Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Fräulein Raimar hielt streng darauf, daß außerhalb der Tanzstunden keine Zusammenkünfte mit den jungen Herren stattfanden. In diesem Punkt kannte sie keine Nachsicht. Es war ihr durchaus nicht recht, daß die jungen Leute sich herausnahmen, auf ihren täglichen Spaziergängen die Zöglinge zu treffen und grüßend an ihnen vorüberzuschreiten. Es war ihr geradezu unbegreiflich, wie die Gymnasiasten es herausbrachten, welchen Weg sie wählte. Denn wenn sie ihre junge Schar heute durch den Park, morgen in dieses Tal, übermorgen über jenen Berg führte, immer konnte sie überzeugt sein, die roten Primanermützen auftauchen zu sehen; sie konnte ihnen nicht entgehen. Die Lösung dieses Rätsels war einfach genug, der Verrat wurde durch die Tagesschülerinnen ausgeführt. Sie waren die Vermittlerinnen zwischen ihren Brüdern, Vettern oder Bekannten und den Pensionärinnen. Sie schmuggelten Grüße, Gedichte, sogar Photographien ein, und Flora benutzte diesen Weg, ihr Album den Herren zuzusenden, mit der Bitte, ein selbstverfaßtes Gedicht hineinzuschreiben.

Die Tanzstunde nahte ihrem Ende. »Leider!« seufzte die Jugend. Fräulein Raimar indes atmete auf, denn wenn sie auch der Jugend gern fröhliche Stunden bereitete, so sehnte sie sich doch wieder Ruhe und Gleichmäßigkeit zurück. Ihrer Erfahrung nach litt der Ernst des Lernens doch stark unter der Zerstreuung.

Den Schluß und Glanzpunkt bildete alljährlich ein kleiner Ball, und morgen, am Sonnabend, sollte das Ereignis stattfinden.

Die Benennung »Ball« war vielleicht zu anspruchsvoll für das kleine Fest. Es wurden noch einige Gäste geladen, das Orchester schwang sich zu einer zweiten Geige auf, dem Tee nebst belegten Butterbroten folgte eine leichte Bowle mit Kuchen, und die jungen Mädchen zogen ihre besten Kleider an. Das war alles.

Der große Saal erhielt ein festliches Ansehen; dafür trug Fräulein Raimar Sorge. Sie liebte es, den Schönheitssinn ihrer jungen Zöglinge zu wecken und zu zeigen, wie man mit wenigen Mitteln auch dem einfachsten Fest einen geschmackvollen Rahmen geben konnte.

Soeben stand sie neben dem Gärtner und ordnete an, wie die frischen Tannen mit den blühenden Topfgewächsen in den Ecken zu stellen waren. Dann mußte er Vasen von rotem Ton zwischen verschiedenen Wandleuchtern befestigen. Üppige Schlingpflanzen wurden daraufgestellt und hingen anmutig herab. Am Abend, wenn die Kerzen brannten, bot der Saal mit dem Pflanzenschmuck einen heiteren und festlichen Anblick.

Die jungen Mädchen waren in großer Aufregung. Es war der erste Ball, der ihnen bevorstand, und dieses wichtige Ereignis nahm alle ihre Gedanken in Anspruch. Einige betrachteten immer wieder die duftigen Kleider, andere versuchten besondere Haartrachten, so Flora, die eine Schwäche dafür besaß; wieder andre probierten die Kleider an, der Sicherheit wegen, wie Nellie meinte, die soeben ebenso wie Ilse ihr neues Kleid von der Schneiderin bekommen hatte.

Als die beiden Mädchen vor dem Spiegel standen, kam Lilli laut jubelnd in das Zimmer. »Ich geh' mit auf euren Ball«, rief sie, »das Fräulein hat es mir erlaubt. Und mein neues weißes Kleiderl zieh' ich an, und die rote Schleife bind' ich um, und ich darf mittanzen. Ich freu' mich so sehr auf morgen!« und sie faßte mit beiden Händen ihre Schürze und tanzte durchs Zimmer.

Es war schon dunkel, und so konnte die Kleine zuerst nicht sehen, daß Ilse und Nellie so festlich gekleidet waren. Als Licht angezündet wurde, blieb Lilli überrascht stehen und sah erstaunt von einer zur andern. »Wie schön schaut ihr aus!« rief sie bewundernd, und mit gefalteten Händen, fast andächtig, sah sie die beiden Mädchen an.

Ilse nahm ihren Liebling zärtlich in die Arme und küßte ihn herzhaft. »Du bist ja so heiß, Lilli!« sagte sie und befühlte Stirn und Wange des Kindes. »Fehlt dir etwas?«

»Der Kopf tut mir halt a bisserl weh«, entgegnete Lilli. »Aber gar net viel, gewiß net!« beteuerte sie, als Ilse sie besorgt ansah. »Morgen tut er net mehr weh, morgen geh' ich ganz gewiß auf den Ball.«

Am andern Morgen lag Lilli heftig fiebernd in ihrem Bett. Der herbeigerufene Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Sie hat starkes Fieber«, sagte er und verordnete Eisumschläge auf den Kopf, die jede halbe Stunde gewechselt werden mußten. Das lebhafte Kind lag still und teilnahmslos da.

Fräulein Güssow saß sorgenvoll an Lillis Bett, die eben eingeschlummert war. Die Vorsteherin beruhigte die junge Lehrerin und meinte, Lillis Krankheit werde wohl ein heftiges Schnupfenfieber sein, sie habe bei Kindern oftmals ähnliche Fälle erlebt.

Die junge Lehrerin schüttelte ungläubig den Kopf »Wenn nur der Ball heute abend nicht wäre!« sprach sie seufzend. »Der Lärm im Haus und das kranke Kind – es will mir nicht in den Kopf. Wenn wir die Veranstaltung hinausschieben würden, Fräulein Raimar?«

»Sie sehen zu schwarz, liebe Freundin«, entgegnete die Vorsteherin. »Der Lärm wird Lilli nicht stören. Wie sollte er aus dem Vorderhaus bis hierher in ihr stilles Zimmer dringen! Bedenken Sie, wie sehr sich die Kinder auf den heutigen Abend gefreut haben! Wie grausam wäre es, wollten wir ihre Freude zerstören! Noch sehe ich keine Gefahr, und wir können unbesorgt den Ball stattfinden lassen.«

»Ball!« wiederholte Lilli, die erwacht war und das Wort hörte. »Ich will tanzen! Zieh mich an, Fräulein! Bitt' schön, laß mich tanzen!«

Fräulein Güssow warf der Vorsteherin einen Blick zu. Sie mußte doch sehen, wie krank die Kleine war; sie phantasierte.

Aber Fräulein Raimar war nicht überzeugt und auch nicht erschrocken. Sie trat zu Lilli an das Bett und ergriff ihre Hand.

»Es ist noch heller Tag, Lilli«, sagte sie freundlich. »Siehst du nicht, wie die Sonne scheint? Heute abend sollst du tanzen, jetzt ist es noch viel zu früh. Leg dich nieder und schlaf noch eine Weile! Wenn du aufwachst, bist du gesund und ziehst dein gesticktes Kleid an.«

»Die Sonne scheint«, wiederholte das Kind, wie aus einem Traum erwacht, und sah mit offenen Augen zum Fenster hinaus. Dann legte sie die Hand gegen die Stirn und sagte leise: »Ach, Fräulein, mir tut der Kopf so weh!«

»Das wird sich geben, mein Herz. Nimm nur recht artig deine Medizin ein!«

Die Vorsteherin küßte Lilli und versicherte der geängstigten Lehrerin, das Phantasieren der kleinen Kranken habe nichts zu bedeuten; bei lebhaften Kindern stelle sich das bei einem harmlosen Schnupfenfieber ein. Mit diesem aufrichtig gemeinten Trost verließ sie das Zimmer.

Es schien, als sollte sie recht behalten. Gegen Mittag schlief Lilli ein. Das Fieber ließ nach, und Fräulein Güssow atmete erleichtert auf. Als Ilse kam und teilnehmend nach Lillis Befinden fragte, flüsterte sie ihr freudig zu: »Sie schläft, es scheint eine Besserung eingetreten zu sein.«

Lillis Besserung war leider nur trügerisch. Während sich die jungen Mädchen heiter und fröhlich zum Fest schmückten, lag die Kleine im heftigsten Fieber. Fräulein Güssow wich nicht von ihrem Bett und erklärte mit aller Bestimmtheit, daß sie diesen Platz nicht verlassen werde. Auf Fräulein Raimars Wunsch wurde die Verschlimmerung vorläufig geheimgehalten; sie mochte keinen Mißton in die unbefangene Freude ihrer Zöglinge bringen, mußte sie sich doch bei ruhiger Überlegung sagen, daß nichts damit gebessert werden konnte.

So blieb denn die junge Lehrerin allein im Krankenzimmer. Sie hörte das unruhige Getrappel im Vorderhaus; dann und wann schlug ein fröhliches Lachen an ihr Ohr, und endlich vernahm sie die gedämpften Töne der Polonaise.

»Ilse, komm!« rief Lilli plötzlich, und Fräulein Güssow fuhr erschreckt zusammen. »Ilse, bitt' schön, komm! Ich führ' dich in den Saal, komm!« Sie stellte sich im Bett auf und machte alle Anstrengungen, herauszuspringen.

Fräulein Güssow legte den Arm um das fiebernde Kind und versuchte es niederzulegen, aber Lilli stieß sie von sich. »Geh fort!« rief sie. »Du bist nicht meine Ilse, du hast kein schönes Kleiderl an. – Ilse! Ilse, komm!« Angstvoll stieß sie diese Worte heraus, und mit starren Augen blickte sie ihre Pflegerin an.

»Wenn du ruhig bist, wird Ilse kommen«, sagte Fräulein Güssow mit zitternder Stimme, die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu. »Sei ruhig, mein Liebling! Lege dich nieder, ganz still! So.« Und sie bettete Lilli mit sanfter Gewalt in die Kissen.

»Ganz still!« wiederholte das Kind mechanisch. »Ilse, komm! – Ganz still!«

Fräulein Güssow zog an der Klingelschnur, und nach einiger Zeit erschien die Köchin. Sie war die einzige, welche die Glocke vernommen hatte; die beiden andern Hausgehilfinnen waren im Vorderhaus beschäftigt.

»Ruf sofort Fräulein Ilse«, gebot Fräulein Güssow mit halblauter Stimme, »und dann hole den Arzt! Das Kind ist sehr krank. Aber still und ohne Aufsehen, Barbara! Niemand darf es wissen.«

»Aber wenn mich Fräulein Raimar fragen sollte«, wandte die Köchin ein, »dann muß ich es ihr sagen, nicht?«

»Sie wird dich nicht fragen, wenn du deine Sache klug machst. Beeile dich nur, ich bitte dich!«

Der Zufall kam der Köchin zu Hilfe. Gerade als sie sich dem Saal näherte, traten Ilse und Nellie lachend und plaudernd, mit erhitzten Wangen, Arm in Arm aus der Tür.

Geheimnisvoll winkte ihnen die Köchin zu. »Fräulein Ilschen«, sagte sie, »Sie möchten gleich zu Fräulein Güssow kommen.«

»Es ist doch nichts geschehen, Barbara?« fragten beide Mädchen fast zugleich.

»O nein, passiert ist gerade nichts, aber das Kind ist kränker geworden; ich soll gleich den Doktor holen. Es soll aber niemand etwas wissen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Fräuleinchens«, beruhigte sie, als sie die erschrockenen Gesichter vor sich sah, »so schnell geht es nicht mit so kleinen Kindern. Krank – gesund –, man weiß nicht, woher es kommt. Aber nun will ich laufen!«

»Ich gehe mit dich«, sagte Nellie, aber Ilse wehrte ab. »Du mußt in den Saal zurückkehren, Nellie«, erklärte sie entschieden, »es würde Aufsehen erregen, wenn wir beide fehlten. Ich gehe allein und gebe dir bald Bescheid.«

Traurig sah Nellie der Freundin nach, dann kehrte sie in den hell erleuchteten Saal zurück. Das Herz wurde ihr schwer, als sie ringsum nur glückliche, fröhliche Menschen sah, und unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Aber ihr betrübtes Gesicht durfte niemand sehen, sie trat deshalb unauffällig hinter eine Tannengruppe.

Aber einer beachtete sie doch, und das war Doktor Althoff. Als er sie mit so ernstem Gesicht eintreten und gleich darauf verschwinden sah, näherte er sich ihr langsam. »Weshalb suchen Sie die Einsamkeit, Miß Nellie?« fragte er herzlich. »Haben Sie Kummer?«

»Oh, Herr Doktor, ich ängstige mir so um das Kind! Bärbchen hat Ilse gerufen und holt jetzt den Arzt.« Nellies sonst so fröhliche Augen blickten in Angst und Trauer den jungen Lehrer an.

Doktor Althoff war sie nie so lieblich erschienen wie in diesem Augenblick. Die schelmische, lustige Nellie in dem duftigen, hellblauen Kleid, mit dem goldblonden Haar gefiel ihm schon den ganzen Abend; die trauernde Nellie, die ein so warmes Mitgefühl verriet, entzückte ihn geradezu. »Beruhigen Sie sich!« tröstete er. »Ich werde sofort in das Krankenzimmer gehen und verspreche, Sie zu benachrichtigen, wie es dort steht.«

Als er nach leisem Anklopfen die Tür öffnete, bot sich ihm ein rührender Anblick dar. Ilse kniete an dem Bett, und ihr Kopf lag dicht neben Lillis Köpfchen, so daß ihre braunen Locken sich mit den lichtblonden des Kindes mischten.

Fräulein Güssow legte soeben einen neuen Eisumschlag auf die glühende Stirn der Kranken.

Doktor Althoff fragte nicht, ein Blick auf die kleine Kranke sagte ihm alles. Groß und fremd sah sie ihn an, ihre Händchen zuckten und griffen unruhig in die leere Luft. Als Ilse sich erheben wollte, klammerte sie sich fest an sie. »Du sollst net fortgehen!« stieß sie in abgerissenen Sätzen heraus. »Du bist die Schönste; tanz mit mir – komm!«

Plötzlich begann die Kleine zu phantasieren und sah Ilse für das Christkind an. »Du liebes Christkindl hast ein goldnes Kleiderl an – und ein Kronerl tragst auf dem Kopf – ah, wie das strahlt! Du willst mit mir spielen«, fuhr sie geheimnisvoll lächelnd fort. »Wart nur, ich komm' zu dir, zu den lieben Engelein! – Ich komm' – nimm mich mit!« Ermattet sank sie nach diesem Anfall in die Kissen zurück.

Ilse war wie gelähmt vor Schreck. Niemals zuvor war sie an dem Lager eines Schwerkranken gestanden, jetzt war sie fassungslos vor Kummer. Sie umklammerte Fräulein Güssow und wurde totenblaß.

»Kehren Sie in den Saal zurück, Ilse!« riet Doktor Althoff und ergriff ihre Hand. »Kommen Sie, ich werde Sie führen!«

Aber Ilse schüttelte den Kopf »Ich bleibe hier«, sagte sie.

Nach kurzer Zeit, die den Wartenden eine Ewigkeit dünkte, traf der Arzt ein. Sein Blick fiel auf das Kind, und er erschrak. Was war seit gestern aus dem blühenden lebensfrohen Wesen geworden! Die runden Wangen waren eingefallen, und die großen, schwarzen Augen starrten wie abwesend in die leere Luft. Er nahm ihre Hand und fühlte nach dem Puls. Lilli merkte nichts davon.

Der Arzt rührte ein Pulver in ein Glas Wasser und reichte es ihr. Fräulein Güssow bemühte sich vergeblich, der kleinen Kranken das Medikament einzuflößen, erst auf Ilses sanftes Zureden öffnete sie die Lippen. Nachdem sie getrunken hatte, wurde sie ruhiger und verfiel in einen Halbschlummer.

»Wo wohnen die Eltern der Kleinen?« wandte sich der Arzt an Fräulein Güssow. »Ich rate, sie unverzüglich von der Krankheit zu benachrichtigen. Wir haben es mit einer bösartigen Gehirnentzündung zu tun.«

»Nur die Mutter lebt«, nahm Doktor Althoff das Wort und erbot sich, sofort ein Telegramm abgehen zu lassen. Nach seiner Berechnung konnte sie schon am nächsten Abend eintreffen.

Bevor er das Haus verließ, kehrte er noch einmal in den Saal zurück, um die Vorsteherin von den Anordnungen des Arztes zu unterrichten. Nellie, die gerade tanzte und nicht aus der Reihe treten konnte, warf einen ängstlich fragenden Blick auf ihn; flüchtig nur streifte sie sein Blick, und doch erriet sie, daß er nichts Gutes zu melden habe. Oh, wäre nur der Tanz erst zu Ende, daß sie ihn fragen könnte! Aber er wartete nicht darauf; nach wenigen Minuten verließ er schon wieder den Saal und ließ Nellie in den ärgsten Zweifeln zurück. War es schlimmer geworden?

Das ruhige Gesicht der Vorsteherin gab ihr keine Antwort auf ihre Frage. Das gleiche verbindliche Lächeln wie zuvor umspielte ihren Mund; sie unterhielt sich mit einigen Gästen mit unveränderter Liebenswürdigkeit. Und doch war Fräulein Raimar bis ins Innerste erregt. Aber sie verstand die seltene Kunst, sich meisterhaft zu beherrschen. Warum sollte sie plötzlich Schreck und Aufregung in die Freude bringen? In einer Viertelstunde war der Tanz vorüber, dann sollten die jungen Mädchen zu Bett gehen, ohne zu erfahren, wie es mit der Kranken stand. Verschlimmerte sich Lillis Zustand, so erfuhren sie diese traurige Botschaft am Morgen noch früh genug.

In dem Krankenzimmer dachte man nicht an Schlaf. Es sah dort traurig aus. Lilli phantasierte zwar nicht mehr, aber sie lag teilnahmslos da. Das Fieber stieg noch immer. Als die Vorsteherin eintrat, erhob sich der Arzt und teilte ihr seine Befürchtung mit. Ilse schluchzte leise in sich hinein, es wurde ihr schwer, sich zu beherrschen.

»Geh zu Bett, Ilse«, sprach Fräulein Raimar liebevoll, »du darfst nicht länger hier bleiben!«

Der Arzt stimmte energisch bei, und so flehend das junge Mädchen die Vorsteherin auch ansah, diese beharrte auf ihrem Willen. »Du bist ein gutes Kind«, sagte sie weich, und ihre Stimme klang nach verhaltenen Tränen, »aber ich darf deinen Wunsch nicht erfüllen. Ein längerer Aufenthalt hier könnte deiner Gesundheit schaden. Du kannst dem Kind auch nicht helfen; sieh hin, es kennt dich und uns alle nicht mehr!«

Bevor sie das Zimmer verließ, trat Ilse noch einmal zögernd und leise an Lillis Bett. Zitternd ergriff sie die kleine, fieberheiße Hand, und mit einem langen, tränenschweren Blick auf das blasse Gesichtchen nahm sie Abschied. Ach, sie fühlte es, das war ein Lebewohl für immer! Dann eilte sie hinaus, das Taschentuch fest vor den Mund gepreßt, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien.

Draußen, dicht vor der Tür, stand Nellie. Unbemerkt war sie der Vorsteherin gefolgt, und nun erwartete sie die Freundin. Ilse fiel ihr um den Hals, und Nellie führte die Trostlose hinauf in ihr Zimmer. Dort warf sich Ilse verzweifelt auf ihr Bett und begrub das Gesicht laut weinend in den Kissen.

»Ist sie so sehr krank?« fragte Nellie.

»Sie stirbt, Nellie«, schluchzte Ilse außer sich, »unser süßer, kleiner Liebling stirbt!«

Nellie wurde blaß, und ein heftiges Zittern überfiel ihren Körper, aber sagen konnte sie nichts. Sie vermochte niemals, ihren Schmerz laut herauszujammern; die ungestüme Art Ilses war ihr fremd. Ilse hatte Kummer und Leid noch niemals Aug in Aug gesehen. Wie anders Nellie! So mancher trübe Schatten verdunkelte bereits ihr junges Dasein. Sie mußte an den Tod des geliebten Vaters denken, der sie so jung als Waise zurückgelassen hatte. Still setzte sie sich neben die Freundin auf den Bettrand und ergriff Ilses Hand. »Komm«, sagte sie mit unsicherer Stimme, »setze dir hoch! Du machst dir auch krank, wenn du so hitzig bist. Und wenn wir uns totweinen, wir machen doch der arm' klein' Herz nicht gesund! Wenn der Herrgott sagt: ›Ich will der klein' Engel zu mich nehmen‹, was können wir da machen? – O Ilse, es ist gar nicht schrecklich, als ein jung' Kind zu sterben! Wer weiß, welch trauriges Schicksal unsre Lilli aufwartete. Ist es nicht besser, tot zu sein? Ich wär' sehr glücklich, wenn mich der liebe Gott als klein' Kind zu sich genommen hätte.«

Wie traurig das klang! Ilse antwortete nichts, aber sie erhob sich und umschlang Nellie fest und innig. Und die beiden jungen Mädchen schlossen in diesem ernsten Augenblick einen innigen Freundschaftsbund für das ganze Leben.

 


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