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Mehr als zwei Jahre waren seitdem vergangen; man schrieb das Jahr 1479. Schon waren die Wetterlaunen des Aprilmonats, die Tage der frostbringenden Heiligen Pancratius, Servatius und Mamertus vorüber, und mit dem letzten Drittel des Maimonds hatte der Frühling seine unbestrittene Herrschaft so vollständig gewonnen, daß allenthalben die Fliederbüsche und andere Ziersträucher in herrlichster Blüte standen, die Vöglein, von ihrer Chormeisterin, der Nachtigall, geführt, Gärten und Wälder mit helltönendem Gesange erfüllten. Da fühlten sich wohl auch die emsigsten Werkmeister, die verstimmtesten Alten getrieben, wenigstens gegen Abend einige Schritte hinaus vor die Thore zu thun, um den erfreulichen Wechsel in der Natur, von welchem im Innern der Stadt so wenig bemerkt werden konnte, mit eigenen Augen zu schauen.
In seiner Werkstatt saß Adam Krafft auf einem einfachen Holzstuhle. Sein kräftig gebildetes, von jugendlichem Vollbarte umrahmtes Haupt mit der breiten Stirn stützte sich auf den linken Arm, die fleißige Rechte war tief herabgesunken und der Schlägel, den sie noch vor kurzem gehandhabt, zur Erde gefallen. Zur Seite lag auch sein Meißel, und die tiefen, regelmäßigen Atemzüge, welche seinem Munde entströmten, verrieten, daß er sanft entschlafen war – mitten in seiner künstlerischen Arbeit. Denn siehe, vor ihm erhob sich ein großes, bedeutendes Werk, der »Kalvarien- oder Schädelberg«, die Vollendung des Erlösungswerkes: Christus am Kreuze.
Die Strahlen der allmählich sinkenden Sonne, die sich durch die Butzenscheiben hindurch in das stille Gemach gestohlen hatten, fielen über das gebeugte Haupt des Künstlers hinweg auf die Gestalt des Gekreuzigten in der Mitte der Gruppe. Es schien, als ob die Züge des Gottessohnes im Sterben sich nochmals belebten und, während die Lider seines brechenden Auges sich senkten, seinem halbgeöffneten Munde eben erst die Worte entströmten: »Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist!«
Da öffnete sich leise die Thür, und Magdalena erschien auf der Schwelle. Ihre weibliche Schönheit hatte sich noch mehr entfaltet; ihre Formen waren etwas voller geworden. Augenscheinlich hatte sie ihr Hauskleid mit einem etwas besseren Gewande vertauscht; wahrscheinlich wollte sie ausgehen. Ihr erster Blick fiel auf das Bildwerk, und obwohl sie dasselbe allmählich hatte entstehen sehen, erschien es ihr doch in dieser Abendbeleuchtung ganz anders als vordem – bedeutender, vollendeter, und vor allem ergreifender. So stand sie denn einen Augenblick wie festgebannt, die Hände unwillkürlich zusammengefaltet: »Christus, erbarme Dich meiner!« glitt es über ihre Lippen.
Nun erst schien sie den Schlummernden zu erblicken.
»O, er ist unermüdlich fleißig gewesen, sein Werk zum Abschlusse zu bringen; kaum, daß die hereinbrechende Nacht ihn bewog, die Arbeit ruhen zu lassen. Und sobald das Morgenlicht aus diesen Räumen die Schatten vertrieb, hat er sie wieder aufgenommen. Jetzt aber kommt die Abspannung, und seine Kräfte versagen ihm! … Ob ich ihn wecke? Er versprach mir, mit hinauszugehen, damit er auch einmal wieder die Vöglein singen höre; nur noch wenige Augenblicke sollte ich ihm lassen, damit er morgen die fertige Arbeit dem Martin Ketzel zeigen könne. Nun ist er darüber entschlafen! …«
Sie lenkte nochmals ihren Blick auf die Steingruppe. »Doch was sollte hier noch fehlen? Es ist so schön, so überaus rührend! Adam muß aufhören zu bessern; er muß mit mir hinaus auf die Flur!«
Leise berührte sie mit der Hand sein herabgesunkenes Haupt: »Adam, Du wolltest mich bei einem Abendspaziergange begleiten!«
Jäh fuhr er auf, strich sich mit der Rechten über die Stirn, blickte erstaunt auf die Gattin und fragte: »Habe ich lange geschlafen?«
»Längst sind die Gesellen fortgegangen, und die Sonne senkt sich hinab; dennoch, fürcht' ich, hast Du noch vor kurzem gearbeitet, und nur Übermüdung beugte zuletzt eine kleine Weile Dein Haupt!«
Er hatte sich vom Stuhle erhoben.
»Ich komme mit Dir, Magdalena; was noch fehlt, arbeite ich in der Frühe des kommenden Morgens!«
Und er schickte sich an, die Werkstatt zu verlassen.
Da ward von draußen gepocht, und Martin Ketzel trat ein: »Nicht konnt' ich die Zeit bis zum kommenden Tage erwarten, da Ihr mir sagtet, daß Euer Werk nahezu fertig sei; ich mußte es noch heute sehen! Hoffentlich störe ich Euch nicht!«
Flüchtig reichte er dem Künstler die Hand und trat, ohne eine Antwort zu erwarten und die junge Frau zu beachten, vor die Kreuzesgruppe, auf welcher, wenn auch allmählich verbleichend, noch immer der Schimmer der untergehenden Sonne ruhte.
»Kyrie eleïson, Christe eleïson!« glitt es über seine Lippen, und zugleich war er auf die Kniee gesunken, von dem Werke des Künstlers überwältigt.
Schweigend standen die beiden zur Seite. Die Plötzlichkeit und die Stärke des Eindruckes, den der Greis von dem Bildwerk gewonnen hatte, ergriff auch sie. Magdalena hatte wie vordem die Hände gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich im stillen Gebete; aus des Künstlers Augen aber flossen Thränen der Rührung und des Glückes zugleich.
Eine lange Weile tiefster Stille verstrich. Endlich erhob sich Ketzel wieder. Auf den Meister eilte er zu, schüttelte ihm vielmal die Hände und rief: »Lieber Krafft, was für ein Wunderwerk habt Ihr da geschaffen! Doch nein, daß ich's richtig ausdrücke: Zu welchem herrlichen, herzerhebenden Werke hat sich Gott Eurer kunstreichen Hand bedient!«
Erst jetzt schien er Frau Magdalena bemerkt zu haben. Er drückte auch ihr die Rechte und sagte: »Frau Lena, wie seid Ihr glücklich, einen solchen Mann zu besitzen!«
Und nun trat er zu genauer Betrachtung nochmals vor den »Kalvarienberg« hin: »O wie erhaben scheint mir diese Gestalt des gekreuzigten Gottessohnes! Ihr habt seinen heiligen Leib in feinerem Steine und, ach, so zart und weich in den Formen ausgeführt, daß man sofort ahnen kann, wie hoch dieser für uns leidende Körper über den aller übrigen Menschen emporragt. Das Haupt hat der Herr etwas vorgeneigt; sein Antlitz wird durch die nach vorn fallenden Locken ein wenig beschattet; doch, wie ein Glanz aus höherer Welt ruht verklärend auf ihm das Licht der Abendsonne! Von dem Schächer zur Linken wendet sich das Auge, so vortrefflich er ausgeführt sein mag, rasch ab und schaut auf den andern, dessen Antlitz statt verstockten Trotzes tiefe, in sich gekehrte Reue zeigt und dem man von den Lippen die Worte abliest: ›Herr, gedenke meiner, wenn Du in Dein Reich kommst!‹
»Laßt mich auch noch die Gestalten betrachten, die unter dem Kreuze ihren Platz finden sollen!« fuhr der Alte nach kurzer Pause fort. »Ihr habt sie hier in der Nähe nebeneinandergestellt: Einige Juden, verruchten Hohn im Gesichte; doch dieser römische Hauptmann zur Seite der Kriegsknechte zeigt in seinen ernsten Mienen und in seiner sonstigen Haltung, daß des Herrn Worte vom Kreuze nebst den Wunderzeichen ihn zu der rechten Erkenntnis geführt haben: ›Wahrlich, dieser ist ein frommer Mann und Gottes Sohn gewesen!‹ … Jene Figuren, die Ihr ein wenig abseits gestellt habt, finde ich tief ergreifend: Dies hier ist Jesu Lieblingsjünger, der heilige Johannes, welcher sich den verschleierten Frauengestalten zuwendet. Sein von Mitleid verklärtes Antlitz sucht des Erlösers gebenedeiete Mutter, die ihm dieser mit einem seiner letzten Worte warm empfohlen hat. Ohnmächtig vor Schmerz ruht die heilige Maria in den Armen der übrigen Frauen … O wie kommt dieses herrliche Werk im großen wie im kleinen unserer andächtigen Vorstellung zu Hilfe und der Wirklichkeit nahe! – Wenn ich auch auf den Gesamteindruck das Hauptgewicht lege, so kann ich doch nicht ohne aufrichtige Bewunderung schauen, wie fein an den entblößten Körpern Muskeln und Adern hervortreten, wie die Stricke, mit welchen die Schächer an ihren Kreuzen befestigt sind, in täuschender Ähnlichkeit als aus Hanf geflochten erscheinen.«
Er schwieg wieder einen Augenblick, im erneuten Anschauen des sterbenden Heilandes vertieft. Eben hatte der abendliche Sonnenstrahl den stillen Arbeitsraum des Künstlers verlassen, und leise, doch unaufhaltsam begannen die Schleier der Dämmerung sich über die wunderbaren Gestalten, die Adam Kraffts Meißel aus sprödem Sandstein geschaffen, hernieder zu senken.
»Ich will gehen!« sagte mit gedämpfter Stimme der Alte. »Denn ich möchte den tiefen Eindruck, welchen ich bei meinem Eintritt von dieser letzten Gruppe unseres großen Bildwerkes empfangen habe, nicht wieder in Nacht versinken lassen, sondern mit heimnehmen zu meinem Weibe! … Und nun laßt ab von der Arbeit,« setzte er, zu dem Meister gewendet, hinzu, »denn fast ein Frevel dünkt mich's, an diesem Werke noch bessern zu wollen! … Nein, nein, lieber Krafft; ich dulde Eure Einwendungen nicht; schon morgen muß dieser ›Kalvarienberg‹ auf dem Kirchhofe am Siechkobel aufgestellt werden!«
Adam Krafft und seine Gattin hatten Martin Ketzel bis zur Hausthür begleitet. Der Künstler schaute dem Davoneilenden nach.
»Er hat einen harten Kopf; gegen seinen Willen richten alle Vorstellungen nichts aus!«
Zu seiner Gattin hinüberblickend, fuhr er dann fort: »Eigentlich ist's schon zu spät; andere Spaziergänger werden jetzt bereits heimkehren, doch, wenn ich nicht irre, ist Mondenschein, drum wollen wir den verabredeten Ausgang noch thun. Erwarte mich hier; ich will nur den Schurz ablegen und einen anderen Rock anziehen.«
Bald darauf schritten die Gatten zum Thore hinaus, von den zurückkommenden Mitbürgern entweder vertraulich oder mit Achtung gegrüßt; denn schon standen die »Siebenfälle,« an welche sich der »Kalvarienberg« anschließen sollte, auf dem Wege von Ketzels Garten nach dem Kirchhofe des Siechkobels hin, und es gab keinen echten Nürnberger, der nicht diese Bildwerke bewundert hätte und stolz darauf gewesen wäre, daß der Künstler, der sie geschaffen, einer der Ihrigen sei. Mancher wunderte sich wohl, daß Adam Krafft mit seinem Weibe noch hinaus wollte, doch er dachte dann: Der Meister wird an dem Werke gearbeitet haben, das hernach vor dem Thore auch soll aufgestellt werden; übrigens ist der Abend mild genug, der Mond steigt soeben empor, und die Nachtigallen haben noch nicht aufgehört zu schlagen.
Also ging das Paar traulich zusammen durch die Gärten dahin, lenkte an der ersten »Station« des Leidensweges seitwärts und ergötzte sich an dem Dufte der Sträucher, den im Silberglanze des Mondes schimmernden Matten und Laubbäumen, den sanften Weisen der Vöglein, die bisweilen noch, ehe sie entschliefen, einander mit Gesängen grüßten oder zärtlich lockten. Da zeigte sich im Gespräche der beiden, daß der Künstler, so erhabene Stoffe seine geschickte Hand in unermüdlichem Fleiße darzustellen bemüht war, sein jugendliches Herz auch irdischer Schönheit und rein menschlichen Empfindungen offen erhielt, und vornehmlich, daß er mit Magdalena noch glücklich lebte, obgleich er es schmerzlich empfand, daß sie ihn mit keinem Kindlein beschenkte.
* * *
In dem nämlichen Jahre geschah es, daß Herzog Albrecht von Sachsen nach Nürnberg kam. Da ihn eine Reise in geschäftlichen Angelegenheiten an der Pegnitz vorüberführte, so wollte er nicht unterlassen, das heilige Werk zu betrachten, welches sein ehemaliger Gefährte auf dem Pilgerzuge gen Jerusalem inzwischen hatte errichten lassen. Von Martin Ketzel und Adam Krafft geführt und von mehreren Ratsherren begleitet, trat er den Weg zu den »Stationen« hin an. Bald standen sie vor dem »ersten Falle« des Kreuzganges. Frei erhob sich auf einem Sandsteinpfeiler das Bildwerk, das eine Höhe von fünf, eine Breite von sechs Fuß zeigte. Im Relief fanden sich hier im ganzen sechzehn Figuren dargestellt, und zwar so, daß die hintersten nur flach angedeutet waren, die vorderen erhabener hervortraten, ja, sich fast als Rundfiguren vom Grunde ablösten, – eine meisterhafte Gestaltungsart, die sich auch bei den übrigen »Fällen« in mehr oder minder ausgeprägter Form wiederholte.
»Ich sehe,« hob der Herzog an, nachdem er in andächtiger Bewunderung einige Zeit vor dem Bildwerke gestanden hatte, »daß unser Meister die Figuren in zwei Gruppen geordnet hat, in deren einer der bedeutsam hervortretende Heiland, in deren anderer die leidtragende Mutter desselben den Mittelpunkt bildet. … Doch ich möchte den Künstler bitten, daß er mir selbst sein Kunstwerk erläutert.«
»Nachdem vor des Pilatus Hause,« hob Adam Krafft an, »die Kriegsknechte unserm Erlöser das Kreuz auf den Rücken gelegt, hat dieser, ohne seine Mutter zu sehen, im Geleite seiner Henker, an der Menge vorüber, die übergroße Bürde zu tragen begonnen. Aber schon verlassen ihn die Kräfte, seine Kniee kommen ins Wanken. Den grausamen Schlägen der Kriegsknechte gelingt es, ihn noch einige Schritte weiter zu treiben. So gewahrt ihn seine gramgebeugte Mutter. Unfähig, den herzzerreißenden Anblick zu ertragen, sinkt sie ohnmächtig in die Arme des mitleidigen Jüngers Johannes und eines danebenstehenden Weibes.«
»In ergreifender Weise,« rief der Fürst, »habt Ihr diesen Gegenstand verkörpert! In diesem tief erniedrigten, aufs äußerste gepeinigten Christus doch noch welche Hoheit, in dieser schmerzensreichen Maria welche rührende Mutterliebe und Ergebenheit in Gottes unabänderlichen Ratschluß!«
»Nur ein auserwählter Künstler konnte ein derartiges Werk schaffen!« bemerkte aus dem Kreise der Begleiter Hans Imhoff der Ältere.
»Und wahrhaft frommer Sinn,« setzte Ketzel hinzu, »der von höheren, unsichtbaren Kräften geleitet ward.« Dieses erste Stationsbild kann als eines der besten betrachtet werden.
Sie setzten ihre Wanderung fort und standen nun vor dem zweiten »Falle.«
»Es ist hier vornehmlich«, sprach der Herzog, »das rohe Bemühen der Henker veranschaulicht worden, die Christum vorwärts treiben wollen …«
»Dazu, wie Simon gezwungen ward, das Kreuz tragen zu helfen!« ergänzte Ketzel. »Doch redet Ihr selbst wieder, Meister Adam,« wendete er sich an Krafft.
»Der Heiland,« erläuterte dieser, »sinkt unter der Bürde zusammen; einer der Peiniger ergreift ihn am Haar, ein anderer sucht ihn mit einem Stricke vorwärts zu reißen, ein dritter treibt den Herrn mit Zuruf an und will ihm einen Schlag versetzen, noch andere schreiten mit Stangen und Leiter gefühllos zur Seite. Unterdessen ist auf Veranlassung zweier Kriegsknechte Simon von Kyrene herangetreten, um Jesu die Kreuzesbürde zu erleichtern. …«
»Ich zähle vierzehn Gestalten,« bemerkte der Fürst, »von denen sich im Vordergrunde vier am meisten plastisch abheben: Christus, Simon und zwei Kriegsknechte zu beiden Seiten des Erlösers. …«
»Folgt uns zu dem dritten ›Falle‹,« mahnte Ketzel, »den ich ganz besonders rühmenswert finde.«
Sie leisteten dieser Aufforderung Folge.
»Christus und die Frauen von Jerusalem!« rief der Herzog und versank in bewundernde Anschauung des Bildwerks.
»Der Gottessohn,« erläuterte der Künstler, »ist eben in die Kniee gesunken; aber die rohen Gesellen gönnen ihm keine Ruhe. Unter Geschrei zerren sie ihn an Locken und Ärmel vorwärts und treiben ihn durch Schläge zur Eile an. Inzwischen sind die Frauen von Jerusalem ihm klagend nachgeeilt. Schmerzerfüllten Blickes wendet er sich zu ihnen und spricht: ›Ihr Töchter von Jerusalem weinet nicht über mich, sondern über Euch und Eure Kinder!‹«
»Wohl habt Ihr recht,« wendete sich Albrecht an Ketzel, »diese Darstellung besonders zu preisen; sie zeigt in ihren sechzehn Figuren eine gewaltige dramatische Kraft und tiefinnerliche Bewegung. Mit hoher künstlerischer Vollendung wird der Herr in seinem Verhalten gegen die klagenden Weiber vor Augen geführt; selbst unter dem tiefsten Schmerze erhebt er sich hoheitsvoll. … Und diese weiblichen Gestalten! Kann es eine rührendere Trauergestalt geben als dieses Weib im Vordergrunde mit den flehend gefalteten Händen? … Das ist nicht das Werk eines geschickten Steinmetzen, sondern das eines vollendeten Künstlers!«
Zustimmend nickte Ketzel: »Und eines warmherzigen Meisters, der den kalten Stein mit der reinsten, tiefsten Empfindung zu beleben vermag! …«
Sie hatten sich der vierten »Station« genähert.
»Das Tuch der heiligen Veronika!« rief der Herzog und überschaute das Bild, welches nur zehn Figuren zeigte.
»Der Heiland ist hier,« schilderte Krafft, »bis zum Hause jener frommen Frau gekommen. Erbarmend eilt sie hinaus, hemmt den schmerzlichen Zug und trocknet mit dem Tuche des Erlösers Schweiß ab. Aber schon wird sie von dem Führer der Rotte gemahnt, diese nicht länger aufzuhalten, während ein Scherge den Erlöser am Haare gepackt hat und mit einem Knüttel zum Schlage nach ihm ausholt. Inzwischen hat sich das Wunder vollzogen, und erstaunt hält Veronika ihr Tuch, auf welchem sich das Haupt des schmerzensreichen Dulders abgeprägt findet, diesem entgegen.«
»Kein Wunder, wenn dieses Bildwerk,« sagte der Fürst, »nachdem man das vorige geschaut hat, etwas weniger packt; doch das soll hier nicht zu einem Tadel dessen, was wir vor uns sehen, sondern nur zu einem erneuten Lobe jenes vorigen bemerkt sein!«
Sie waren abermals weitergeschritten. Da, wo jetzt die Burgschmietstraße die Johannisstraße schneidet, erhob sich das fünfte Kreuzwegbild. Es befand sich am Rande eines wassergefüllten Grabens, welcher sich bis zum Kirchhofe weiter hinabzog.
»Der Bach Kidron!« sprach Ketzel, auf das Wässerlein zeigend.
»Schade, daß es kein wirkliches Rinnsal ist!« antwortete Albrecht.
Er hatte seinen Blick auf das Bildwerk gerichtet. Noch einmal die rohe Mißhandlung Jesu durch die gefühllose Bande!
»Die Kreuzeslast,« erläuterte der Künstler, »ist dem Herrn immer drückender, doch der Eifer seiner Henker, ihn zur Schädelstätte zu bringen, immer wilder geworden. Schon wird er mehr geschleift als geführt, von allen Seiten gestoßen, gezerrt und geschlagen.«
»Ich finde das Bildwerk ein wenig kleiner,« urteilte Albrecht, »auch scheint mir der Sandstein feiner und besser; – ein preiswürdiges Stück ist's gleichfalls!«
»Unser Krafft,« setzte Ketzel hinzu, »hat durch diese Darstellung sinnig auf die nächste ›Station‹ vorbereiten wollen, die wiederum eine der ergreifendsten genannt werden muß.«
Der Alte war in fast jugendlicher Rüstigkeit vorausgeeilt und wies auf dieses sechste Kunstwerk.
»Unser Erlöser ist unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen!« rief mit dem Ausdrucke tiefen Mitgefühls der Herzog.
»Die Kräfte haben ihn gänzlich verlassen,« ergänzte der Künstler, »er liegt an der Erde; das Kreuz droht ihn zu erdrücken. Einer der Schergen sucht ihn mit beispielloser Roheit am Haupthaar emporzuziehen, ein anderer hat ihn am Rockärmel gepackt. Eine gewisse Regung von Mitleid dagegen zeigt ein dritter, welcher bei dem Anblicke des mit gebrochenen Augen daliegenden Dulders den Strick in der Faust, mit welchem er ihn geführt hat, unwillkürlich etwas nachläßt –«
»In der That,« unterbrach Albrecht seine genaue Betrachtung, »haben wir wiederum ein besonderes Meisterstück vor uns! Es ist eine äußerst bewegte Scene, ein Bildwerk, das unser Künstler mit größter Liebe und tiefster Empfindung geschaffen hat!«
»Und doch habt Ihr noch nicht den besten und erhabensten von unsern ›Fällen‹ geschaut!« rief leuchtenden Auges Ketzel und erreichte vor allen übrigen das siebente Bildwerk in der Nähe des Kirchhofes.
»Der Heiland,« rief der Fürst, »wird von den Seinigen betrauert!«
Wieder begann Adam Krafft seine Erläuterung: »Der Leichnam des Heilandes ruht auf einem ausgebreiteten Tuche. Seine Lieben umgeben ihn. Johannes dort stützt seinen Oberkörper mit dem eigenen Leibe; Maria hat sein edles Haupt mit den Händen umklammert, um mit einem langen, innigen Kusse auf seine Wangen von ihm in zärtlichster Weise Abschied zu nehmen; Maria Jakobi hat die linke Hand des Herrn erhoben, um traurig deren Wunde zu betrachten; Maria Magdalena kniet zu seinen Füßen, weint bitterlich und scheint ihre Thränen am Leichentuche trocknen zu wollen.«
»Es ist eine herrliche, eine tief ergreifende Gruppe!« sprach, ihn unterbrechend, der Herzog.
»Im Hintergrunde links,« fuhr der Künstler fort, »stehen klagende Weiber und pressen die übereinander geschlagenen Hände auf die Brust. Eine andere Frau nach der Mitte zu führt mit einem Jünger, welcher die Dornenkrone trägt, ein leises Gespräch. Daneben wird ein anderer sichtbar, welcher eine Zange und drei Nägel vom Kreuze trägt; ein dritter reicht einer Frau die Salbenbüchse zur Bestattung dar.«
Fast schien es, als könne sich der Fürst von diesem Bildwerke nicht trennen, und bei der langen Betrachtung wurden ihm die Augen feucht. Dann eilte er auf den Künstler zu und drückte ihm herzlich die Hände.
Doch Martin Ketzel war ihm zur Seite getreten. »Herr, auch der ›Kalvarienberg‹, dort am Eingange des Kirchhofs, ist auf meinen Wunsch von Meister Adam geschaffen worden; es ist dessen letztes Werk, welches hier aufgestellt ward!«
Er hatte den Herzog am Arme ergriffen, und in stürmischer Eile zog er ihn nach dem bezeichneten Orte hin fort. Da erging es dem Fürsten wie vordem Ketzel selber; er beugte, von dem erhabenen Bildwerke überwältigt, in demütiger Andacht die Kniee, und alle anderen folgten seinem Beispiele.
Als hernach Albrecht von Sachsen langsam den Rückweg nahm und nochmals das gewaltige Werk betrachtete, führte er ein längeres Gespräch mit Adam Krafft und Martin Ketzel.
»Die Scenen des Leidensweges,« begann er, »können nicht edler und ergreifender dargestellt werden. Auf jedem Bildwerke ist der Gottessohn durch seine ganze hoheitsvolle Erscheinung sofort von allen anderen Personen zu unterscheiden, und mit Recht sind seine Bedränger als rohe, widerliche Gesellen verkörpert. Mit bewunderungswürdiger Erfindungsgabe habt Ihr, lieber Meister, auf jeglichem Bildwerke die Scene verändert und neue ergreifende Beziehungen hervorgehoben. Von Bild zu Bild sieht man die Mattigkeit und Schwäche des gemarterten Heilandes wachsen. – Die Gestalten habt Ihr in die Gewänder unserer Zeit gekleidet –«
»Es geschah in Übereinstimmung mit Martin Ketzel!« bemerkte der Künstler.
»Und mit Rücksicht auf den Zweck unseres großen Passionswerkes!« setzte der Alte hinzu.
»Es wäre mir lieb, hierüber von Euch noch einige Andeutungen zu vernehmen!« sprach der Herzog, zu diesem gewendet.
Voll Befriedigung schaute der fromme Stifter zu ihm hinüber. »Herr, Ihr wißt bereits, daß ich das Gelübde that, ein solches Bildwerk aufrichten zu lassen, als ich wider alles Erwarten von äußerst schwerer Krankheit glücklich genesen war. Oftmals reißt jäher Tod schier unausfüllbare Lücken, und den Weg zum Grabe hinaus werden vielfach Thränenbäche vergossen, welche selbst der Priester Zuspruch nicht zu hemmen vermag. Da, dacht' ich, sollten diese Bildwerke zu Hilfe kommen, meine Mitbürger wirksam erbauen und kräftig trösten, so oft sie auf kummervollem Wege ihre Toten zu Grabe geleiteten! – Doch die Gestalten auf den Bildwerken, meint' ich, könnten zum Volke, welches sich unsers göttlichen Heilands Leiden am liebsten in die Gegenwart verlegt, nur dann im rechten Tone und recht ergreifend reden, wenn sie wie dieses gekleidet wären!«
Verständnisvoll nickte der Fürst. »Ich finde übrigens auch in der Darstellung der Gewandung eine besondere Meisterschaft unsers Künstlers: In leichter, natürlicher Faltung fließen die Kleider am Körper der Gestalten herab! Und das alles,« fuhr er nach einer Pause fort, »habt Ihr aus Sandstein geschaffen! Kaum begreife ich, daß ein solcher Stoff geeignet sein konnte, sich unter Euerm Meißel und Schlägel zu diesen Werken zu gestalten!«
Sie waren eben zu der dritten Gruppe zurückgelangt. Eine Schar von Männern und Frauen in bäuerlicher Kleidung stand vor derselben, ganz in Staunen und in Andacht versunken, also daß sie auf die Nahenden nicht acht hatten.
»Wie kann solches entstanden sein?« fragte eine ältere Frau. –
»Unser Herrgott,« antwortete eine andere, »hat's dem Meister Adam in einem Gesichte gezeigt, wie das Werk gestaltet sollt' werden; besonders soll er nachts viel dran gearbeitet und derzeit ein Engel ihm fleißig geholfen haben.«
»Aus Stein soll das alles gebildet sein?« hob ein Greis an. »Ich glaub's nimmer!«
»Freilich aus Stein ist's;« belehrte ihn sein Nachbar; »doch Meister Adam versteht die Kunst, Steine zu schmelzen und in künstlich Bildwerk umzugießen, daß es hernach wieder ganz hart wird, wie Silber, Kupfer und ander Metall! So ging verbürgterweise allerdings der Volksglaube über die Kunst Adam Kraffts. Solche Kunst, sag' ich Dir, hat vor ihm noch kein Meister besessen – und auch nach ihm wird sie keiner besitzen!«
Da ging ein selig Lächeln über des Künstlers Antlitz; der Herzog aber sprach: »Das ist die wahre Kunst, die auf Hohe und Niedere, auf Gebildete und Ungebildete mit gleicher Unwiderstehlichkeit einwirkt!« Wann die berühmten »Siebenfälle« Kraffts vollendet worden sind, wird sich mit Sicherheit kaum feststellen lassen. Ich meine jedoch, daß folgender Schluß nahe liegt: Zog Martin Ketzel 1476 zum zweiten Male nach Jerusalem, um die verloren gegangenen Maße zu holen, so hatte er damals schon die bestimmte Absicht, die Bildwerke aufstellen zu lassen. Dieselben werden also bald darauf, wie ich annehme, bis ins Jahr 1479 hinein, fertig geworden sein. – Leider hat Ungunst der Witterung schon sehr bald zerstörend auf die herrlichen Werke eingewirkt; sie sind daher oft, nicht immer in glücklicher Weise, ausgebessert worden. Alle standen anfänglich frei auf Säulen, später wurde das Bildwerk der vier ersten »Fälle« in die Wände von Häusern eingemauert, vielfach übertüncht und dadurch weiter zerstört. Neuerdings werden die Originale durch Nachbildungen aus festem Sandstein ersetzt und sie selber im Germanischen Museum aufbewahrt.