Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Sechstes Kapitel.

Vom Nordkap nach Athen.

Am Abend des ersten Inventarisationstages hatte Herr Saß ein volles Recht, müde zu sein.

Er war es aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich so aufgeweckt, so aufgeregt, daß er bis nach Mitternacht bald am Schreibtische saß, bald mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder ging. Und als ihn endlich der Schlaf übermannte, da lagen die zwei Briefe an Hermine Aweling, das kleine amtliche Dankschreiben im großen Format und der große persönliche Begleitbrief in kleinem Format, die ihm so lange nicht gelungen waren, vollendet vor ihm. Als er die Briefe überlas, dünkten ihm beide vortrefflich. Es fehlte nur die Adresse, – weil er sie selbst nicht wußte.

Das Gespräch mit Amalien, obgleich von ganz andern Dingen handelnd, hatte ihn begeistert, hatte ihm die Zunge gelöst. Er fühlte sich gehoben, indem er Ideale ausgesprochen und aussprechen gehört hatte. Das Gemüt entzündet sich am Gemüte. In der letzten Zeit beständig von nüchternen Dingen und nüchternen Menschen umgeben, erfrischte er sich jetzt wieder doppelt in der Berührung mit einem durchgeistigten Wesen, und während er plötzlich ein Herz für Amalien gewann, faßte er sich auch ein Herz, recht warm an Hermine zu schreiben.

Der zweite und letzte Tag der Inventarisation fand Alfred Saß womöglich noch zerstreuter bei dem lästigen Geschäfte als der erste. Seine Gedanken waren bald bei Amalien, bald bei Herminen und niemals bei den Altertümern.

Als man endlich in später Stunde zum Schluß der Aufnahme gekommen war und das Protokoll unterzeichnet hatte, entfernte sich der Bürgermeister mit seinen Leuten. Saß wollte Amalien noch um einen Augenblick Gehör bitten wegen der Adresse der zwei Briefe, die er gestern abend fertig gebracht, als ihm zu seinem Staunen Amalie zuvorkam und ihn vielmehr um Gehör bat, da sie ihm ein Schriftstück einzuhändigen habe.

Von wem sollte dasselbe sein? ohne Zweifel von Hermine, so dachte Saß im Augenblick und wurde ganz rot.

Allein er erwachte rasch wie aus einem schönen Traume, als Amalie folgendermaßen begann:

»Das Verzeichnis unserer Sammlung, welches der Herr Bürgermeister gestern und heute aufgenommen hat, taugt vom Anfang bis zum Ende gar nichts und ist eigentlich nur eine Urkunde der Unwissenheit unsers hohen Gemeindehauptes. Sie werden ein ganz neues anfertigen müssen, und das wird Ihnen viele Arbeit machen. Ich kann Ihnen dazu eine kleine Hilfe bieten. Diese engbeschriebenen Bogen sind mein Eigentum: ich stelle sie Ihnen zur Verfügung. Wie mein seliger Bruder keinen Katalog seiner Altertümer niederschrieb, weil er denselben vollständig im Kopf hatte, so zeichnete er auch nichts aus über Herkunft, Preis, Geschichte und Deutung einzelner Stücke. Und dies sollten Sie, Herr Saß, doch jetzt wissen, wenn Sie der richtige Museumsdirektor sein wollen. Da ich aber das ganze Erwachsen der Sammlung miterlebt habe, so schrieb ich mir lediglich zu meinem Privatvergnügen allezeit pünktlich auf, was ich über die neuerworbenen Gegenstände erfuhr. Die Bogen, welche ich Ihnen hier übergebe, enthalten ein geheimes aber gewissenhaftes Tagebuch der Geschichte des Museums. Ich nenne es geheim; denn ich habe mitunter meine persönlichen Bemerkungen hingeworfen, welche andere Leute nichts angehen. Auch ist ein paarmal auf Familiengeschichtliches aus unserer Stadt Bezug genommen, was nicht an die große Glocke gehängt werden darf. Ich setze darum voraus, mein Herr, daß Sie bei Benützung meiner Notizen mit derselben Zartheit verfahren, die auch ich immer beobachtet habe. Sollten Sie vollends, was ja notwendig werden wird, einen Katalog für den Druck verfassen, so behalte ich mir in Betreff meiner persönlichen Randglossen ein letztes Wort der Zensur vor. Und weibliche Zensoren,« so schloß sie lächelnd, »sind in solchen Sachen vielleicht strenger als männliche.«

Saß sprach seinen Dank über die schätzbare Gabe etwas kalt und förmlich aus; er hatte nur zerstreut zugehört; seine Gedanken waren ganz wo anders als bei dem Museum.

Beide schwiegen eine Weile. Dann faßte Saß endlich Mut und bat Amalien etwas verlegen und mit leise zitternder Stimme um die gegenwärtige Adresse von Fräulein Hermine Aweling. Er fügte dann schnell hinzu, wie wenn die Bitte einer besonderen Rechtfertigung bedürfe: »Ich halte mich nämlich verpflichtet, nunmehr nach erfolgter Uebernahme des Museums ein amtliches Dankschreiben an die Dame zu richten, welche durch die ersten Geschenke die neue Aera der Anstalt so schön eröffnet und Andern ein so nachahmenswertes Beispiel gegeben hat.« Von dem persönlichen Begleitbrief sagte er nichts.

»Fräulein Aweling,« antwortete Amalie, »befindet sich gegenwärtig in Athen und bleibt noch vier Wochen dort. Ich will Ihnen sogleich die Adresse aufschreiben.«

»In Athen!« rief Saß erstaunt. »Ich dachte sie am Nordkap oder in Finnland!«

»Fürs Nordkap wäre die Jahreszeit doch wohl schon zu spät,« erwiderte Amalie. »Meine Freundin hat ihren Reiseplan völlig geändert. Wir berieten ihn gemeinsam, als sie nach ihrem Weggang von hier noch während des ganzen Monats Juni in tiefster Zurückgezogenheit in Groß-Runenstein lebte. Ich besuchte sie dort fast täglich. Es ist ein wunderbar einsames Städtchen; man kann in Paris und London nicht weltvergessener leben als dort. Frankenfeld hat seine einsamen Wälder, aber Groß-Runenstein ist selbst wie der einsamste Wald und wenn wir zu gewissen Nachmittagsstunden durch die Hauptstraßen gingen, wunderten wir uns, daß wir keinem Reh oder einem paar Hasen begegneten.«

»In Groß-Runenstein!« rief Saß, starr vor Verwunderung. »Zwei Stunden Wegs von hier! Dann hätte ich ihr ja dort meinen amtlichen Dank persönlich aussprechen können!«

»Ich glaube kaum,« meinte Amalie. »Die Freundin nahm durchaus keine Besuche an.«

Saß schwieg lange. Er hatte in seinem zweiten Brief die feinsten Beziehungen auf die Polarzone, namentlich auf die Mitternachtssonne am Nordkap angebracht und nun traf sein Brief das Mädchen aus der Fremde in Hellas. Er beschloß ihn zu zerreißen. Während des Juni hatte er die Dame schon in fernster Ferne geglaubt und nun war sie wochenlang ganz nahe geblieben! Mit Geschick und Ausdauer würde es ihm sicher gelungen sein, sie in Groß-Runenstein zu sehen, zu sprechen – und er hatte keine Ahnung von ihrer Gegenwart!

Amalie fuhr endlich fort: »Sie werden den Reiseplan meiner Freundin ganz reizend finden. Hermine will zuerst Griechenland besuchen, dann Palästina, Syrien, Kleinasien; – Athen, Jerusalem und Konstantinopel sollen längerem Aufenthalte gewidmet sein; dann geht die Reise – –«

»Ihre Freundin ist gewiß ein liebenswürdiges, aber auch ein entsetzlich unstetes Wesen –« warf Saß dazwischen.

»Unstet? Ja und nein!« entgegnete Amalie. »Sie kann thun, was sie will, und gerade diese Glücklichen sind oft unglücklich, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Dies mag von Herminens unersättlichem Wandertriebe gelten. Aber sie kam zu demselben, weil sie ein so unbeugsam stetiger, ja, starrer Charakter ist. Weil allzustet, erscheint sie unstet.«

»Ich verstehe Ihre Rätselsprache nicht,« bemerkte Saß. »Jedenfalls setzt dieser unersättliche Wandertrieb die treffliche Dame der Gefahr aus, in den Augen seßhafterer Menschen als eine Abenteuerin zu erscheinen.«

»Eine Abenteuerin?« wiederholte Amalie. »Ich sehe nichts Abenteuerliches darin, wenn eine junge Frau, die reich mit Glücksgütern gesegnet ist, den Ueberschuß ihrer Mittel zu Reisen ganz nach ihrer Phantasie verwendet, auf welchen sie die Welt kennenlernt, und wobei sie doch noch immer beträchtliche Summen übrig behält, um insgeheim die großherzige Wohlthäterin vieler Bedrängten zu sein.«

»Eine junge – Frau?« rief Saß erstaunt. »Ich habe Hermine Aweling bisher immer für ein nicht mehr ganz junges – Fräulein gehalten. Was ist denn dieses rätselhafte Wesen eigentlich? Frau oder Fräulein?«

»Ja und Nein!« lautete wiederum die Antwort. »Sie hat ein Recht, sich so oder so zu nennen.«

»Und heißt sie wirklich Aweling? Ich hatte schon lange meine Zweifel, ob dies ihr richtiger Name sei?«

»Ja und Nein! Sie führt diesen Namen nicht unberechtigt, aber sie hätte auch das Recht, einen andern Namen zu führen.«

»Vermutlich heißt sie auch nicht Hermine,« rief Saß immer aufgeregter. »Heißt sie etwa Parthenia oder Chriemhild, Olympia oder Gudrun, Iphigenie oder Sirona oder Armida?«

»Nein! sie heißt ganz gewiß Hermine. Die Aermste hat nicht einmal einen zweiten Taufnamen dazu.«

»Und ist eine weit vornehmere Dame als der bürgerliche Name anzeigt, den sie sich zu geben beliebt! etwa eine Gräfin, eine Prinzessin oder dergleichen,« fuhr Saß fort, dessen zornige Ueberraschung nachgerade in Spott umschlug.

»Ja und Nein,« erwiderte Amalie schalkhaft. »Sie werden Fräulein Aweling in ihrem Wesen immer wahrhaft vornehm gefunden haben. Sie kann sogar fürstlich vornehm sein. Allein was kümmert Sie ihr Geburtsstand?«

»Ich habe allerdings kein Recht, danach zu fragen,« antwortete Saß mit erzwungener Kälte. »Und doch möchte ich Sie bitten, verehrtes Fräulein, mir in drei Worten klar zu sagen, wer und was Fräulein Aweling eigentlich ist und nicht weiter ein Rätsel durch Rätselworte zu verdunkeln.«

»In drei Worten kann ich dies nicht,« entgegnete Amalie, »und in mehr Worten darf ich die Geheimnisse meiner Freundin nicht verraten. Ist doch auch meine Kenntnis ihrer Persönlichkeit nur erst neu und unvollkommen. Bei unserm Verkehr in Groß-Runenstein – und er dauerte ja nur wenige Wochen – sprach sie sich zum erstenmal ganz offen gegen mich aus. Ach, es waren schöne, weihevolle Tage!«

Amalie war zu keinem weiteren Worte über ihre Freundin zu bewegen.

Saß verabschiedete sich, den leidenschaftlichen Sturm, welcher ihn durchtobte, mühsam zurückhaltend.

Zu Hause kämpfte er lange mit sich, ob er seine beiden Briefe an Hermine zerreißen, ob er sie zum sechstenmal neu schreiben oder ob er ihr gar nicht schreiben solle.

Die Vision, wie er sie gestern im Rohdaschen Hause hatte, wo die anwesende Amalie so geisterhaft und die abwesende Hermine so leibhaft vor seinem Auge stand, erschien ihm wieder. War nicht in Amalien der Genius der alten und in Herminen der Genius der neuen Zeit verkörpert? Höchst modern deuchte ihm wenigstens ein Fräulein, welches zugleich Frau war und von deren Ehemann man nirgends etwas sah oder hörte. Allein sie konnte ja auch Witwe oder geschieden sein. Das hätte Saß ums Leben gern gewußt.

Nach langem Schwanken beschloß er, die beiden Briefe unverändert wie sie waren, zur Post zu geben, obgleich seine Anspielungen auf das eisige Nordland nun gar nicht mehr für das sonnendurchglühte Hellas paßten. Er hätte ja noch ein paar erläuternde Zeilen hinzufügen können. Allein er dachte: ist Fräulein Hermine so wunderlich, so paßt auch ein wunderlicher Briefwechsel für sie.

Um Mitternacht trug unser Freund seine Briefe noch persönlich zum nächsten Postkasten, damit er am andern Morgen nicht neuerdings zu zweifeln beginne, was er eigentlich thun solle.

Bei der Rückkehr fiel ihm erst ein, daß er das Manuskript Amaliens mit den kostbaren Notizen über die Altertümer mitzunehmen vergessen habe, ja er entsann sich nicht einmal, wohin er es gelegt, so zerstreut war er gewesen.

Er beruhigte sich jedoch bald und dachte, die Aufzeichnungen würden sich morgen schon finden.


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