Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Der Geburtstag von Fräulein Raimar, der in den Mai fiel, war stets ein großartiges Fest. Tagesschülerinnen und Pensionärinnen wetteiferten miteinander, es durch musikalische und theatralische Aufführungen so bunt und unterhaltend wie möglich zu gestalten. Auch in diesem Jahr wurde keine Ausnahme gemacht, trotzdem Lilli kaum vier Wochen unter der Erde ruhte.

»Ich würde gern auf eine größere Feier verzichten«, sprach eines Tages die Vorsteherin zu Fräulein Güssow und der englischen Lehrerin, »aber ich darf es unsrer Zöglinge wegen nicht tun. Sie sind alle von Lillis Tod ergriffen und lassen noch immer die Köpfe hängen. Da ist es das beste Aufmunterungsmittel, ihnen Zerstreuung zu schaffen. Mit aller Trauer können wir den Tod des lieben Kindes nicht ungeschehen machen.«

Die beiden Damen stimmten zu und beschlossen untereinander, mit den Vorbereitungen zu dem Fest zu beginnen. Miß Lead übernahm es, ein englisches Stück, Fräulein Güssow ein französisches Lustspiel einzustudieren. Miß Lead zählte nur Tagesschülerinnen zu ihren Mitwirkenden, während Fräulein Güssow ihre Rollen mit Pensionärinnen besetzte. Es gab aber erst einen kleinen Kampf mit den Mädchen, bevor diese die ihnen zugedachten Rollen übernahmen. Flora, die eine alte Dame darstellen sollte, war durchaus nicht damit einverstanden; sie behauptete, Rosi passe weit besser für diese Rolle. Aber Rosi besaß nicht einen Funken schauspielerischer Begabung und würde sich niemals dazu verstanden haben, Theater zu spielen. Sie sprach auch weniger gut französisch als Flora.

Fräulein Güssow machte nicht viel Umstände. »Wie du willst, Flora«, sagte sie; »macht es dir kein Vergnügen, diese allerliebste Rolle zu übernehmen, so wähle ich eine Tagesschülerin dafür, und du kannst diesmal nur Zuschauerin sein.«

Das behagte Flora noch weniger. Nach einigem Zögern entschloß sie sich, freilich, wie sie sagte, mit großer Selbstüberwindung, die Alte zu spielen. Ilse und Melanie stellten ihre Töchter dar und paßten in ihren Charaktereigentümlichkeiten prächtig dazu: Melanie, putzsüchtig, elegant und eitel, Ilse das Gegenteil. Wild und unbändig, trotzig und widerspenstig führt sie die übermütigsten Streiche aus, und die schwache Mutter ist nicht imstande, sie zu zügeln. Da erscheint ein junger, entfernter Verwandter, interessiert sich für den Wildfang und versteht es, durch Güte und Festigkeit ihre Tugenden zu wecken und die Widerspenstige zu zähmen. Zum Schluß wird sie seine Braut.

»Orla, du kannst die Rolle des Vetters übernehmen«, bestimmte die Lehrerin.

»Orla?« fragte Ilse verwundert. »Sie kann doch keinen Mann darstellen!«

Es erhob sich ein wahrer Sturm unter den jungen Mädchen bei Ilses unschuldiger Frage. Die Stimmen schwirrten durcheinander, denn jede war bemüht, Ilse über ihre Unwissenheit aufzuklären.

»Weißt du denn nicht, wie es bei uns Sitte ist?« fragte Orla.

»Mit Herren dürfen wir nicht Theater spielen«, bemerkte Flora spottend; »sie sind verpönt in der Schule.«

»Du bist naiv, Ilse«, rief Melanie. »Das ist ja eben so ledern und furchtbar öde, daß wir Mädchen auch Männerrollen geben müssen!«

»Herren, Herren!« wiederholte Annemie unter lautem Kichern. »Es ist zum Lachen.«

»Ja, wenn Herren mitspielten, dann würde ich Ilses Rolle spielen«, überschrie Grete mit ihrer kräftigen Stimme alle übrigen, »so aber...«

»So aber wirst du den Bauernjungen übernehmen, Grete«, unterbrach Fräulein Güssow. »Und jetzt bitte ich mir Ruhe aus, ihr unbändigen Kinder. Fräulein Raimar hat ihre triftigen Gründe für ihre Bestimmungen. Daß ihr noch zu kindisch seid, sie zu verstehen, habe ich in diesem Augenblick klar und deutlich gesehen. Schämt euch! Jetzt macht euch daran, eure Rollen auszuschreiben. Morgen werden wir eine Leseprobe halten.« Mit diesen Worten verließ sie die aufrührerische Gesellschaft.

Alle schwiegen, bis auf Grete; sie konnte nicht unterlassen, noch einmal zu sagen: »Langweilig ist es doch ohne Herren. Und den dummen Bauernjungen spiel' ich nicht.«

Aber sie spielte ihn doch, und es zeigte sich bald, daß sie ihre Rolle ganz vortrefflich mimte.

Die täglichen Proben brachten die gewünschte Zerstreuung. Besonders Ilse fand viel Freude an dieser Kunst, die ihr bis dahin unbekannt gewesen war. Die anfängliche Befangenheit überwand sie bald, und sie spielte ihre Rolle zur vollen Zufriedenheit Fräulein Güssows, die zuweilen ein Lächeln über die sehr natürliche Darstellung nicht unterdrücken konnte.

Zur Hauptprobe mußten alle in ihren Kostümen erscheinen, um sich an den veränderten gegenseitigen Anblick zu gewöhnen. Diese Bestimmung war sehr klug, denn als sie sich in ihren komischen Anzügen betrachteten, konnten sie das Lachen nicht zurückhalten.

Flora mit langen Scheitellocken, einer Spitzenhaube und einer Brille, die sie vor die Augen hielt, war kaum zu erkennen. Das vornehme schwarze Schleppkleid ließ sie weit größer erscheinen. Sie war übrigens ganz ausgesöhnt mit ihrer Rolle, und das Lob, das Fräulein Güssow ihr einige Male erteilte, brachte sie auf den Einfall, daß ihre eigentliche Bestimmung der Schauspielberuf sei. Tag und Nacht träumte sie von der Welt, welche die Bretter bedeuteten. Dichterin – Schauspielerin: eine große Zukunft stand ihr bevor.

Orla sah in ihrem Jägeranzug, den grünen Hut keck auf das eine Ohr gesetzt, wirklich gut aus, und der kleine Stutzbart, mit dem sie ihre Oberlippe zierte, gab ihr ein keckes Aussehen und stand ihr allerliebst.

»Famos siehst du aus, Orla«, meinte Melanie und betrachtete mit besonderem Entzücken ihre Stulpenstiefel.

»Du solltest dich immer so kleiden«, setzte Flora ganz ernsthaft hinzu. Natürlich wurde sie ausgelacht.

Grete war ein Bauernjunge, wie er sein muß. Plump und ungeschickt, dreist und laut. Melanie fühlte sich himmlisch wohl in dem koketten und eleganten Kostüm, das sie sich gewählt hatte. Sie stand vor dem Spiegel und putzte an sich herum.

Und Ilse? Sie trat als letzte herein, und bei ihrem Anblick erhob sich ein so stürmisches Gelächter, daß Fräulein Güssow es kaum beruhigen konnte. »Wie siehst du aus, Mädchen!« sprach sie lachend. »Komm näher! Ich muß dich genau betrachten. Willst du wirklich in diesem Aufzug spielen? Nein, Ilse, so geht es nicht. Wir müssen an deinem Anzug einige Verschönerungen anbringen. Du bist auch gar zu wenig eitel, sonst würdest du wohl selbst daraufgekommen sein.«

»Lassen Sie mich so!« bat Ilse inständig. Sie war glücklich, ihr geliebtes Blusenkleid bei dieser Gelegenheit tragen zu dürfen, obwohl es ihr zu eng und zu kurz geworden war. Natürlich erhöhte dieser Mangel noch den komischen Eindruck.

»Nein, Kind, unmöglich! Du siehst wie eine Bettlerin aus. Der Ärmel darf nicht ausgerissen sein, der schlechte Gürtel muß durch einen neuen ersetzt werden; um den Hals wirst du einen Matrosenkragen legen, und die fürchterlichen Stiefel laß vor allen Dingen blankputzen! Dann wird es gehen. Man darf nicht übertreiben«, fügte Fräulein Güssow hinzu, als Ilse ein betrübtes Gesicht machte; »stets muß das richtige Maß eingehalten werden. Auch die Locken dürfen dir nicht so wirr über die Augen fallen; du kannst ja kaum sehen! Vergiß nicht, daß du die Tochter einer Baronin bist! Dein Anzug darf verwildert, aber nicht zerrissen sein.«

»Wollen wir nicht anfangen?« meinte Miß Lead, die sich mit ihren Künstlerinnen ebenfalls zur Hauptprobe eingestellt hatte. Sie war bei der genauen Musterung der Kostüme unruhig geworden und fand es überflüssig, daß Fräulein Güssow darauf Wert legte. Die Hauptsache war nach ihrer Meinung die vollständige Beherrschung der fremden Sprachen und daß die Mädchen ihre Rolle gut lernten, alles andere war für sie unwichtig. Um keinen Preis litt sie viele Gesten; wollte eine Mitspielende es wagen, sich frei und natürlich zu bewegen, geriet sie förmlich außer sich und rief: »Ruhe! Ruhe! Wo bleibt die Plastik?« Das französische Stück fand sie entsetzlich, und sie gab Fräulein Güssow den guten Rat, es nicht aufführen zu lassen. »Ich bitte Sie«, rief sie aus, »es handelt sich um eine Liebesgeschichte! Das wird den größten Anstoß erregen.«

Fräulein Güssow setzte der Engländerin lächelnd auseinander, daß nicht Kinder, sondern erwachsene Mädchen das Stück aufführten. »Die Liebesgeschichte«, wandte sie ein, »ist nur eine harmlose Nebensache; es handelt sich hauptsächlich um die Besserung eines widerspenstigen Mädchens.«

Miß Lead schüttelte mißbilligend den Kopf, sie wollte sich nicht davon überzeugen lassen. »Ilse wird Ihnen alles verderben, wenn Sie wirklich auf Ihrem Vorsatz bestehen. Wie sieht sie aus, und wie spielt sie! Plump, ohne jeden Anstand. Das Podium der kleinen Bühne erdröhnt förmlich bei ihren furchtbaren Schritten, ihre Bewegungen sind frei und keck.«

Fräulein Güssow schwieg zu diesem harten und ungerechten Urteil. Sie hatte es längst aufgegeben, die Engländerin von ihrem Vorurteil zu heilen. Ilse war und blieb ihr ein Dorn im Auge.

Aber Miß Lead irrte sich. Am nächsten Abend ging alles über Erwarten gut. Die Festlichkeit wurde durch einen Prolog eingeleitet, den eine Schülerin der ersten Klasse gedichtet hatte. Sie trug ihn selbst recht hübsch vor und erntete wohlverdienten Beifall. Nur Flora, die hinter den Kulissen stand, zuckte die Achsel. »Kein Schwung, keine Poesie und keine Begabung«, lautete ihr kritisches Urteil.

Die Aufführung des englischen Stückes ging vorüber, glatt, reizlos und langweilig. Wenn die Anwesenden sich dies in ihrem Innern auch einstimmig eingestanden, so waren sie doch am Ende des Stückes mit Beifallsspenden nicht sparsam. Die Mitwirkenden wurden herausgerufen, und als der rote Vorhang in die Höhe ging und die Mädchen sich dankend verneigten, strahlte Miß Lead vor Stolz und Seligkeit. »Very well«, rief sie laut, »ihr habt eure Sache gut gemacht.«

Es folgten lebende Bilder und musikalische Aufführungen, und das französische Lustspiel bildete den Schluß. »Wollen Sie es wirklich wagen?« wandte sich die englische Lehrerin herablassend an Fräulein Güssow. »Schreckt Sie der große Erfolg, den wir erzielten, nicht ab? Folgen Sie meinem Rat, treten Sie zurück! Wir werden eine Entschuldigung finden.«

Trotz Miß Leads Bedenken begann das französische Stück, und sie mußte die überraschende Erfahrung machen, daß es weit beifälliger aufgenommen wurde als das englische. Die Gesellschaft amüsierte sich köstlich und kam aus dem Lachen nicht heraus. Zweimal wurde Ilse bei offener Szene gerufen, so drollig und natürlich spielte sie.

»Sie ist charmant, charmant!« rief Monsieur Michael feurig. »Ich habe Ursache, stolz auf sie zu sein. Sie spricht und spielt elegant wie eine Pariserin.«

»Sie spielt sich selbst«, entgegnete Doktor Althoff lachend; »aber ich hätte dem Wildfang kaum soviel Anmut zugetraut.«

Einen kleinen Triumph sollte Miß Lead doch noch feiern. Ilse verdarb die Liebesszene am Schluß. In dem Augenblick, als Orla sie umarmen wollte, kam ihr das so komisch vor, daß sie in ein lautes Gelächter ausbrach.

»Wie schade!« rief Nellie halblaut. »Warum muß sie lachen? Sie war zu nett, nun verderbt sie die Schluß.«

Doktor Althoff, der zufällig in Nellies Nähe stand, hörte ihren Ausruf. »Trotzdem, Miß Nellie«, entgegnete er, auf einem leeren Stuhl neben ihr Platz nehmend, »ist Ihre Freundin die Siegerin des Abends; aber warum wirkten Sie nicht mit, warum sind Sie nur Zuschauerin? Sie wären gewiß eine gute Schauspielerin.«

Nellie senkte die Augenlider. »Oh, Sie sind sehr gütig«, sagte sie befangen; »aber ich weiß nicht zu spielen, Herr Doktor, ich hab' nicht Talent.«

»Das käme auf einen Versuch an. Sehen Sie Ilse an! Wer hätte geglaubt, daß sie eine so gute Schauspielerin sein könnte!«

»Nicht wahr?« stimmte Nellie lebhaft bei. »Sie ist reizend, und ich bin entzückt über ihr.«

Der junge Lehrer schwieg und sah Nellie teilnahmsvoll an. Wie neidlos kamen ihr die Worte aus dem Herzen! Wie leuchteten ihre Augen freudig auf, als sie die Freundin lobte! Und im Vergleich zu Ilse, wie wenig durfte sie von der Zukunft erhoffen! Jene ein Kind des Glückes – und diese? Ein armes Wesen, das allein seinen mühevollen Pfad durchs Leben gehen sollte.

»Nicht wahr, ist sie nicht reizend?« wiederholte Nellie und blickte fragend auf.

»Gewiß, gewiß!« gab der Lehrer zerstreut zur Antwort, und von dem Gegenstand plötzlich abspringend, fragte er: »Woher haben Sie die herrlichen Veilchen?« Dabei deutete er auf den Strauß, den sie in der Hand hielt. »Sie duften wundervoll. Ich liebe Veilchen sehr.«

Nellie hörte nur, daß er Veilchen liebte; bedurfte es da einer großen Überlegung? »Oh, nehmen Sie«, sagte sie und errötete dabei, »bitte, es macht mich großer Freude!«

»Nicht alle«, entgegnete er lächelnd und zog einige Blumen aus dem Strauß, den ihm Nellie reichte. »So, nun habe ich genug. Haben Sie Dank dafür!« Er erhob sich und verließ sie.

Mit glänzenden Augen sah Nellie ihm nach; sie bemerkte, wie er ihre Veilchen im Knopfloch befestigte.

»Wie taktlos von dir!« sagte Miß Lead, die dicht hinter Nellie saß, und riß sie mit ihrer scharfen Stimme aus allen Himmeln. »Ich habe jedes Wort mit angehört. Schämst du dich nicht, einem Herrn Blumen anzubieten?«

Als hätte ein eisiger Wind sie plötzlich gestreift, wurde Nellies kurze Freude zerstört. »Habe ich ein Unrecht gemacht?« fragte sie geängstigt. »O bitte, Miß Lead, sagen Sie, war ich ungeschickt? Wird Herr Doktor mich für unbescheiden halten?«

»Jedenfalls wird er dich für sehr einfältig halten«, erwiderte die Lehrerin unbarmherzig, »wenn er nicht vielleicht deine Handlungsweise zudringlich nennt.«

»O nein, nein«, rief Nellie beinahe entsetzt, »er wird nicht so hart von sein Schüler denken.«

»So, weißt du das so bestimmt?« quälte Miß Lead sie weiter. »Du bist kein Kind mehr, dem man allenfalls dergleichen Taktlosigkeiten vergibt; ein erwachsenes Mädchen darf niemals blindlings seinem Gefühl folgen.«

»Ich will bitten, daß er mir die Blumen wiedergibt«, sagte Nellie tief beschämt.

»Das darfst du nicht, wenn du dich nicht noch mehr bloßstellen willst. Du wirst schweigen und dich niemals wieder vergessen. Eine zukünftige Erzieherin muß jedes Wort, jeden Blick und vor allem jede Handlung reiflich überlegen. Das merke dir!«

Beschämt sah Nellie nach diesem harten Verweis zu Boden. Ihre fröhliche Laune war dahin, ihre Freude an dem Fest verflogen. Sie blieb den ganzen Abend still und einsilbig, und sobald Doktor Althoff in ihre Nähe kam, wich sie ihm ängstlich aus. Es war ihr unmöglich, ihm in die Augen zu blicken. Miß Lead war es gelungen, ihre fröhliche Unbefangenheit zu zerstören.

Als sich die Freundinnen nach dem Fest zur Ruhe begaben, saß Nellie ganz gegen ihre Gewohnheit noch einige Zeit sinnend da. »Du bist so still«, bemerkte Ilse. »Was hast du?«

»O nichts, nichts!« erwiderte Nellie schnell und erhob sich aus ihrer träumenden Stellung. »Es ist gar nix.« Zum erstenmal verschwieg sie der geliebten Freundin die Wahrheit. Sie vermochte es nicht, über ihren Kummer zu reden, und doch – was war es, das trotz allen Kummers ihr Herz schneller klopfen ließ?

 

Holunder und Maiblumen waren abgeblüht, dafür aber öffneten die Rosen ihre duftenden Kelche. Nellie und Ilse wandelten nach dem Abendessen durch den Garten, und, als sie im Gebüsch eine Nachtigall schlagen hörten, blieben sie stehen und lauschten.

»Wie süß!« rief Nellie. »Komm, laß uns niedersetzen!«

Der herrliche Abend, der am Abendhimmel aufsteigende Mond, der Gesang der Nachtigall weckten eine ahnungsvolle, nie gekannte Stimmung in ihren jungen Herzen.

»O Ilse«, unterbrach Nellie mit einem Seufzer die feierliche Stille, »wie bald gehst du fort und läßt mir allein zurück! Ich bin sehr traurig, wenn ich daran denke.«

Auch Ilse war weh zumute, und der Gedanke, von Nellie scheiden zu müssen, machte ihr die Augen feucht. Aber sie unterdrückte tapfer die weiche Stimmung und versuchte, die Freundin zu trösten. »Es ist noch lange, bis ich das Institut verlasse«, sagte sie; »du weißt, daß meine Eltern meinen Aufenthalt bis zum ersten September verlängert haben. Noch acht Wochen sind wir beisammen, Nellie. Das ist eine sehr lange Zeit; denk einmal, acht volle Wochen!«

Nellie schüttelte traurig den Kopf. »O nein, es ist nur sehr kurze Zeit«, erwiderte sie; »es sind auch nicht acht Wochen voll, du mußt ordentlich rechnen. Heute haben wir schon der siebente Juli – macht bis zu der erste September vierundfünfzig Tage –, fehlt also zwei volle Tage an der achte Woch.«

Trotz ihres Kummers mußte Ilse lachen. »Du liebe Nellie«, rief sie und küßte sie herzlich, »du bist doch immer komisch, selbst wenn du traurig bist! Weißt du, wir wollen uns das Herz nicht schon heute schwermachen mit dem Gedanken an unsere Trennung; wir gehen doch nicht für immer auseinander. Du besuchst mich bald, nicht wahr?«

Aber Nellie war heute abend einmal weich gestimmt, und die tröstenden Worte der Freundin fanden keinen Eingang in ihr Herz. Sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, aber sie brachen immer neu hervor.

Ilse lehnte den Kopf an ihre Schulter und schwieg. In ihrem Innern kämpften der Schmerz und die Freude. Sie wollte sich so gern auf das Wiedersehen mit ihren Lieben und auf das kleine Brüderchen freuen, sie vermochte es aber nicht ungetrübt, weil der Abschied von Nellie dazwischen stand.

»Hier sind sie. Kommt! Hierher! Sie sitzen beide unter dem Holunderbusch.« Es war Grete, die sie durch ihren lauten Ruf aufschreckte. Unbemerkt war sie aus einem Seitenweg hervorgetreten und stand nun wie aus der Erde gewachsen vor ihnen.

Ilse sprang auf und trat den andern Mädchen, die herbeigeeilt kamen, entgegen. Nellie trocknete verstohlen ihre Tränen und machte wieder ein heiteres Gesicht.

»Wir haben euch überall gesucht«, sagte Orla. »Was macht ihr denn hier?«

»Ich glaube wahrhaftig, ihr schwärmt im Mondenschein, Kinder«, lispelte Melanie. »Ihr macht so furchtbar schmachtende Augen alle beide. Habt ihr geweint?«

Grete mußte sich hiervon genau überzeugen. Sie trat zu Nellie und sah sie neugierig prüfend an. »Du hast geweint, Nellie, und du auch, Ilse«, behauptete sie entschieden. »Was habt ihr denn? Warum weint ihr?«

»Um nix!« entgegnete Nellie ärgerlich über die unzarte Grete.

»Um nichts weint man doch nicht!« fuhr diese unbeirrt fort. »Bitte, sagt es doch, warum ihr geweint habt!«

»Laß deine zudringlichen Fragen!« bemerkte Flora. »Und wenn sie dir sagen würden: ›Der silberne Mond, die duftenden Rosen, der entzückende Sommerabend, so recht zur Liebe und Traurigkeit geschaffen, haben unsern Herzen Wehmut und Tränen entlockt‹, würdest du das verstehen? Niemals! Denn du hast keinen Sinn für die höhere Sphäre, du bist zu prosaisch.« Sie begleitete ihre Worte mit einem wirksamen Augenaufschlag.

Floras hochtrabende Äußerung stellte sofort die fröhlichste Stimmung her. Nellie vergaß ihr Herzeleid darüber und sagte lachend: »O Flora, was für ein zarter Seel' du hast! Sei bedankt, du hoher Dichterin, du hast uns verstanden!«

»Kinder«, unterbrach Orla die Sprechenden, »hört auf mit euren Albernheiten! Ich habe euch eine sehr wichtige Mitteilung zu machen. Folgt mir unter die Linde!«

»Unter die Linde?« fragte Annemie ängstlich. »Laß uns doch hier! Es ist schon dunkel unter dem alten, großen Baum.«

»Ja, und es ist spät, wir müssen uns eilen«, fiel die ebenfalls furchtsam Flora ein.

»Mach dir keine Sorge darum, liebste Flora!« gab Orla zurück. »Denn höre und staune: Weil heute mein Geburtstag ist, hat Fräulein Raimar auf dringendes Bitten die hohe Gnade gehabt, unsern Aufenthalt im Garten bis um zehn Uhr zu verlängern. Also auf zur Linde!« kommandierte Orla und wandte sich zum Gehen.

Die Mädchen folgten ohne Widerspruch. In wenigen Augenblicken waren sie auf dem angegebenen Platz. Orla stieg auf eine Bank, die dicht am Stamm der Linde lehnte, kreuzte die Arme und sah schweigend auf die Mädchen hinab, die einen dichten Halbkreis bildeten und in größter Spannung auf sie blickten. »Meine lieben Freundinnen«, begann sie.

Da raschelte es über ihnen in den Zweigen. Die Mädchen schraken zusammen.

»Was war das?« fragte Annemie. »Ach, wenn sich jemand in dem Baum versteckt hätte!«

»Oder wenn ein Gespenst wieder seinen Spuk triebe!« sprach Melanie mit bebenden Lippen.

»Wie unheimlich ist es hier!« fiel Grete ein. »Ich fürchte mich.«

»So ein Gespenst mit großer Feuerauge und fliegender Haar«, meinte Nellie und stieß Ilse an, »Oh, es wäre furchtbar!«

Orla stand ruhig da, sie kannte keine Furcht. »Schämt euch!« rief sie. »Seid ihr erwachsene Mädchen? Kann euch eine harmlose Fledermaus in die Flucht treiben? Geht zurück, wenn ihr euch fürchtet! Für Kinder passen meine Worte nicht. Wollt ihr vernünftig sein?«

»Ja, ja!« tönte es zurück, etwas zaghaft, aber die Neugierde trug den Sieg über die Furcht davon.

»So hört mich an! Hier an dieser Stätte, unter dem Schutz unserer geliebten Linde, laßt uns einen Bund schließen, der uns in Freundschaft für das ganze Leben vereinen soll! Wie lange wird es dauern, bis wir diese Stätte verlassen und das Schicksal uns in alle Winde zerstreuen wird!«

»In alle Winde«, wiederholte Flora halblaut.

»Nun frage ich euch: Soll uns das Schicksal für immer trennen? Ich sage: Nein, wir werden uns wiedersehen. Wir haben stets zusammengehalten: unsere Freundschaft darf nicht wie ein leerer Wahn verrauschen.«

»Wie ein leerer Wahn verrauschen«, wiederholte Flora.

»Ruhig!« geboten die anderen. »Laß Orla sprechen!«

»So frage ich euch denn: Wollt ihr mit mir in diesem feierlichen Augenblick geloben, daß ihr heute in drei Jahren zurückkehren wollt? Hier unter der Linde, am siebenten Juli, morgens elf Uhr, soll uns ein frohes Wiedersehen vereinen. Seid ihr mit meinem Vorschlag einverstanden?«

»Ja«, riefen alle begeistert, »wir kommen!«

»Schwört einen Eid darauf!«

Orla hob drei Finger der rechten Hand, und alle übrigen folgten ihrem Beispiel.

Nur Rosi zögerte. »Es könnten doch Hindernisse eintreten, die eine Reise hierher unmöglich machen«, warf sie mit ihrer sanften Stimme ein.

»Hindernisse, das heißt nur wichtige Hindernisse, heben den Eid auf«, erklärte Orla. »In diesem Fall ist die Ausbleibende verpflichtet, durch einen ausführlichen Brief den Grund ihres Eidbruches anzugeben. Beschwört auch das!«

Wieder erhoben sich die Hände, und diesmal zögerte Rosi nicht, sich dem Schwur anzuschließen.

»Nun haben wir uns für ewig verbunden«, nahm Orla wieder das Wort, »und jede von uns wird ihren Eid halten. Damit wir indes stets dessen gedenken, mache ich einen Vorschlag. Ich habe zur Erinnerung an diese Stunde einfache, silberne Ringe anfertigen lassen, die wir an dem kleinen Finger der linken Hand tragen. Jede von uns erhält einen und trägt ihn bis zur Sterbestunde.«

»Bis zu ihrer Sterbestunde«, sprach Flora elegisch nach.

Der Einfall mit dem Ring wurde von allen reizend, famos und entzückend gefunden und mit Begeisterung aufgenommen. Orla sprang von ihrem erhöhten Platz herunter. Sie wurde umringt und mit schmeichelhafter Anerkennung überhäuft. Melanie prophezeite ihr geradezu eine große Zukunft als Rednerin, sie habe »selten reizend« gesprochen. Alle befanden sich in einer gehobenen Stimmung; sie versicherten sich gegenseitig der Freundschaft, die nur mit dem Tod enden könne.

Sie glaubten ganz ernst an ihre Versprechungen, kein Zweifel vergiftete ihre unschuldsvolle Zuversicht.

»Orla«, sagte Flora feierlich, als sie langsam in das Haus zurückkehrten, »auch ich möchte einen Vorschlag machen. Wenn eine von uns Freundinnen, die wir uns bis in den Tod verbunden haben, in den Bund der heiligen Ehe tritt, so soll es ihre Pflicht sein, ihre Freundinnen zu diesem hohen Fest einzuladen.«

»Ja«, stimmte Orla bei, »das ist ein guter Gedanke. Wir wollen ihn mit einem Handschlag besiegeln!«

Sie schlossen einen Kreis, reichten sich die Hände und verzogen keine Miene dabei. Nur Ilse konnte das Lachen nicht lassen; die Hochzeitsgedanken kamen ihr gar zu komisch vor.

»Ich trete zwar niemals in den Bund der heiligen Ehe, aber ich gebe doch mein Handschlag zu die Einladung«, bemerkte Nellie neckend.

»Spotte nicht über so ernste Dinge!« sagte Flora ernst. »Wir sind nicht aufgelegt zu deinen Scherzen.«

»Oh, ich scherz' gar nix! Aber wie soll ein arm' häßlich' Engländerin mit sehr viel Sommerspross' auf der Nas' ein Mann bekommen?«

Diese komische Bemerkung verscheuchte den Ernst, und Scherz und Frohsinn kehrten zurück.

Ehe sich Flora zur Ruhe begab, schrieb sie in ihr Tagebuch:

»Welch ein großer, ereignisreicher Tag! Oh, ich zittere noch, wenn ich daran denke! Mondschein, Rosenduft, Linde, Sang der Philomele. Orla hinreißend gesprochen. (Meine nächste Heldin Orla heißen.) Freundschaftsbündnis, Schwur, Hochzeitsversprechen. (Mein köstlicher Einfall.) Handschlag darauf. Wie heißt die Hochbeglückte, die zuerst denselben löst? Schicksal, du dunkles, laß mich den Schleier heben! Gibt es Ahnungen, sollte ich...?«

Sie legte die Feder aus der Hand, schloß das Buch und verbarg es tief in ihrem Kommodenkasten. Ihre Hand zitterte, und ihre Gedanken verwirrten sich. Sie legte sich nieder und schlief ein. Träumend sah sie sich in Brautkranz und weißem Kleid.

 


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