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Hermine Aweling stürzte sich bald in einen Strom von menschenfreundlichen Diensten und Geschäften.
Jeden Morgen um neun Uhr ging sie mit ihrer Freundin zum Arbeitssaale der Concordia. Es war eine Freude, die beiden Frauen zur Stadt herab schreiten zu sehen, leicht beschwingten Fußes, gehobenen Sinnes. Und die Morgenluft wehte so erquickend, der blaue Himmel spannte sich so friedsam über das friedliche Thal, derselbe blaue Himmel, welcher sich anderswo über so tosenden Kampf und so viel Jammer und Elend spannte, und der Jammer wurde verschlungen von Siegesjubel.
Häufig trugen Hermine und Amalie die Spenden, welche sie dem Hilfsvereine mitbrachten, selber zu Thal. Sie dachten gar nicht daran, sie durch ihre Dienerschaft tragen zu lassen. In jenen Tagen wollte Jeder nur dienen, Keiner bedient sein.
In der Concordia erschien Fräulein Aweling freilich nur wie ein Gast, meist kaum auf eine halbe Stunde; denn sie wollte überall erscheinen. Sie begann zwar eifrig an einem Hemde zu nähen, welches ihr Amalie zugeschnitten hatte; man sagt aber, es sei vor dem Friedensschluß nicht fertig geworden. Ihre erfreuende und begeisternde Anwesenheit war das Wichtigste, ihr Rat wog hier schwerer als ihre That.
Im Lauf der Tage und Wochen sah sie sich vergebens nach Herrn Saß um. Er war immer schon dagewesen, bevor sie kam, oder erschien erst, nachdem sie gegangen war.
Wohl aber begegnete sie ihm mitunter, wenn sie den Hilfsausschuß im Bahnhof besuchte und erwünschte Gaben für die durchfahrenden Züge mitbrachte. Allein da hatte es Saß immer gar eilig, er grüßte sehr fein und artig, wobei es jedoch nie zu einem Gespräche kam. Der Mann hatte eben gar zu wenig Zeit.
So erschien Hermine Aweling auf allen Stätten der werkthätigen Liebe, überall helfend, ratend, ermunternd, überall herzlich begrüßt. Der nörgelnde Klatsch, welcher sich bei ihren früheren Besuchen Frankenfelds öfters an ihre Person geheftet hatte, wagte sich nicht mehr hervor, und Jedermann nahm es zum guten Zeichen, daß das »Mädchen aus der Fremde« wiedergekommen sei, vordem der erste, jetzt der einzige Kurgast.
Aufs freundlichste mit allen Leuten verkehrend, empfing sie auch Freundlichkeit von allen. Und doch blieb sie immer eine vornehme Dame.
Zu allererst hatte sie, wie wir sahen, das Herz des höchsten Bürgers, des Turmwächters, gewonnen, und Fritz Krumper war treuen Herzens und vergaß nicht, wie warm sie sein schönes Blasen gelobt und wie »gemein« sie sich, nach seinem Ausdrucke, damals im Wächterstübchen mit ihm gemacht hatte.
Des zum Danke blies er, so oft Hermine Aweling morgens um neun Uhr am Haderturm vorüberging, die »Wacht am Rhein« zum Fenster hinaus.
Hermine hatte anfangs nicht darauf geachtet oder das Lied für das Zeichen einer neuen frohen Botschaft genommen. Doch allmählich merkte sie an den Mienen der Begegnenden, daß das Blasen ihr gelte.
Dies war ihr höchst verdrießlich; denn sie wollte nichts weniger als Aufsehen erregen. Als daher der Wächter eines Morgens wieder blies, ging sie hinüber zum Haderturm, vor dessen Thüre der Ratsdiener auf der Steinbank saß, und hieß ihn dem Fritz Krumper freundlich sagen, daß er's doch unterlassen möge, sie fernerhin anzublasen.
Kaspar Zuckmeyer warf sich sofort in seine strenge amtliche Würde und versprach, den Befehl des Fräuleins augenblicklich auszurichten. Er werde auch Herrn Saß die Belästigung melden, welche ihr von dem selbstherrischen Krumper zugefügt werde, und dem fürwitzigen Bläser mit Verweis und Strafe im Wiederholungsfalle drohen.
Hermine aber sprach: »Sie haben mich völlig mißverstanden. Melden Sie Herrn Saß kein Wort von der ganzen Sache. Dem Fritz Krumper aber sagen Sie, ich lasse ihn höflich bitten, sein Blasen für besseren Anlaß aufzusparen, und sollte er mir noch einmal einen solchen Morgengruß bieten, so würde ich ihm ernstlich böse werden, – betonen Sie's recht klar: ›ernstlich böse‹ – und jeden Tag einen Umweg nehmen, damit er mich nicht mehr zu Gesicht bekomme.«
Zuckmeyer prägte sich in der That seinen Auftrag aufs genaueste ein und erzählte den Vorgang wortwörtlich in der ganzen Stadt, und Jedermann lobte die Leutseligkeit und den feinen Takt der guten Dame. Ja man kann sagen, sie wurde volkstümlich durch diese kleine Geschichte, und die verbissensten Demokraten sagten, für eine solche Aristokratin würden sie durchs Feuer gehn.
Vor allem drängte jetzt die Beschaffung eines passenden Raumes für die Kranken und Verwundeten, was sich Hermine Aweling ja zur Hauptaufgabe gestellt hatte. Nach mancherlei fruchtlosen Mühen war es ihr endlich gelungen, ein besseres Gebäude statt des Kornhauses zu entdecken.
In nächster Nähe der Kuranlagen befand sich ein Logierhaus mit zwanzig Zimmern für Badegäste, welches im Spätherbst umgebaut und erweitert werden sollte und gegenwärtig leer stand, da es seit Ausbruch des Krieges keine Badegäste in Frankenfeld mehr gab. Es war reizend gelegen, sonnig, luftig, von Wiesen und Baumgruppen umgeben und bot obendrein eine Anzahl von Badekabinetten. Die neidischen Groß-Runensteiner pflegten zu sagen, die Frankenfelder Bäder hätten den großen Vorzug, daß sie zwar den Kranken nichts nützten, aber auch den Gesunden nichts schadeten, und könnten darum unbedenklich von Jedermann genommen werden. Also eigneten sie sich auch vortrefflich für genesende Krieger. Und auf solche, nicht auf Schwerverwundete, rechnete man in Frankenfeld besonders.
Hermine Aweling mietete das ganze Gebäude. Die Kurverwaltung wollte es ihr anfangs für ihre Zwecke nicht überlassen, zeigte sich aber doch zuletzt bereit, – wie Hermine hinterdrein erfuhr, infolge der Bemühungen des Herrn Saß. Und doch hatte sie mit diesem kein Wort von der Sache geredet.
Man sprach damals bereits von Wagners unsichtbarem Orchester. Hermine meinte gegen ihre Freundin, die ameisenhafte Betriebsamkeit der Frankenfelder Hilfsvereine erscheine ihr wie ein sehr sichtbares Orchester, allein es werde geleitet von einem unsichtbaren Kapellmeister.
Sie wollte demselben danken, als sie ihn doch einmal im Arbeitssaale der Concordia sichtbar vorüberhuschen sah, und unterbrach darum sogar ihre Näherei an dem Hemde, welches niemals fertig wurde, und eilte dem Eilenden nach und begann ihre Danksagung.
Saß aber unterbrach sie mit der Frage, ob es denn wirklich ihre Absicht sei, das ganze Gebäude auf eigene Kosten für die Kranken einzurichten? Und als sie dies bejahte, widerriet er ihr aufs entschiedenste.
Sie dürfe den selbstthätigen Eifer ihrer neuen Mitbürger nicht lähmen, indem sie ihnen abnehme, was dieselben aus eigener Kraft leisten wollten. Die Frankenfelder gleich andern guten Deutschen seien bis jetzt gewöhnt gewesen, alles Gute von oben und von außen zu erwarten. Wenn sie sich nun endlich einmal auf die eigenen Beine stellten, dann solle man ihnen dies nicht sofort wieder abgewöhnen. Fräulein Aweling leiste genug und übergenug, indem sie das ganze Haus miete und darin etliche Zimmer recht musterhaft ausstatte; das Uebrige solle sie dem Hilfsverein überlassen. Binnen wenigen Tagen sei sie die populärste Frau in Frankenfeld geworden: sie könne von diesem Ruhm auch dadurch verlieren, daß sie des Guten zu viel thue.
Hermine wurde innerlich ganz wild, auch hier wiederum auf Widerspruch zu stoßen, bewahrte aber doch ihre äußere Ruhe meisterhaft und sprach: »Reden wir von etwas Anderem. – Wenn ich, was ich bezweifle, heute die populärste Frau in dieser Stadt bin, so sind Sie sicher jetzt der populärste Mann, und als solchen belästige ich Sie mit einer Bitte.«
Sie schilderte ihm dann ihr Vorhaben, armen Leuten, die durch den Krieg arbeitslos geworden, Arbeit und Brot zu verschaffen, und bat, daß Herr Saß ihr rate, wo solche Leute zu finden und wie ihnen zu helfen sei.
Saß lobte ihre Absicht höchlich, bedauerte aber, der edlen Menschenfreundin nichts nützen zu können, da ihm aller Einblick in solche Notstände fehle. Hier sei der Bürgermeister der rechte Mann, sie möge sich an diesen wenden.
Hermine entfernte sich, sehr verstimmt, und sprach für sich: »Wenn der unsichtbare Kapellmeister einmal sichtbar wird, dann bekomme ich immer nur Unerquickliches zu hören.«
In der Seele von Alfred Saß glühte und brauste es; allein er blieb sich selber treu. Er hatte gesagt, was seine Ueberzeugung war, ob es gleich Herminen mißfiel. Er wollte sie nicht suchen, er wollte sie auch nicht fliehen. Wollte er vielleicht abwarten, ob sie ihn gerade dann suchen würde, wenn sie ihn nirgends fände?
Ehernen Schrittes ging die Weltgeschichte inzwischen ihren Gang. Fromme Gemüter vernahmen das Walten Gottes und seiner Gerechtigkeit im Donner der Schlachten. Was man so oft von deutschem Mut und deutscher Kraft gesungen und gesagt hatte, das war Wirklichkeit geworden, unvergleichlich gewaltiger und herzerhebender noch als Sang und Sage. Man pries die kleinen Kinder glücklich, daß sie geboren seien, die volle Frucht so großer Tage dereinst zu ernten, und beklagte den verstorbenen lebensmüden Greis, daß er nicht doch noch etwas länger habe leben dürfen, um das aufsteigende Morgenrot deutscher Herrlichkeit zu schauen und wie eine Weissagung mit ins Grab zu nehmen.
Der Krieg machte die Menschen menschlich. Leute, die einander bis dahin gar nicht gekannt, umarmten sich auf offener Straße bei einer neuen Siegesbotschaft; verfeindete Brüder versöhnten sich am Schmerzenslager der Verwundeten.
Als Alfred Saß nach den ersten, noch nicht ganz geklärten Nachrichten der furchtbaren Kämpfe von Mars la Tour und Gravelotte Herminen flüchtig begegnete, drückten sich Beide die Hand, daß man nicht wußte, wer die seine dem Andern zuerst gegeben, und Saß rief, indem er Herminen begeistert in die dunklen Augen sah: »Das waren schwere Tage! Und dennoch sei unser Feldruf: Elsaß und Lothringen!«
Hermine schlug die Augen nieder und erwiderte: »Elsaß und Lothringen für Deutschland? Das wäre der europäische Krieg,« – und ging weiter. Und hinterher fiel es ihr ein, daß sie doch etwas Gescheiteres hätte sagen und Herrn Saß auch eine kleine Aufmerksamkeit erweisen können, indem sie ihn zum Beispiel gefragt hätte, wie es ihm gehe und warum er denn Fräulein von Rohda gar nicht mehr besuche? Doch wer dachte dazumal in solchen Augenblicken an sich!
Um so länger brütete Hermine nachher über die beiden Worte Elsaß und Lothringen, wobei sie nebenher auch an den Mann dachte, der die Worte so leidenschaftlich gesprochen. Doch was war ihr denn dieser Mann? Er konnte ihr wenig oder viel sein, denn sie erzählte selbst ihrer Freundin nichts von dem Eindrucke ihrer Begegnung.
Inzwischen hatte sich die patriotische Thätigkeit der Bürger Frankenfelds reich und segensvoll weiter entwickelt. Das Spital in den Kuranlagen wurde rasch ausgestattet. Hermine Aweling war bei reiferem Bedenken dem Rate von Saß gefolgt: sie hatte sechzehn Zimmer dem Hilfsverein überlassen und nur die vier größten aufs beste selber ausgestattet, hielt aber doch die Hand über dem Ganzen und hatte ihre innige Freude, wenn sie die Kranken so wohl verpflegt und die Genesenden unter schattigen Bäumen vor dem Hause sitzen sah.
Um so weniger war ihr anderer Plan geglückt, – Arbeitslosen Arbeit zu schaffen. Der Bürgermeister schickte ihr fort und fort Leute zu, die gar nicht arbeiten wollten, wohl aber beide Hände nach möglichst reichen Gaben ausstreckten, Gewohnheits-Bettler, Landstreicher, Tagediebe, Hochstapler. Er hatte ihre Absicht offenbar gar nicht verstanden, und sie bat ihn darum brieflich, daß er mit seinen Sendungen aufhören möge.
Eines Abends – es war am 2. September – saß sie allein in der Jasminlaube vor dem Rohdaschen Hause. Da trat plötzlich ein junges weibliches Wesen in abgetragenen Trauerkleidern heran, stellte sich in den Eingang der Laube und begann zu deklamieren: »In einem Thal bei armen Hirten« u. s. w.
Sie sprach das »Mädchen aus der Fremde« ganz gut, wenn auch etwas allzu pathetisch. Allein Hermine unterbrach sie schon nach der zweiten Strophe und sagte, sie könne das Lied auswendig und bitte die junge Dame, ihr lieber zu sagen, was sie denn eigentlich wolle?
Noch ehe jedoch die Trauernde antworten konnte, traten zwei Männer von der linken und zwei Frauen von der rechten Seite vor, wo sie unbemerkt bisher gestanden, und der eine Mann, in sehr fadenscheinigem Frack, sagte: »Wir kommen, gnädiges Fräulein, um Arbeit zu finden und zwar womöglich eine etwas passendere als wir seit acht Tagen verrichtet. Entschuldigen Sie, wenn ich meinen Notbericht von hinten beginne, mit unserer letzten betrübten Zeit, um von da nach vorn zu verschwundenen besseren Tagen aufzusteigen.
»Wir haben die ganze vorige Woche auf dem Rulandshäuser Hof Hopfen gepflückt. Doch ich vergaß zu sagen: wir sind Schauspieler. Gnädiges Fräulein wird das malerische Bild schon entzückt betrachtet haben, welches das ›Hopfenzupfen‹, so sagt man hierzuland, bietet, – wenn der ganze weite Hofraum eines Bauernhauses gedrängt voll emsiger Menschen sitzt, Kinder und Greise, Männer und Frauen in buntesten Reihen, von denen Jedes einen Haufen grüner Hopfenranken auf der linken Seite hat und einen Korb auf der rechten, in welchen die abgezupften Fruchtzapfen kommen. Das sieht sehr malerisch aus, wird aber für die rastlos Zupfenden im längeren Verlauf des Tages immer weniger malerisch. Das Hopfenzupfen hat Eile, und so gilt es, vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu zupfen; denn die Bezahlung geht nicht auf Tagelohn, sondern aufs Pfund, und der Fleißigste verdient nicht über zwölf Kreuzer täglich, ein jämmerliches Spielhonorar für dramatische Künstler! Und obgleich wir den ganzen Tag mitten im Hopfen saßen, gab uns der hartherzige Bauer nicht einmal eine Halbe Bier, sondern nur eine Halbe Milch zum Mittagsbrot, wobei wir das Brot uns selber stellen mußten. Und in welch gemischter Gesellschaft arbeiteten wir! Knechte und Mägde und Tagelöhner, kleine Kinder und alte Weiber, dazu aber auch allerlei landfahrendes Gesindel. Denn das ganze Geschäft muß in wenigen Tagen vollführt sein, und der Bauer liest zur Not die Hopfenzupfer von der Landstraße auf, wie er auch uns dort aufgelesen hat. Erretten Sie uns, gnädiges Fräulein, aus unserer Not und verschaffen Sie uns Arbeit, die der Priester Thaliens würdiger ist als Hopfenzupfen!«
Bei diesen Worten streckte er Herminen seine Hände entgegen: sie waren quittengelb gefärbt wie die Hände der übrigen Gesellschaft – vom Hopfenzupfen.
Hermine hatte die lange Rede geduldig angehört, bat aber dann, die Herrschaften möchten ihr doch Genaueres sagen über ihre Truppe und ihre Personen.
»Wir gehörten zu der berühmten Truppe des Ignaz Gloska,« erwiderte der Mann im Frack, »die in vielen Städten, Flecken und Dörfern der deutschen Lande gespielt hat, bis sie dieser ruhmvolle entsetzliche Krieg auflöste. Denn wer geht jetzt noch in die Komödie? Wir fünfe hielten zusammen und versuchten da und dort auf Teilung zu spielen; es ging aber so wenig ein, daß wir zuletzt gar nichts mehr zu teilen hatten. Dann gaben wir deklamatorische Abendunterhaltungen in sonntäglich überfüllten Bauernwirtshäusern. Die Bauern hörten zwar anfangs zu, begannen aber bald, in unsere erhabensten Verse hinein zu schreien und zu singen und zahlten wenig oder gar nichts. Um nicht zu verhungern, mußten wir zuletzt – –«
Hier trat die älteste der drei Damen vor, hielt dem Redenden die Hand vor den Mund, wandte sich gegen Herminen und sprach feierlich vornehm: »Das gnädige Fräulein wünscht unsere Personen kennen zu lernen. Ich erlaube mich vorzustellen: Fräulein Virginia Edeltraut, zärtliche Mutter, komische Alte – –«
Ihre Nachbarin schob sie beiseite und rief, um einen halben Ton höher: »Erlaube mich gleichfalls vorzustellen – Anstandsdame und höhere Liebhaberin, Fräulein Alice Montmorenci. Das sind jedoch nur unsere Kunstnamen. Mit meinem natürlichen Namen bin ich Frau Magdalene Schuster und die Edeltraut ist Frau Magdalene Schneider.«
Tief errötend fiel ihr diese hastig ins Wort: »Die Franzosen nennen ein Fräulein, welches als Künstlerin vor die Oeffentlichkeit tritt, Madame. Wir deutschen Künstlerinnen machen es lieber umgekehrt; denn auf dem Theater wie anderswo sind die Fräulein interessanter als die Frauen.«
Die Dame im Trauerkleid, welche zuerst allein erschienen war, hielt sich jetzt im Hintergrund; als die schönste und jüngste war sie auch die bescheidenste. Sie flüsterte ihren Namen so leise, daß ihn Hermine nicht verstand.
Um so deutlicher gab der Gatte der Edeltraud in hellem Tenor seine Visitenkarte ab: »Franz Schneider, genannt Eckhoff, – Naturbursche, Bonvivant, auch polternder Alter, tragischer Held und schwärmerischer Liebhaber, – je nach Bedarf.«
»Ich bin der Nikolaus Zwiebelmann,« rief sein Genosse, »und führe nur meinen bürgerlichen Namen, weil er zu meinem Rollenfache paßt: Komiker der feinen und groben Art.«
Hermine Aweling folgte diesen Reden in wachsender Aufregung, die sie mühsam bekämpfte, während doch ein Anderer höchstens Mühe gehabt hätte, das Lachen zu verbeißen.
Man denkt so blitzgeschwind, man sieht so blitzgeschwind ganze Bilderreihen im Geiste aufsteigen. Die schwärzesten Stunden ihres Lebens zogen in den wenigen Minuten durch Herminens Seele, da die Schauspieler ihre Namen nannten. Sie hießen bald so bald so, bald Frau bald Fräulein. War es der Dämon des Zufalls, der Hermine daran gemahnte, daß sie's ebenso machte? die Satire des Zufalls, welche ihr den erschreckenden Spiegel vorhielt?
Doch Hermine bemeisterte sich mit der ganzen Schnellkraft einer Weltdame und fragte im gleichgültigsten Tone: »Wer hat Sie veranlaßt, sich an mich zu wenden? Gewiß der Herr Bürgermeister?«
Nikolaus Zwiebelmann antwortete, nicht dieser, sondern Herr Alfred Saß habe sie hierhergeschickt mit den besten Empfehlungen und der Bitte, daß das gnädige Fräulein doch für ihre Rettung und gedeihliches Fortkommen sorgen möge.
Seltsame Gedanken-Verschlingungen wurden durch diese einfachen Worte in Herminen wachgerufen. Sie wurde starr und bleich vor Zorn, schwieg eine Weile und fragte dann noch einmal in erhobenem Tone: »War es wirklich Herr Saß, der Sie zu mir gesendet hat?«
Als nun alle Fünfe dies einstimmig bejahten, da sprach sie mit eisiger Kälte: »Ich kann nichts für die Gesellschaft thun. Ich spiele keine Komödie und lasse auch keine spielen. Sagen Sie dies Herrn Saß. Und hiermit Gott befohlen. Guten Abend!«
Die armen Leute waren nun auch ihrerseits ganz starr vor Staunen. Solchen Empfang hatten sie von der gepriesenen Helferin der Bedrängten nicht erwartet. Virginia Edeltraut warf sich in die Brust und dankte stolz und ironisch, der Komiker Zwiebelmann beugte sich tief zur Erde und hoffte – ganz leise – auf einen besseren Humor des ungnädigen Fräuleins. Die trauernde jugendliche Liebhaberin blickte schweigend gen Himmel, und die Thränen rannen ihr über die Wangen, Thränen der Scham und der getäuschten Hoffnung.
Alle entfernten sich, und Hermine eilte glühenden Gesichtes und vor Erregung zitternd hinauf zu ihrer Freundin.
Sie warf sich ihr schluchzend um den Hals, bevor sie zu Wort kommen konnte. Dann rief sie: »Man hat ein schmähliches Spiel mit mir getrieben, man hat mich verspottet, in tiefster Seele verletzt! Und das mußte mir Herr Saß anthun, dem ich stets nur freundlich begegnete!«
Es dauerte lange, bis sie so weit wieder zu sich selbst gekommen war, daß sie Amalien den Vorgang in abgebrochenen Sätzen erzählte.
Die Sendung der Schauspieler erschien ihr als eine boshafte Satire auf ihre löbliche Absicht, Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen, die Deklamation des »Mädchens aus der Fremde« als ein Spott, der nicht im eigenen Kopfe der Komödiantin gewachsen war. Die Frauen der Truppe führten Doppelnamen und nannten sich bald Frau bald Fräulein. Hermine hatte sich in Frankenfeld, wo kein Mensch sie kannte, als bürgerliches Fräulein eingeführt, anderswo war sie bald Frau von Landfried, bald Frau von Aweling, und der eine Name war so wenig ganz zutreffend wie der andere. Sie hielt es anfangs für eine Satire des Zufalls, daß ihr die Künstlerinnen mit ihren Namenswechseln gegenübertraten. Aber als sie hörte, daß Saß dieselben gesendet, sah sie urplötzlich darin eine Satire des rätselhaften Mannes. Sie hätte vor Scham in den Boden sinken mögen. Doch das Schlimmste kam noch. Die junge Frau in Trauer hatte ihren Namen so leise gemurmelt, daß Hermine ihn nicht verstand. Es gibt Gespenster, die man nur als einen formlosen Nebel gesehen hat, hinterdrein aber verdichtet unsere Einbildungskraft den Nebel zu einer festen Gestalt; es gibt Gespenster, die sich durch ein unartikuliertes Geräusch kundgaben, hinterdrein aber verdichtet unser geistiges Ohr das Geräusch und wir beteuern, deutliche Worte gehört zu haben. So hörte Hermine Aweling nur ein Gemurmel, als die Trauernde ihren Namen nannte, indem sie aber diesem Gemurmel nachsann, hoben sich zwei Worte immer deutlicher daraus hervor. Die Schauspielerin hatte gesagt: »Ich bin Frau von Landfried.«
»Das ist ja entsetzlich!« rief Hermine. »Frau von Landfried! – mein eigener Name, den ich durch jene unselige Trauung erhielt und auch heute noch zu führen berechtigt bin! Wer hat dem jungen Ding diesen Namen gesagt, der doch gewiß nicht ihr Bühnenname ist? Und was beabsichtigt Herr Saß mit einem so frivolen Spiel? Aber woher kennt denn dieser Mann meine Lebensgeschichte?« rief sie, jäh auffahrend. »Bekenne die Wahrheit, Amalie: er kann sie nur von dir erfahren haben.«
Amalie wußte nicht, wo sie anfangen solle, um ihre Freundin aus der fieberhaften Aufregung zu reißen und zu besonnenem Erfassen des seltsamen Vorganges zurückzuführen. Nach kurzem Besinnen schlug sie dann aber den gewagten und doch richtigen Weg ein: sie stellte Hermine als die seltsamste Erscheinung in der ganzen Geschichte hin und klagte so die Anklägerin vielmehr in allen Punkten selber an, faßte aber ihre Anklagen so liebevoll, daß Herminens Zürnen sich allmählich in ein mildes Lächeln und zuletzt in die wärmsten Küsse für die treue Freundin löste.
So hielt Amalie denn Herminen vor, wie hart sie gegen die armen Schauspieler gewesen, die ja doch gezeigt hätten, daß sie auch vor der härtesten Arbeit nicht zurückschreckten, die von einem Manne wie Saß empfohlen, zu ihr, als zu ihrer letzten Helferin in der Not gefleht hätten,
– bitter unrecht thue sie diesen armen Komödianten, die nichts weniger als eine Komödie hätten spielen wollen,
– bitter unrecht einem Ehrenmanne wie Alfred Saß, der ganz unfähig sei, eine Satire gegen sie in Scene zu setzen, – und aus welchem Grunde?
– unrecht sogar dem Bürgermeister, der ihr die besten Leute geschickt, welche er habe finden können, nur seien das zufällig gerade die schlechtesten gewesen,
– am schwersten unrecht aber thue sie der verschämten jugendlichen Liebhaberin, die nicht einmal ihren Namen deutlich habe sprechen können.
»Du hattest wieder deine schwarze Stunde, wo du über der unglücklichen Verkettung deiner früheren Schicksale zu brüten pflegst. In fieberhaft erhitzter Phantasie hörtest du einen Namen heraus, den das arme Ding gar nicht gesagt hat, und knüpftest daran die ungeheuerlichsten Folgerungen.
»Das Alles sollst du erkennen und bekennen. Du hast kein Recht, gegen irgend Jemand zu zürnen, außer – gegen mich. Ich habe unrecht gethan und gestehe es offen: ich habe vor längerer Zeit die ergreifendsten Ereignisse deines Lebens meinem treuen, edeln und verschwiegenen Freunde Alfred Saß erzählt.«
Sie schilderte dann die warme Teilnahme, welche Saß für Hermine, die Ferne, Fremde gehegt, die er kaum gesehen und von welcher er doch so viel Fesselndes gehört habe.
»Seine Teilnahme kann nicht sehr groß sein,« fiel Hermine ein. »Geht mir dieser Mann doch jetzt überall aus dem Wege, wo er mich täglich sprechen könnte.«
»Vielleicht thut er dies gerade deshalb, weil er so tiefen Anteil an dir nimmt,« entgegnete Amalie.
»Du weißt mehr, als du sagst!« rief Hermine.
»Kann sein! Ich habe so oft mein Herz dir ausgeschüttet, aber einige kleine Geheimnisse sparte ich mir doch für später auf.«
Hermine erklärte sich nur in einem Punkte überzeugt durch die Anklagen der Freundin, – sie habe den Schauspielern unrecht gethan, sie empfinde aufrichtige, tiefe Reue über ihre Härte, sie wolle wieder gut machen, was sie gefehlt. Aber dazu müsse sie Klarheit gewinnen über die Lage dieser armen Menschen, und diese könne ihr nur Herr Saß geben.
»Ich werde ihn morgen aufsuchen in der Concordia oder sonstwo. Er muß mir die genaueste Kunde geben von der Lage der Schauspieler, er muß mir raten, wie ihnen zu helfen sei. Weiteres werde ich durchaus nicht mit ihm reden, ich werde gegen ihn noch zugeknöpfter sein, als er gegen mich ist. Was geht mich Herr Saß an? Er erregte nur meine Aufmerksamkeit, weil ich seine Aufmerksamkeit durchaus nicht erregte, und das war mir neu.«