu biegen und auszurenken – das alles mußte die kühnsten Erwartungen von etwas Außergewöhnlichem übertreffen. Agathe befiel bei dem Anblick der Neuen sofort eine böse Ahnung.

Da Klotilde erklärte, ihr Vater habe stets ihre Aufsätze korrigiert, wurde sie natürlich ohne weitere Prüfung in die erste Klasse aufgenommen. Dr. Engelbert glaubte dies dem Ruhm einer deutschen Litteraturgröße schuldig zu sein. Hier erfüllte die junge Dame indessen die auf ihr gebauten Hoffnungen so wenig, daß Dr. Engelbert sich genötigt sah, sie in die zweite Klasse, welche seine Frau leitete, zurückzuführen. Es stellte sich denn auch heraus, daß Klotilde nur die Stieftochter des Dichters war, also nicht wohl seine Talente geerbt haben konnte.

Schon am ersten Abend ging Eugenie mit der Neuen im Garten spazieren und ließ sich von ihr in der Kunst unterrichten, sich eine griechische Nase zu schminken. Agathe wagte einen schüchternen Einwurf. Aber damit kam sie schlecht an. Eugenie vernachlässigte sie in den nächsten Tagen in wahrhaft brutaler Weise. Eine heftige Korrespondenz erfolgte zwischen den zwei Schlafsaalsgenossinnen, man schrieb sich in pathetischen Ausdrücken die beleidigendsten Dinge. Agathe durchweinte vor Zorn und Eifersucht ganze Nächte. Schließlich erklärte ihr Eugenie rund heraus: sie liebe Klotilde, sie habe es vom ersten Augenblick an gefühlt. Gegen Liebe lasse sich nichts thun, und Agathe möge sich eine andere Freundin suchen. Man sprach nicht mehr zusammen – man ging aneinander vorüber, ohne sich zu sehen.

Daß ein häßliches, kleines Judenmädchen die Gelegenheit ergriff, sich an die Verlassene zu drängen, konnte sie nur wenig trösten. Agathe begann jetzt Eugeniens Liebesgeschichte mit dem Kommis in einem anderen Licht zu sehen und etwas Unerlaubtes, Häßliches darin zu finden. Wer konnte wissen, ob sie nicht Unrecht hatte – sie war ja eine ganz treulose Natur.

Eugenie schien sich indessen mit der Neuen herrlich zu amüsieren. Am Tage lasen die jungen Mädchen Ottilie Wildermuth und die Polko, des Nachts im Bett lasen sie Eugen Sue. Auch ein schmutziger Leihbibliothekband mit herausgerissenem Titelblatt machte die heimliche Runde. Er enthielt die Schicksale einer Frau, die mit einem Mal in Form einer Maus behaftet ist, das sie sorgfältig zu verbergen sucht, während der tückische Zufall das Geheimnis beständig enthüllt. Agathe fand diese Geschichte dumm und eklig.

Da hieß es, sie wäre prüde, und man nahm sich vor ihr in acht. Klotilde hatte einige von den Werken ihres Vaters mitgebracht, die sie ihren bevorzugten Freundinnen borgte, jedesmal mit der beleidigenden Bemerkung: sie der frommen Agathe nicht zu zeigen!

Und was die Mädchen für rote Köpfe bekamen, wenn sie die Bücher in verborgenen Lauben verschlangen. Es war aber auch gräßlich aufregend, sich vorzustellen, daß ein so feiner, vornehmer Herr, wie der Dichter, gegen den sogar Dr. Engelbert die Unterwürfigkeit selbst gewesen war, so schreckliche Sachen schrieb. – Hätten die Mädchen nur nicht immer ihre geflüsterten Unterhaltungen abgebrochen, wenn Agathe sich näherte. Sie verging vor Neugier, zu erfahren, was jetzt wieder alle so furchtbar beschäftigte. Aber der Stolz hinderte sie, auch nur eine einzige Frage zu thun. Es war ein entsetzlicher Zustand, ausgeschlossen und verachtet zu sein, während man sich grenzenlos nach Vertrauen und Liebe sehnte.

Endlich erfuhr sie das Geheimnis durch das Judenmädchen, das ihr zu ihrem heimlichen Verdruß mit der Treue eines kleinen Hundes nachlief. Frau Dr. Engelbert würde wahrscheinlich ein Kindchen bekommen. Die jungen Damen waren einig in der Empörung, daß man ihnen, den Töchtern der besten Familien, einen so anstößigen Anblick zumuten könne! Warum entrüsteten sie sich nur so heftig? dachte Agathe – sie hatten doch auch kleine Geschwister. Sie war gerührt und ein wenig verwirrt. Wenn Frau Dr. Engelbert in die Stube kam, suchte sie ihr unbemerkt etwas Liebes zu erweisen und lernte mit Eifer ihre Aufgaben, um sie beim Unterricht nicht zu kränken.

Frau Dr. Engelbert suchte sich mit der tröstlichen Aussicht zu beruhigen, das freudige Familienereignis werde in den großen Ferien fallen. Doch fühlte sie mit steigendem Unbehagen, wie fünfundzwanzig junge Augenpaare mit gierigem Vergnügen jede Veränderung ihres Aeußern beobachteten und fünfundzwanzig schonungslose Mädchenzungen darüber tuschelten und flüsterten.

Ihr Mann fand ihre Aengstlichkeit übertrieben und bewies ihr mit seinem schönen Idealismus: deutsche Mädchen seien viel zu unschuldig und zu wohlerzogen, um die Sache auch nur zu bemerken.

Da wurde das Interesse traurig genug abgelenkt. Eine der Schülerinnen, ein blühendes, freundliches Geschöpf, bekam den Typhus und war in wenigen Tagen eine Leiche. Man hatte sie in der abgelegenen Krankenstube gepflegt, und niemand der Kinder durfte sie im Sarge sehen. Das Unschöne, Traurige sollte den jungen Wesen möglichst fern gehalten werden. Trotz dieser Vorsicht bekamen mehrere Schülerinnen Weinkrämpfe. In den Schlafsälen mußten die Lampen brennen bleiben, weil die meisten sich fürchteten, im Dunkeln zu schlafen.

Auch Agathe war maßlos aufgeregt. Sie wurde von einem unnatürlich gesteigerten Verlangen geplagt, die Leiche zu sehen, ja sie zu berühren.

Sie schämte sich über sich selbst, suchte sich zu beherrschen und las in ihrer Bibel den neunzigsten Psalm.

Es war schon spät am Abend. Eugenie sprach noch mit der Engländerin und erzählte dieser, sie habe ihr Vokabelheft bei Klotilde liegen lassen und wolle noch hinüberlaufen, es zu holen, weil sie morgen früh daraus lernen müsse. Nach einigem Hin- und Herreden verschwand Eugenie. Es verging etwa eine Viertelstunde, dann kam sie zurück und schlüpfte in Agathes Kammer.

»Agathe,« flüsterte sie weinend, »wir haben Elsbeths Leiche gesehen. Ich mußte – ich wäre sonst gewiß auch krank geworden.«

»Wie kann man denn?« fragte Agathe, sich aufrichtend.

»Die Krankenstube hat doch ein Fenster nach dem Flur – das steht offen, hinter dem Vorhang. Es brennt Licht drin. Sie war so schön – aber grausig! Ach, Agathe, so jung zu sterben, ist schrecklich!«

Die entzweiten Freundinnen fielen sich in die Arme und weinten zusammen, dann zog Agathe ihre Strümpfe an und warf ihre Röcke und ihren Regenmantel über.

»Ich will auch hin!«

»Ja – ein Stuhl steht in einer Ecke vom Flur. Du mußt darauf steigen. Warte erst noch, damit die Miß nichts merkt.«

In Furcht und Grauen schlich Agathe durch die dunklen Korridore des großen Hauses, eine Treppe hinab, eine andere hinauf, bis sie an das abgelegene Zimmer des Seitenflügels kam, wo der Sarg mit der jungen Elsbeth stand.

Ein kühler Wind strich durch das Fenster und bewegte ihr Haar, als sie den Vorhang hob, ein merkwürdig schauerlicher Duft wehte ihr entgegen, die Lampe, die auf einem Tisch zur Seite brannte, warf einen klaren Schein gerade auf das Gesicht der Toten und auf die wächsernen Hände, die über der Brust gefaltet lagen.

Als Agathe das ruhige, weiße Antlitz mit den geschlossenen Augen unter dem Schmuck des grünen Myrthenkranzes erblickte, wich ihre krankhafte Erregung und es wurde sehr still in ihr. Sie senkte den kleinen Vorhang und stieg mit schönen feierlichen Gefühlen wieder hinab. Sie faltete die Hände und lehnte sich gegen die Mauer.

»Lieber Gott, laß mich auch sterben,« betete sie. Das Leben, auf das sie sich so freute, schien ihr wertlos im Vergleich zu dieser Ruhe. An Auferstehung dachte sie nicht. Sie wäre gern in dem Augenblick vergangen – im Nichts verschmolzen, doch ohne sich darüber klar zu werden. – – Die Traurigkeit und Todessehnsucht hielt lange bei ihr an. Auch als Eugenie sich ihr wieder näherte, machte sie das nicht mehr glücklich.

 


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