Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Es war ein trübseliger Sonntag, der dem Ballfest folgte. Als die junge Schar, noch ganz erfüllt von der Erinnerung, beim Morgenkaffee saß, trat Fräulein Güssow ein. Bei ihrem Anblick verstummte das fröhliche Geplauder; ihr blasses und verweintes Gesicht verkündete nichts Gutes.

Ilse und Nellie waren sofort an ihrer Seite, es war ihnen bisher unmöglich gewesen, an der Fröhlichkeit der andern teilzunehmen. »Ist es besser?« fragte Ilse hoffend und bangend zugleich.

Traurig schüttelte die Angeredete den Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nein«, sagte sie, »es ist nicht besser. Die Krankheit hat sich verschlimmert, und ihr müßt euch auf das Ärgste gefaßt machen. Ich teile euch dies mit, Kinder, damit ihr nicht allzusehr erschreckt, wenn...« Sie konnte den Satz nicht vollenden, Tränen erstickten ihre Stimme.

Augenblickliche Stille folgte dieser Eröffnung. Als Ilse laut zu schluchzen anfing, erhob sich ein allgemeines Wehklagen. Kein Auge blieb trocken bei dem Gedanken, den herzigen Liebling für immer hergeben zu müssen.

Die junge Lehrerin entfernte sich, und Ilse eilte ihr nach. »Lassen Sie mich zu ihr!« bat sie dringend und erhob flehend die Hände. »Bitte!«

Fräulein Güssow konnte ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. »Du darfst sie nicht wiedersehen, Ilse«, sagte sie fest und entschieden. »Sie hat sich so verändert, daß deine lebhafte Phantasie ihr trauriges Bild für lange Zeit nicht vergessen würde. Sie ist nur noch ein Schatten des schönen, fröhlichen Kindes.« Sie küßte die trostlose Ilse und kehrte in das Krankenzimmer zurück, das Fräulein Raimar seit Mitternacht nicht mehr verlassen hatte.

Als Ilse wieder in den Speisesaal trat, stand Miß Lead fertig zum Kirchgang angekleidet mit dem Gesangbuch in der Hand da. Sie trieb zur Eile an, da es höchste Zeit sei, zur Kirche zu gehen.

»Ich kann Sie heute nicht begleiten, Miß Lead«, entgegnete Orla, die sich ganz gegen ihre Gewohnheit vom Gefühl übermannen ließ und heftig weinte, »ich kann es nicht!«

»Ich auch nicht! – Ich auch nicht!« erklärten die übrigen. Selbst Rosi, die stets Gefügige, bat um Verzeihung, wenn sie ebenfalls zurückbleibe. »Ich bin so aufgeregt und könnte nicht andächtig die Predigt hören«, fügte sie hinzu.

»Ich begreife euch nicht«, sprach die Engländerin, erstaunt von einer zur andern sehend. »Ist das Gotteshaus nicht der beste Ort für ein gequältes Herz? Sagt nicht der Herr: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!‹ Ich gehe und will für die Kranke beten; vielleicht erhört mich der Herr.«

Sie ging, und die englischen Pensionärinnen schlossen sich ihr an. Sie teilten in ihren strenggläubigen Herzen die Ansicht der Lehrerin. Nur Nellie blieb zurück. Nicht weil sie weniger gläubig war – o nein! Sie war von tiefer Frömmigkeit erfüllt, aber es wäre ihr unmöglich gewesen, das Haus, das ihr eine liebe Heimat geworden war, in diesem Augenblick zu verlassen. »Ich will auch beten«, sagte sie leise wie für sich. Sie trat in den Hintergrund des Zimmers, kniete nieder und betete heiß und innig zu Gott, daß er Lilli am Leben erhalten möge.

Aber es stand anders in den Sternen geschrieben. Gegen Abend öffnete die Vorsteherin plötzlich die Fensterflügel im Krankenzimmer weit – Lilli war tot. Wie ein sorglos schlummerndes Kind lag sie da; der krampfhafte Zug war verschwunden, und ein friedliches Lächeln lag über den leicht geöffneten Lippen.

Die beiden Lehrerinnen standen stumm und mit gefalteten Händen am Bett der kleinen Verstorbenen und konnten den Blick nicht von ihr wenden. Die Abendsonne verklärte mit rosigem Schimmer das zarte Gesicht, und in dem knospenden Apfelbaum vor dem Fenster sang ein Star sein Abendlied.

»So früh und in der Fremde mußtest du sterben, armes Kind!« unterbrach Fräulein Güssow die feierliche Stille.

»Sie fühlte sich glücklich und heimisch bei uns«, entgegnete Fräulein Raimar tief ergriffen. »Die eigentliche Heimat war ihr fremd geworden. Sie hat nicht einmal nach der Mutter verlangt.«

Die Mädchen waren zutiefst ergriffen, als sie die traurige Nachricht erhielten, besonders Ilse, deren lebhafte Natur sich dem Schmerz zügellos hingab. Sie glaubte, vergehen zu müssen. Noch nie war sie so unglücklich gewesen wie in dieser Nacht nach Lillis Tod, selbst damals nicht, als sie den Wagen fortfahren sah, der den geliebten Vater entführte, und sie fremd und verlassen an der Pforte dieses Hauses stand.

 

Lilli war in die Erde gebettet. Sie schlummerte unter Schneeglöckchen und Veilchen. Das kleine Geschöpf wurde von allen, die mit ihm in nähere Berührung gekommen waren, tief betrauert, und es erregte allgemein schmerzliche Verwunderung, daß die Mutter fernblieb.

Am Todestag Lillis war ein Telegramm angekommen, worin sie meldete, daß sie erst am Dienstag abend eintreffen könne. Es sei ihr unmöglich, früher zu kommen, da sie am Montag in einem neuen Stück die Hauptrolle zu spielen habe. Als ihr an diesem Tag der Tod ihres Kindes gemeldet wurde, kam umgehend ein Brief voll überschwenglicher Klagen, aber sie blieb fern. Sie sandte kostbare Blumen und bat die Vorsteherin, einen gemeißelten Stein, einen knienden Engel darstellend, für das Grab des Kindes anfertigen zu lassen; mit goldenen Buchstaben solle auf dem Sockel zu lesen sein: »Teures Kind, bete für mich!«

»Meine Mama wäre gekommen, wenn sie mich sterbenskrank gewußt hätte«, bemerkte Ilse, als sie Nellie den herzlichen, trostreichen Brief ihrer Mutter vorlas.

»O sicher, sie wäre von der Weltenende zu dich gereist!« beteuerte Nellie lebhaft.

»Und sie ist nicht einmal meine wirkliche Mutter«, fuhr Ilse nachdenklich fort. »Ach, Nellie, ich habe sie oft sehr gekränkt! Glaubst du wohl, daß sie mir vergeben wird?«

»O mach dich kein Kummer darum, Kind! Deine Mutter hat ein so liebesreiches Herz, kein bißchen Bosheit für dir ist darin. Sie vergibt dir alles. Du warst ja auch noch ein ungezogen, dumm Baby, als du bei sie warst; jetzt aber bist du eine sehr anständige (sie meinte verständige) junge Dame.«

»Ist das dein Ernst, Nellie?« fragte Ilse zweifelnd.

»Es ist mein Ernst, und ich gebe dir den guten Rat, schreibe an deiner Mutter ein lang' Brief und bitte ihr um Verzeihung.«

Ilse überlegte einen Augenblick. »Du hast recht, Nellie«, sagte sie dann entschlossen; »ich werde ihr schreiben, ich bin es ihr schuldig. Heute noch will ich es tun. Wenn sie mir nur bald darauf antwortet! Ich werde nicht eher ruhig sein.«

 

Der Brief an die Mutter war abgeschickt. Acht Tage waren seitdem vergangen, und noch war keine Antwort eingetroffen. Ilse war unruhig und aufgeregt. Nellie, ihre einzige Vertraute, tröstete sie.

»Es ist ja noch kein' Ewigkeit vorbei, seit du schriebst«, sagte sie. »Es scheint dich nur so, weil du immer daran denkst. Ich wette, heute wirst du ein schön', lang' Brief haben. Mich ahnt das!«

Und richtig. Nellies Ahnung, die eigentlich gar nicht so ernst gemeint war, ging in Erfüllung. Es kam ein Brief an Ilse.

»Komm in mein Zimmer, Ilse, ich habe dir etwas mitzuteilen!« Mit diesen Worten empfing Fräulein Raimar das Mädchen, als sie eben aus der Kirche kam. »Ich habe soeben einen Brief von deinem Papa erhalten, worin er mich bittet, dir etwas recht Erfreuliches zu verkünden. Ahnst du nicht, was das sein könnte?«

»Nein«, entgegnete Ilse und blickte die Vorsteherin erwartungsvoll an.

»Du hast ein Brüderchen bekommen! Da, lies selbst, dein Vater hat für dich einen Brief beigelegt.«

Ilse vermochte in diesem Augenblick nicht zu lesen. Das Blut schoß ihr heiß in die Wangen, und ehe sie noch ein Wort über die Lippen bringen konnte, flog sie Fräulein Raimar an den Hals und küßte sie. Sie mußte ihre jubelnde Freude an jemand auslassen.

Als sie zur Besinnung kam, schämte sie sich ihrer Übereilung. Wie konnte sie allen Respekt außer acht lassen und die Vorsteherin umarmen! »Verzeihen Sie!« sagte sie befangen und trat bescheiden zurück.

Aber Fräulein Raimar schnitt ihr das Wort ab und nahm sie noch einmal herzlich in die Arme. »Komm her, mein Kind«, sagte sie warm, »und laß mich die erste sein, die dir von ganzem Herzen Glück wünscht!«

Später äußerte sie gegen Fräulein Güssow, daß ihr Ilses strahlende Freude so recht einen Beweis für ihr kindlich unbefangenes Herz gegeben habe. Anfangs hatte sie nicht glauben wollen, daß sich Ilses trotzige Natur jemals zügeln lassen würde.

Der Brief an Ilse war nur kurz und von der Mutter schon vor mehreren Tagen geschrieben. An der Verzögerung war der Vater schuld; er hatte noch einige Zeilen hinzufügen wollen und nicht gleich die Zeit gefunden.

»Lies erst, was sie schreibt!« bat Nellie, nachdem Ilse jubelnd in das Zimmer gestürzt war. »Lies erst! Nachher sprechen wir von die Baby.«

Und Ilse las:

 

»Mein teures Kind!

Dein letzter Brief hat mich sehr glücklich gemacht. Ich kann den Augenblick kaum erwarten, in dem ich Dich an mein Herz drücken darf, um Dir mit einem herzlichen Kuß zu sagen, daß ich Dir niemals böse war. Ich wußte immer, daß mein Trotzköpfchen schon den Weg zu mir finden werde. Mache Dir nur keine Sorgen um vergangene kleine Sünden! Sie sind längst in alle Winde verweht. Denke lieber an die zukünftige Zeit, in der wir wieder beisammen sein werden, und male sie Dir so rosig aus, wie deine junge Phantasie es nur zu tun vermag! Ich habe Dich sehr, sehr lieb. Mit zärtlichen Küssen

Deine Mama.«

 

Der Vater schrieb nur einige flüchtige Zeilen:

 

»Hurra! Wir haben einen prächtigen Jungen. Ich habe nur den einen Wunsch, ihn Dir, mein Kleines, gleich zeigen zu können. Er sieht Dir ähnlich, hat gerade so lustige Augen wie Du. Morgen schreibe ich Dir mehr.«

 

»Oh«, jammerte Ilse unter Lachen und Weinen, »wenn ich nur zu Hause sein könnte! Ich habe so große Sehnsucht, die Mama, den Papa und das kleine Brüderchen zu sehen.« Dabei umarmte und herzte sie Nellie, und als Fräulein Güssow hinzutrat, fiel Ilse auch ihr um den Hals. Sie wollte in ihrer Seligkeit am liebsten die ganze Welt umarmen.

Am Nachmittag, nach dem ersten Freudenrausch, kehrten Ilses Gedanken zu der verstorbenen Lilli zurück. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihr Andenken heute so ganz vergessen konnte. »Komm, Nellie«, sagte sie, »laß uns im Garten Veilchen pflücken zu einem Strauß für Lillis Grab!«

 

Die Tage kamen und gingen, und das Osterfest stand vor der Tür. Die Prüfungen waren vorüber, und die ausgeteilten Zeugnisse riefen Freude oder Kummer hervor, je nachdem sie für die Betreffenden ausgefallen waren. Ilse konnte zufrieden sein. Mit Ausnahme einzelner Fächer zeigte sie sehr gute Fortschritte. Ihr ernstes Streben, ihr Betragen, das besonders seit Lillis Tod tadellos war, wurden von ihren Lehrern und Lehrerinnen rühmend hervorgehoben. Nur die englische Lehrerin schloß sich dieser Ansicht nicht an; sie blieb bei ihrem Vorurteil und fand, daß Ilse nach wie vor ohne jedes Benehmen und ohne Anmut sei, auch tadelte sie ihre englische Aussprache.

»Laß dir nix vormachen, Ilse!« sagte Nellie, als sie allein waren. »Du sprichst schon ganz nett Englisch und drückst dir stets sehr fein aus. Übrigens tröste dir mit mir! Sieh, was sie hier geschrieben haben!« Sie reichte betrübt der Freundin ihr Zeugnis, und Ilse las als besondere Bemerkung: »Nellie macht sehr langsame Fortschritte in der deutschen Sprache.«

»Ist das nicht unrecht?« fragte Nellie. »Ich gebe mich so furchtbar große Mühe mit eure schwere Sprache.«

Nun war die Reihe zu trösten an Ilse. Sie versprach, von jetzt an keinen Schnitzer mehr durchgehen zu lassen! Nellie dagegen wollte täglich eine volle Stunde nur Englisch mit der Freundin plaudern.

 


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