Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

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III. Stadt und Land.

Erstes Capitel. Oertliche Gruppen der Gemeindenbildung in Deutschland. Natürliche und künstliche Städte. Die großen Städte.

Das Bestehen des Gegensatzes von Stadt und Land galt noch vor mehr als zwanzig Jahren für eine so ausgemachte und gemeine Wahrheit, daß es ein politischer Kopf gar nicht der Mühe werth hielt, davon zu sprechen.

Jetzt ist die Behauptung, daß es in Deutschland noch Stadt und Land gebe, auf der einen Seite ein politischer Glaubenssatz geworden, auf der andern eine Ketzerei. Ich glaube noch an Stadt und Land, nicht darum, weil mir das in mein politisches System paßt, sondern weil ich doch wohl glauben muß, was sich als eine Thatsache täglich vor meine Sinne drängt.

Es gibt aber allerlei Stadt und Land in Deutschland, und die Stufen dieses natürlichen Gegensatzes sind so reich, so vielverschlungen, daß der einseitige Beobachter wohl glauben kann, Stadt und Land sey gar nicht mehr vorhanden.

Schon die geographische Vielgestalt der deutschen Landstriche wirkt bestimmend auf den Gegensatz von Stadt und Land. Städte und Dörfer gliedern sich hier nach großen Gruppen, die durch unverlöschliche Naturunterschiede, durch das Fundament der Bodenbildung auseinandergehalten sind. Der Wechselbezug von Land und Leuten ist auch hier als ein nothwendiger gegeben, der durch historische Thatsachen, durch den politischen Gang der Nation in seinen äußeren Formen wohl mannichfach verändert, nicht aber in seinen Grundvesten erschüttert werden kann.

Im Hochgebirge, wo die Wildniß Herr ist, wo für Wald und Feld ewige Marken durch die Natur gesetzt sind, herrscht das Land über die Stadt; auch die vereinzelten Städtchen sind meist nur große Dörfer. Wo Felsen und Abgründe Dorf von Dorf, Hof von Hof scheiden, da kann es in alle Ewigkeit nur Bauern geben, keine Bürger. Wo der Nachbar dem Nachbarn den nächsten Besuch vom Herbst auf's Frühjahr zusagt, »wann das Gebirg wieder offen ist,« da wehrt die Natur die Städtebildung. Das Dorf selbst erscheint hier oft noch in seiner Urform als eine Gruppe vereinzelter Höfe. Ja der einzelne Hof, die »Einöde,« wie man's im Süden nennt, muß nicht selten eine ganze Gemeinde darstellen. Diese »Vereinödung« der Wohnsitze aber prägt den Leuten einen ganz bestimmten socialen Charakter auf. Der Einödenbauer ist der Urbauer: der Welt verschlossen, in seinen Sitten erstarrt, in Bildung und Bedürfnissen zurückgeblieben, von Herz und Faust ein ganzer Mann, politisch aber ein unmündiges Kind. Die Einöde hat auch so gut ihr besonderes moralisches Gesicht, ihre erbgesessenen Laster eigenster Art, wie die große Stadt.

Es ist diese Zone der reinen Bauernlandschaften aber keineswegs klein in Deutschland. Sie erstreckt sich über einen großen Theil von Tirol, Ober- und Unter-Österreich, Steyermark, Kärnthen, das bayerische Hochland, über die höheren, minder culturfähigen Gegenden fast aller deutschen Mittelgebirge, über die Marschländer an den Nord- und Ostseeküsten. In allen diesen Strichen erscheint das Volk in seinem reinsten, aber auch rohesten Naturwuchs; sie stechen gegen das übrige Deutschland ab wie Waldland gegen Feldland, wie unwegsames gegen verkehrsreiches; sie sind arm an historischen Denkmalen, das Volk selbst mit seinen Höfen, Dörfern und Gemeinden ist dort das einzige Denkmal der Art. Die Kunstgeschichte zog zu allen Zeiten, wie die Geschichte des Handels und der Industrie, den Flüssen und Ebenen nach, sie steigt nicht gern in das Innere der Gebirge. Das kunstreichste Gewerbe selber wird in jenen Gebirgsgegenden zu einer Bauernarbeit, wie auf dem Schwarzwald, im Erzgebirge, in den bayerischen Alpen, in Tirol. Denn die dortigen Uhrenmacher, Spitzenklöppler, Geigenmacher und Holzschnitzer sind im Ganzen social vollgültige Bauern und wenn ihre Hand auch niemals einen Pflug berührte.

Steigen wir tiefer hinab, in das Hügel- und Hochflächenland des Südens und in die großen offenen norddeutschen Ebenen, so finden wir hier große, ächte Dörfer neben ansehnlichen, zum Theil großen Städten von gleich bestimmtem städtischem Gepräge und zugleich die reichsten geschlossenen Rittergüter, den bedeutsamsten, am besten erhaltenen Ueberrest der Sitze des alten Landadels. Hier liegt Stadt und Land auf's bestimmteste gesondert neben einander. Diese Ländermassen bilden das Hauptgebiet der größeren deutschen Staaten, namentlich Oesterreichs, Preußens und Bayerns. Hier liegt eine große Zahl der wichtigsten alten Reichs- und Hansastädte, in denen das eigenthümlichste Bürgerleben sammt zahlreichen Trümmern, wenn auch nicht mehr uralten Sonderrechtes, so doch daraus erblüheten Herkommens heute noch fortbesteht. Hier sind aber zugleich auch die großen Kornkammern Deutschlands, und in den großen und reichen Dörfern dieser weiten Fruchtländer hat sich die spätere Dorfgemeindeverfassung und Sitte und Lebensart des ächten deutschen Dorfbauern am gründlichsten durchgebildet. Der gesellschaftlich originellste unter diesen Landstrichen, Westphalen, zeigt uns, wie die verschiedensten Formen der Siedelung in Bauernhöfen, Herrengütern, Dörfern und Städten neben einander bestehen und doch der Gegensatz von Stadt und Land auf's strengste gewahrt bleiben kann. Im Norden der Lippe sitzen hier noch die Hofbauern, im Süden die Dorfbauern; neben den Gemeinden der ehemals freien, ächt aristokratischen Hofbauern gibt es Gemeinden, die ihr Verhältniß zu dem adeligen Gutsherrn noch immer aus alter Gewohnheit und Anhänglichkeit aufrecht erhalten, wenn sie auch das Gesetz nicht mehr dazu zwingt; neben ehemaligen Reichsstädten liegen ehemals reichsfürstliche und moderne Fabrikstädte: bei allen hat sich der individuelle Charakter lebendig erhalten, aber der große Gegensatz zwischen Stadt und Land ist darum nirgends vermischt.

Wesentlich anders ist es in Mitteldeutschland und dem Südwesten, dem Paradies der deutschen Kleinstaaterei. Hier zeigt sich in der That eine mit Riesenschritten fortschreitende Ausgleichung der Unterschiede zwischen Stadt- und Landgemeinden. Nur die höheren Gebirgsstriche, deren ich schon oben gedacht, sind auch hier auszunehmen. Die socialen Gleichmacher nehmen dann gern diesen kleinen Theil für das Ganze, und schreiben ganz Deutschland zu, was doch nur von diesem Kleindeutschland im engsten Sinne gilt.

In den großen Ländermassen Süd- und Norddeutschlands hat der dreißigjährige Krieg die Städte nachhaltiger heruntergebracht als die Dörfer. Der mecklenburgische, pommer'sche, altbayerische Bauer ist heute noch eine gewichtigere sociale Macht als die Bürger dieser Landstriche, deren Städte meist sociale Ruinen geblieben sind. In dem zerstückelten Mitteldeutschland dagegen, wo obendrein der Bauernkrieg dem dreißigjährigen vorgearbeitet hatte, wo beim Kampf der vielen kleinen Reichsstände um die Souveränetät die Kleinstädterei die beste Hege und Pflege fand, blühten die Städte zuerst wieder auf. Krüppelhaft genug war zwar diese Blüthe in der armseligen Perücken- und Zopfzeit; allein die zahlreichen Fürsten- und Bischofsstädte bildeten doch immerhin den bestimmenden Mittelpunkt von hundert winzigen Gebieten. So beherrschten hier die kleinen Städte das 18. Jahrhundert; die großen werden das 19. beherrschen. Dieser Satz wird am einleuchtendsten bei einem Blick auf die Geschichte Mitteldeutschlands.

Eine der traurigsten Folgen des dreißigjährigen Krieges besteht überhaupt meines Dafürhaltens darin, daß in so vielen deutschen Gauen das richtige Verhältniß zwischen Stadt und Land verschoben, ein einseitiges Vorwiegen zuerst der kleinstädtischen, dann der großstädtischen Interessen über die Interessen des Landvolkes möglich gemacht, und so eine in sich hohle, aller Naturkraft bare Blüthe des städtischen Lebens geschaffen worden ist neben einer im Kern zwar gesunden, aber in ihrem materiellen Bestand zurückgeschobenen, social und politisch vereinsamten Landbevölkerung.

Nach dem westphälischen Frieden traten in Mitteldeutschland all die traurigen Anzeichen ein, welche die vollendete Parcellirung der meisten Bauerngüter und damit die Zerstörung der bäuerlichen Macht verkündigen. Es verschwindet zuerst die starke Pferdezucht, die große geschlossene Güter voraussetzt. Dann nehmen die Zugochsen ab, dann die Kühe und zuletzt bleiben nur noch die Ziegen übrig als das eigentliche Hausthier des vierten Standes, welches man, ohne eigenen Besitz, auf den Oedungen, an den Grasrändern der Wege und, wenn die Armseligkeit vollendet ist, in den grasbewachsenen Gassen der Dörfer und Städtchen vagabundirend weiden lassen kann.

Noch bedenklicher aber erscheint es, daß hier seit dem dreißigjährigen Kriege die Zahl der Familien in den Dörfern häufig gewachsen, die Häuserzahl aber vermindert ist. Vor jener Zeit wohnte fast jede Familie im eigenen Haus, jetzt wohnt bereits eine bedeutende Zahl zur Miethe. Zur Miethe wohnen ist aber durchaus nicht bäuerlich; in einem rechtschaffenen Dorf muß jede Familie ihr eigenes Haus allein bewohnen und wäre es auch nur eine Hütte. So wie Miethsleute in die Häuser ziehen, zieht auch die Stadt auf's Land.

Wenn man z. B. am Mittelrhein eine ganze Reihe von Ortschaften findet, bei denen sich's gar nicht mehr genau unterscheiden läßt, ob sie eigentlich Städte oder Dörfer sind, so sind das Zwittergestalten, die der Teufel gesegnet hat, Denkmale politischer Ohnmacht und socialer Erschlaffung, Urkunden für die Ausgelebtheit des Landes und die Widernatürlichkeit seiner Zustände. Solche Dorf-Städte sind dann in der Regel nicht der Sitz von Bürgern und Bauern neben einander, sondern vielmehr von bürgerlichen und bäuerlichen Proletariern. Mit den ruinirten Dörfern stehen in den süd- und mitteldeutschen Kleinstaaten zusammen die künstlichen Städte. Nirgends gibt es so viele »künstliche Städte,« die man, der Natur und Geschichte trotzend, dem Lande zu Stapelplätzen des geistigen und materiellen Verkehrs aufgezwungen hat, als in Deutschland, nirgends so viele Städte, welche eine Bedeutung ertrotzen und erheucheln, zu der sie nicht berechtigt sind, welche durch die Launen Einzelner oder auch auf Grund verkehrter Staatskunst zu reinen Treibhausblüthen entwickelt wurden und werden. Diese künstlichen Städte haben überall die natürlichen Bahnen des Handels und der Industrie verrückt, sie haben den wirthschaftlichen Schwerpunkt mit dem politischen in Widerstreit gebracht und dadurch nicht wenig die Grundvesten des materiellen Flores der Nation erschüttern helfen. Wohin sich unser Blick auf der Karte Deutschlands wendet, da sehen wir uralte Knotenpunkte des Handels und Gewerbes in die Ecke geschoben, während man daneben Städte zu Landesmittelpunkten gemacht und mit dem Aufgebot aller künstlichen Hülfsquellen in die Höhe getrieben hat, welche ihrer ganzen Lage gemäß höchstens ein Recht hätten, als Dörfer oder Landstädte zu figuriren. Das Kapitel von den künstlichen Städten ist wichtiger als man glauben mag, denn es rührt an den wundesten Fleck unserer verschrobenen Staatenbildung, es hängt ganz eng zusammen mit dem großen Kapitel von unserer materiellen Ohnmacht und Zersplitterung, und weiß beiläufig von einer furchtbaren Summe tiefbegründeten Grollens und Schmollens zu erzählen.

In den Jahren 1848 und 49 war Rheinhessen vorzugsweise demokratisch gestimmt. Diese Provinz aber würde wohl ganz andern Geist behauptet haben, wenn man Mainz nicht bei der Anlage der Taunus- und Main-Neckar-Eisenbahn zu Gunsten des künstlichen Landesmittelpunktes, nämlich Darmstadts, in die Ecke geschoben hätte. Aehnliche Thatsachen wird man bei fast allen natürlichen Stapelplätzen des Handels und Verkehrs behaupten können, und es knüpft sich daran eine Kette beachtenswerther Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren zu machen Gelegenheit hatten. Es ist ein tiefgehender Haß, eine fort und fort in aufreizendem Kleinkriege begriffene Eifersucht der natürlichen historischen Städte gegen die künstlichen, dem ganzen Zuge der Geschichte in's Gesicht schlagenden, in unserer revolutionären Bewegung durchgebrochen. In manchen kleineren Ländern lief der Freiheitsdrang weit mehr hinaus auf eine Erlösung des Landes von der Last seiner künstlichen Hauptstadt, als von allen den Lasten zusammengenommen, die man von dieser Hauptstadt aus seit Menschenaltern dem Lande aufgebürdet hatte. Hiermit hängt die auffallende Wahrnehmung zusammen, daß an so vielen alten Sitzen der Industrie und des Handels nicht etwa bloß unter dem Proletariat, sondern gerade unter den begüterten Geschäftsleuten der Radicalismus herrschte, daß namentlich in vielen ehemaligen Reichsstädten, die vor allen die Wiege des ächtconservativen deutschen Bürgerstandes gewesen, jetzt die auflösenden modernen Gesellschaftslehren am leichtesten Eingang fanden. Der alte Groll über die Stiefmutterliebe, welche der moderne Staat dem materiellen Flor dieser Städte gezeigt, hatte in der politischen Bewegung einen neuen Zündstoff gefunden, und so jene wunderliche Verkehrtheit der Parteibildung erzeugt, derzufolge der besitzende, gediegenste Bürger mit den heimath- und besitzlosen Aposteln des Umsturzes Hand in Hand ging.

Wenn ich von künstlichen Städten und künstlichen Landesmittelpunkten rede, dann denke ich etwa an Karlsruhe im Gegensatz zu Mannheim, Constanz u., an Stuttgart im Gegensatz zu Eßlingen, Reutlingen, Heilbronn u., an Darmstadt im Gegensatz zu Mainz und Frankfurt, an Wiesbaden im Gegensatz zu Limburg, an die Hauptstädte der deutschen Nordweststaaten im Gegensatz zu Hamburg, Lübeck und Bremen – und so fort durch fast aller Herren Länder. Es beruht aber die in Rede stehende Naturwidrigkeit und Verschrobenheit bei den künstlichen Städten nicht etwa dann, daß sie überhaupt als Städte existiren – denn viele derselben sind uralt – auch nicht darin, daß sie zufällig Residenzen sind, was sich meinetwegen auch auf lange Jahrhunderte zurück datiren mag, sondern einzig und allein darin, daß man diese Städte künstlich zu Verkehrsmittelpunkten, zu Industriesitzen, zu großen Städten hat hinaufschrauben wollen. Wir finden bei den künstlichen Städten ganz dasselbe Verhältniß wie bei den Kleinstaaten, die wohl das Recht hätten zu leben, wenn sie nur nicht als Großstaaten leben wollten. Und in der That sind die künstlichen Städte die rechten Stützpunkte und Strebepfeiler der Kleinstaaterei, denn beide haben gleiche Ursache, sich vor jeder naturgemäßen Reform unserer nationalen Zustände zu fürchten.

Vor anderthalbhundert Jahren wollte jeder Fürst sich ein Versailles bauen, das war ganz löblich, sofern er Geld dazu besaß. Seit der Napoleonischen Zeit ging man noch weiter: aus jeder kleinen Residenzstadt sollte ein klein Paris werden, und das war verkehrt. Man bot Millionen auf, um Städte in die Höhe zu bringen, die, wie alle die ebengenannten, von Anbeginn zwischen zwei Stühlen saßen. Hätte man auch nur so viele Hunderttausende an die rechten Orte fließen lassen, so würde man die materielle Macht des Landes verzehnfacht haben, wo man sie jetzt zersplitterte und abschwächte. Indem man den natürlichen Strom des Verkehrs zur Hälfte abgrub und in die neuen Canäle leitete, ließ man den alten Städten zum Leben zu wenig und gab den neuen, künstlichen doch nur zum Sterben zu viel. Die Regierungen lockten in manchen Staaten besitzlose Massen durch allerlei Vergunst in die künstlichen Hauptstädte, um die kleinliche Eitelkeit einer möglichst hohen Einwohnerziffer zu befriedigen. Daß dadurch nebenbei die Vollkraft der Bürgerschaft gebrochen und die Blüthe der Arbeit geknickt wurde, schien man zu übersehen. In den letzten Jahren aber ließ sich's nicht mehr übersehen, daß gerade dieses von Regierungswegen künstlich erzeugte Proletariat der künstlichen Städte das gesunkenste und zügelloseste von allen sey. Es fehlte ihm nur die Macht. Diese Macht wird es gewinnen, wenn einmal über kurz oder lang Gras auf den Märkten und Straßen unserer künstlichen Städte wächst, und dann wird es auch die gefährlichste Art des Proletariats seyn.

Als Peter der Große Petersburg gründete – eine Stadt, die beiläufig nicht zwischen zwei Stühlen sitzt, sondern von vornherein in ihrer Lage als ein natürlicher und nothwendiger Pfeiler zu Peters welthistorischen Planen aufgefaßt war – mußte der Selbstherrscher trotzdem alle Zwangsmittel des Despoten zu Hülfe nehmen, um seine Schöpfung zur rechten Lebenskraft zu fördern. Nur in einem absoluten Staate ist es überhaupt denkbar, daß sich das Scheinleben künstlicher Städte festige. In Verfassungsstaaten dagegen wird ihr Bestand in eben dem Grade schattenhafter, als Handel, Industrie und Gemeindewesen größere Selbständigkeit und Freiheit gewinnen. Wir hinterlassen unsern Enkeln in den künstlichen Städten nichts weiter als sogenanntes fressendes Capital – einen Reichthum, der den Besitzer zuletzt bankerott macht.

Im Anfang des 18. Jahrhunderts war es einmal Modesache bei manchen deutschen Fürsten geworden, künstliche Städte zu gründen. Dieß war eine unschuldige Spielerei, welche man nicht verwechseln darf mit der späteren gefährlichen Passion, solche künstliche Städte zu Mittelpunkten jeglichen Verkehrs zu stempeln. Wenn man den fürstlichen Städtebauern jener Tage ein Compliment machen wollte, dann hat man sie wohl mit Heinrich dem Finkler verglichen. Allein die Geschichte lehrt gerade von diesem deutschen König: daß er Städte hervorgerufen habe, ohne selber eigentlich an deren Gründung zu denken. Das Gelüsten einzelner Machthaber zu ihrem Privatvergnügen auch einmal eine Stadt zu gründen, gehört durch und durch der Zopfzeit an, wo man mit der Scheere in der Hand die Natur corrigirte, weil sie das Laubwerk der Bäume krumm und nicht geradlinig hatte wachsen lassen. Die Spielerei mit dem Städtebauen hatte meist ihren guten Humor. So gerieth der Fürst Georg Samuel von Nassau-Idstein im Jahr 1694 auf den Einfall, wenigstens ein Dorf zu gründen, das seinen Namen fortpflanze, da er vermuthlich einsah, daß ihm zur Gründung einer Stadt die Mittel fehlten. Er legte demgemäß »Georgenborn« auf einer waldigen, steinigen und rauhen Bergkuppe an, die der liebe Gott gewiß nicht zu dem Zwecke geschaffen, daß sie jemals ein Dorf tragen solle. Die Anlage entsprach denn auch den Erwartungen so wenig, daß sein Nachfolger im Jahr 1723 beschloß das Dorf wieder eingehen zu lassen; allein als dieser Beschluß gefaßt war, fing dasselbe nun gerade wie zum Trotz an recht fröhlich in die Höhe zu kommen, und steht bis zu dieser Stunde als der tatsächliche Beweis, daß man durch Decrete Dörfer nicht nur nicht in Blüthe bringen, sondern nicht einmal eingehen lassen kann.

Mit dem Auflösungsproceß des alten deutschen Reiches begann man in steigender Starrköpfigkeit den Grundsatz überall auf den Kopf zu stellen, daß an den Punkten, wo Industrie und Handel, wo der materielle und geistige Verkehr gravitirt, auch das politische Leben seinen Schwerpunkt finden solle. Das auf diesem Wege endlich erzielte Institut der deutschen Residenzstädtelei ist darum ein ganz modernes, welches jedenfalls die Originalität voraus hat, da man es in andern Ländern vergebens suchen wird. Als ein seltsames Spiel der Geschichte haben sich die Fehden der großen selbständigen Stände des Mittelalters gegen die Fürsten und ihre Städte und Burgen zu einem Guerillaskriege rastloser Eifersucht und Widerborstigkeit gegen die künstlichen Mittelpunkte der Höfe und des Beamtenthums fortgesetzt. Denn dies gerade ist ein weiterer bedenklicher Punkt; daß die künstlichen Städte nebenbei als die rechten Burgen der Bureaukratie erschienen sind, und die kastenhafte Absperrung des Beamtenstandes und der Höfe recht augenfällig mauerfest gemacht haben. Lange Zeit fiel es den Leuten nicht auf, welches klassische Meisterstück staatswirthschaftlicher Unnatur durch die steigende Pflege der künstlichen Städte in unserem Vaterlande dargestellt sey. Die Geschäftsleute auf den großen Handels- und Industrieplätzen sahen in dem zunehmenden Rückgang ihrer Städte mehr die Einwirkung persönlicher Mißgunst, als daß sie die Sachlage im Zusammenhang mit unserm ganzen naturwidrigen Staatensystem erfaßt hätten. Erst als in den letzten Jahrzehnten umfassendere ökonomisch-politische Gesichtspunkte allen Bildungskreisen eröffnet wurden, erst als man zurück blicken lernte auf die Naturkraft in dem großartigen Städtewesen des Mittelalters, gingen Vielen die Augen auf, und nun endlich, wo in den verwichenen Jahren ein nationaler Aufschwung wenigstens auf karge Augenblicke durchbrach, fand auch das Bewußtseyn überall Eingang, daß es sich hier um verschrobene Entwickelungen einer ganzen Culturepoche handle. Wenn einige vormärzliche Minister noch kurz vor Thorschluß in dem Aufschwung des national-ökonomischen Studiums etwas Demagogisches erblickten, dann wurden sie dabei von einem ganz richtigen Instinkte geleitet, von dem Instinkte nämlich, daß das Studium der politischen Oekonomie vom nationalen Standpunkte – den eingerosteten bureaukratischen Verkehrtheiten zu allererst den Hals brechen würde. Und doch wäre wiederum hier allein auch nur Heilung und Versöhnung zu finden gewesen. Es sey nur ein Beispiel erwähnt. Die fürstlichen Civillisten würden dem Volk nicht so gehässig erschienen seyn, man würde in den bewegten Tagen nicht halb so leicht durch die Predigt von dem übermäßigen Privatvermögen der Fürsten, von der Verschwendung der Höfe haben wühlen können, wenn die fürstlichen Kassen auch nur die Hälfte des Geldes zu Schmuck und Pflege der natürlichen Verkehrsmittelpunkte unter die Leute gebracht hätten, welches behufs der Treibhausblüthe künstlicher Städte ohne eine Rente für den allgemeineren Landeswohlstand verausgabt worden ist. Bei den geschäftlichen Krisen und Nöthen der letzten Jahre zeigte sich's, wie schwankend die künstlichen Existenzen sind, welche sich jetzt zu Tausenden an die künstlichen Städte knüpfen. Dadurch ist der Zukunft eine trostlose Doppelwahl gestellt. Mit dem unvermeidlichen Verfall der künstlichen Städte werden auch die meisten dieser Existenzen fallen; versuchte man aber sie künstlich zu halten, so könnte das nur auf Kosten der naturgemäßen Entwicklung des gesammten Städtewesens geschehen, beiläufig auch auf Kosten der politischen Moral.

Wie im 18. Jahrhundert die Laune der Fürsten, oft aber auch ihre Eifersucht und ihr Mißtrauen gegen die natürlichen Städte, gegen die alten festen Burgen des selbständigen Bürgerthumes die künstlichen Städte schuf, so sind im 19. Jahrhundert zahlreiche künstliche Städte durch die Laune und Mode unsers bedürfnißreichen überfeinerten Lebens geschaffen und mit ihrer Existenz in die Luft gestellt worden. Hieher gehören namentlich die wie Pilze auftreibenden Badestädte, viele kleine Fabrikstädte und jene seltsamen Touristenstädte in unsern schönen Gebirgs- und Flußthälern, wo sich rasch eine neue »Stadt« um ein paar große Gasthöfe anlagert, wie früher um eine Burg, ein Schloß oder ein Kloster. Unsere Badeindustrie ist so breit über ihre natürliche Grundfläche hinausgewuchert, daß sie so lüderlich und unsicher wie nur möglich werden mußte. Die Bewohner der glänzenden Badestädte sind häufig im Sommer Bürger, im Frühling und Herbste Bauern und im Winter Proletarier. Da hört dann freilich der Unterschied zwischen Stadt und Land auf. Stattliche Neubauten drängen sich in solchen Städten binnen wenigen Jahren zu großen neuen Straßen und Vierteln zusammen – allein sie sind mit dem Gelde auswärtiger Kapitalisten erbaut, und der Bürger, welcher darinnen haust, bleibt jenen fremden Geldmännern seine Lebtage leibeigen. Bei französischen Spielpächtern müssen solche Städte betteln gehn, um ihre dringendsten Gemeindebedürfnisse befriedigen und ihre auf die äußerste Spitze gestellte Existenz behaupten zu können. Hier wird man freilich den stolzen freien deutschen Bürger vergeblich suchen und manches kleinstädtische, aber doch wenigstens von Natur lebensfähige Krähwinkel steht wie ein Augsburg oder Venedig der alten Zeit neben solchen im Kerne hohlen Prunk- und Schaustädten.

Es ist der größte Segen der europäischen socialen Bewegung, in deren Auswallungen wir jetzt so steuerlos umhertreiben, daß sie alle Unnatur unserer Gesittung vorerst wenigstens zur nacktesten Blöße enthüllt. Nur auf die Diagnose kann die Heilung folgen. In diesem Betracht möge man es nicht als etwas kleines ansehen, daß sich in den künstlichen Städten eine so wurmstichige, weil auf den baaren Eigennutz basirte Loyalität breit gemacht hat, in den natürlichen Mittelpunkten des Verkehrs ein so rostiger Radikalismus, daß eine so durchgreifende Eifersüchtelei plötzlich lebendig geworden ist gegen die neuen Hauptstädte, und wenn der Neid dabei auch nur dem Besitz eines Zuchthauses oder eines Consistoriums, eines Irrenhauses oder einer Eisenbahn gegolten hätte. Beim nächsten Anlaß wird sich der Kampf gegen die künstlichen Städte organisiren. Am schwersten straft sich allezeit die Unnatur in socialen und volkswirthschaftlichen Dingen, denn sie tastet hier an das empfindlichste, an die Sitte und den Geldbeutel. Man muß nüchtern genug seyn, um einzugestehen, daß alle Revolutionen zu drei Viertheilen durch den leeren Geldbeutel eingebrockt wurden, »nicht aus Durst nach Rache,« – wie der Plebejer in Shakespeare's Coriolan sagt – »sondern aus Hunger nach Brod.«

Aber nicht bloß in der Bildung neuer Städte, auch in dem riesigen Anwachsen vieler alten zeigen sich in unserer Zeit bedenkliche Symptome der Widernatur. Europa wird krank an der Größe seiner Großstädte. Die gesunde Eigenart Altenglands wird in London begraben, Paris ist das ewig eiternde Geschwür Frankreichs. Man fürchtet, Rußland werde schon wegen der bloßen Riesengestalt seiner Ländermassen die aus dem Individuellen hervorgewachsene abendländische Civilisation verschlingen; warum bejubelt man denn die Riesengestalt unserer sogenannten Weltstädte, die doch als Städtebildungen ganz dieselbe Gefahr drohen, wie Rußland als Ländergebilde? Die Urheimath der einförmig centralisirten unermeßlichen Großstädte ist China, überhaupt der Orient, das Land der politischen und socialen Erstarrung. Im 18. Jahrhundert sollte jede deutsche Residenzstadt ein Versailles seyn, jetzt soll jede Paris und London werden. Auch die kleinste Stadt will nunmehr eine Großstadt wenigstens vorstellen, wie jeder Bürger einen vornehmen Herrn. Diese großen und kleinen Großstädte, in denen jede Eigenart des deutschen Städtewesens abstirbt, sind die Wasserköpfe der modernen Civilisation. Wasserköpfe bekunden bekanntlich nicht selten ein frühreifes und äußerst erregtes Seelenleben. Man wird aber doch daraus nicht folgern wollen, daß die dicksten Köpfe allemal die gescheidesten und lebensfähigsten seyen.

Das fabelhaft rasche Anwachsen unserer größeren Städte geschieht nicht durch einen Ueberschuß an Geburten, sondern durch einen Ueberschuß der Einwanderung. Das Land und die kleine Stadt wandert aus nach der Großstadt. Die überwiegende Masse dieser Einwanderer besteht aber aus einzelnen Leuten, die noch keinen festen Beruf, kein eigenes Hauswesen haben, die in der großen Stadt erst ihr Glück machen wollen. Es ist ihnen daheim zu langsam vorwärts gegangen, in der großen Stadt aber hoffen sie ernten zu können, ohne gesät zu haben. Sicher finden nur Wenige dieses geträumte Glück, die Mehrzahl dagegen strömt nach einiger Zeit wieder ab: dafür treten aber wieder ebensoviele und noch mehr Nachströmende ein, die ebenso rasch wieder verschwinden. Nicht durch die seßhafte, sondern durch die fluthende und schwebende Bevölkerung werden unsere Großstädte so ungeheuerlich. Schon diese einzige Thatsache sollte den Social-Politiker stutzig machen. Luxusarbeiter, Speculanten, Lehrlinge, Gehülfen, Dienstleute, Taglöhner u. sind es, die den Bevölkerungsziffern solcher Städte so viel Nullen ansetzen. Das Proletariat ist es, was von den kleinen Städten in die großen fluthet, um von dort aus Stadt und Land zu beherrschen. Nicht die nothwendigen, den unabweislichen Lebensbedürfnissen dienenden Gewerbe vermehren sich auffallend rasch in den Großstädten, sondern die kurzlebigen Luxusgewerbe, denen das Proletariat im Schooße sitzt. In Berlin z. B. haben sich seit 1784 die Zimmerleute, Maurer, Gerber u., gar nicht vermehrt, sondern vermindert; dagegen sind die Buchbinder, Lakirer, Fabrikanten von musikalischen Instrumenten u. wunderbar zahlreich geworden. Am stärksten aber nehmen zu Taglöhner und Gesinde.

Die ländliche Bevölkerung lebt größtentheils familienweise zusammen, die städtische dagegen zu einem starken Theile vereinzelt. Diese Vereinzelung nimmt zu, je mehr die größeren Städte Großstädte werden. Schon hierdurch ist eine sehr bedeutende Kluft zwischen Stadt und Land gesetzt, die sich leider durchaus nicht verringert, sondern vielmehr zusehends erweitert. Das Wachsen der städtischen Bevölkerungsziffer gegenüber der ländlichen verliert durch diesen Umstand gar sehr an socialem Gewicht. Unterläßt der Staatsmann aber die Erwägung des socialen Momentes, dann wird die Zunahme der großstädtischen Volksmasse von einem wahrhaft vernichtenden Gewicht für unsere ganze Civilisation. Das allgemeine Stimmrecht würde die bereits angebahnte Uebermacht der großen Städte über das Land vollenden, während ein auf Seßhaftigkeit, eigenen Hausstand und Besitz gegründetes Stimmrecht das moderne Ueberwiegen der Stadt über das Land so ziemlich wieder ausgleichen würde. Die Herrschaft der Großstädte wird zuletzt gleichbedeutend werden mit der Herrschaft des Proletariats. Schon im Jahre 1840 war der 45. Preuße ein Berliner, der 35. Franzose ein Pariser und von je 15 Engländern wohnte je einer in London. In diesen Ziffern der Einwanderer vom Lande zur Großstadt liegt eine weit größere Summe von Gefahren für die individuelle Entwicklung unseres gesammten Volkslebens versteckt, als in den Ziffern der Auswanderer nach fernen Welttheilen, die freilich dem Volkswirth unheimlicher in's Ohr tönen mögen.

Am auffallendsten gestaltet sich das Verhältniß von Stadt und Land in Belgien. Dieses kleine Königreich wird mehr und mehr ein rein städtisches Land. Schon bei der mit Ende 1850 abschließenden Volkszählung war beiläufig jeder dritte Belgier ein Stadtkind! Die Städte beherrschen hier das Land, die städtische Industrie den bäuerlichen Beruf wie in keinem andern Strich des europäischen Festlandes von gleicher Größe. Das Anwachsen der Städte geht hier mit Sturmeseile. Die Einwohnerzahl von Brüssel hat sich binnen 45 Jahren nahezu verdoppelt, von Gent mehr als verdoppelt, von Antwerpen wenigstens um mehr als ein Drittel gemehrt. Und zwar ist dieses Ueberwiegen des städtischen Lebens in Belgien nicht willkürlich und gemacht, es ist historisch und in der Natur und Lage des Landes tief begründet. Die Verfassung des modernen Königreichs, welche »Bürgerthum« und »Gesellschaft« als wesentlich gleiche Begriffe voraussetzt, entspricht daher dem Zustande des Landes als eines überwiegend städtischen, industriellen und wird – für Belgien – mit Recht als die trefflichste gepriesen. Daraus folgt aber noch lange nicht, daß eine Verfassung, welche für Belgien die beste ist, eben darum auch die beste seyn müsse für Deutschland. Denn in Deutschland bestehen ganz andere Verhältnisse von Stadt und Land. Die abstrakte Politik der Schule kümmert sich freilich nicht um solche Unterschiede bei Land und Leuten. Das Wesen und der Vorzug einer socialen Politik aber ist es, daß sie die Lehre aus dem Leben entwickelt und nicht umgekehrt das Leben aus der Lehre. Bei den in's Ungeheuerliche und Formlose ausgereckten Großstädten hört der besondere Charakter der Stadt als eines originellen, gleichsam persönlichen Einzelwesens von selber auf. Jede Großstadt will eine Weltstadt werden, d. h. uniform allen anderen Großstädten, selbst das unterscheidende Gepräge der Nationalität abstreifend. In den Großstädten wohnt das ausgleichende Weltbürgerthum. Hier verschwinden die natürlichen Unterschiede der Gesellschaftsgruppen; und die moderne Ansicht, welche neben reich und arm, gebildet und ungebildet keine »Stände« mehr kennt, ist hier mehr als Einbildung, sie ist eine von dem großstädtischen Pflaster aufgelesene nackte Wahrheit. Die Weltstädte sind riesige Encyklopädien der Sitte wie der Kunst und des Gewerbfleißes des ganzen civilisirten Europas. Ich verkenne das Stolze dieses Gedankens nicht, ich verkenne nicht, welch reiche Ernte namentlich das schaffende und erfindende industrielle Talent, der Handel, überhaupt alle materielle Betriebsamkeit aus diesen Encyklopädien ziehen wird. Wo sich die Menschen zu ungeheuren Massen ansammeln, da blühet Arbeit und reift Gewinn und der Nationalökonom freut sich darüber. Das gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft aber ist nicht immer da wo die größten Massen sind, so wenig als es andererseits im Einödhof der Gebirgsbauern zu suchen ist. Es begehrt das mittlere harmonische Maß selbst im Wachsthum der menschlichen Siedelungen. Mit den großen Encyklopädien unserer Literatur zog bekanntlich auch der Geist des Encyklopädismus ein. Und dieser ist kein guter Geist gewesen. So wird es auch gehen mit diesen Riesenencyklopädien der Großstädte und ihren weiteren Auflagen. Man schickt junge Leute in die Großstädte, damit sie die Welt kennen lernen. Allein den Rausch, die Verwirrung und – das Mißbehagen des Encyklopädismus werden die meisten zurückbringen, nicht reife Studien. Wer alles auf einmal sieht, der sieht nichts. Der Großstädter braucht nicht mehr zu wandern, er kann sich die Welt behaglichst innerhalb seiner Stadtmauern beschauen, er läßt die Welt zu sich kommen, statt zu der Welt zu gehen. Und doch zeitigt nur das Wandern den Geist, wo die Anschauungen der Natur, des Volkslebens, der menschlichen Betriebsamkeit schrittweise errungen werden. Wer in der Welt wie in einer Encyklopädie herumstöbert, der gewinnt, was er nicht errungen hat, darum wird er von dem Gewonnenen wenig behalten.

Die weit überwiegende Mehrzahl der großen Männer Deutschlands, namentlich in Kunst und Wissenschaft, sind aus den kleineren Städten hervorgegangen und vom Lande gekommen. Die Sammlung des Geistes auf Einen Punkt macht den großen Mann, und diese wird sich in dem Encyklopädismus der Großstadt schwer finden lassen. Wenn die hervorragenden Talente auf dem Lande zeitig und fertig geworden sind, dann zieht man sie wohl in die Großstadt, und doch erlebten wir auch dann noch häufig, daß solche Talente dort sofort in eine Art geistigen Pensionsstandes versetzt erschienen.

Die mittelalterliche Kunstthätigkeit entwickelte sich weit eigenartiger als die unsrige in mittleren Städten. Jene Künstler sahen, hörten und lasen eben nicht zu viel, darum konnten sie recht aus ihrer Seele Tiefen herausschaffen. Auf gar viel moderner Kunst und Art dagegen liegt der Mehlthau der Großstädterei. Das Theater von ganz Europa ist für Generationen ruinirt worden durch die unersättlichen Ansprüche des höchst großstädtischen Pariser Publikums auf Prunk und Spektakel. In Deutschland ist bereits keine wirklich gute kleine Bühne mehr möglich, denn der deutsche Philister ist auch in Paris und Wien und Berlin gewesen und wird die kleine Bühne in seinem Krähwinkel fortan nur noch mit großstädtischem Auge messen. Und doch sind solche kleine Bühnen einst die Zufluchtstätten einer weit reineren und nationaleren dramatischen Kunst gewesen.

In der Architektur hat das Kasernensystem des modernen großstädtischen Häuserbaues den entschiedensten Schaden gestiftet. Und doch wird man es um so weniger aufgeben können, je mehr von Tag zu Tag die »vereinzelten Leute« den großen Städten zuströmen, während kaum noch auf dem Lande die Familie das Haus bewohnt. Schon kann für die Ueberzahl der einzelnen Arbeiter und Tagelöhner in den Großstädten nicht mehr Raum geschafft werden, weil sie als Miether den Häuserspeculanten nicht genügenden Profit bieten. In Berlin droht diese Miethfrage bereits zur »socialen Frage« zu werden, und in Kurzem wird man in solchen Städten von Gemeindewegen Proletarierkasernen bauen müssen, man mag wollen oder nicht. Die »Gesellenhäuser« in England sind schon Kasernen der Art, und man geht eben damit um, sie auch nach Deutschland zu verpflanzen. Man wird sie trefflich einrichten, man wird sogar das Mögliche aufbieten, um den Gesellen in diesen Häusern Ersatz für das verlorene Familienleben zu schaffen, aber Kasernen bleiben sie trotzdem.

Wir könnten diese Ausführung weiter verfolgen und würden dann sehen, daß auch in der Musik und Malerei von den Großstädten der gleiche zersetzende Einfluß geübt wird. Die Kunstausstellungen mit ihren Paradestücken legen Zeugniß genug ab von dem auf die Blasirtheit und Frivolität des großstädtischen Publikums berechneten Geschmack, der vor allen Künsten die Kunst der Prahlerei verlangt. Die social so bedeutsame Hausmusik und Kammermusik ist lange Zeit fast ganz unterdrückt worden durch die Wucht der prunkhaften großstädtischen Hausaufführungen und durch das Virtuosenthum, welches in diesen Städten seine eigentliche Herberge gefunden hat.

Wir müssen aber auch die entgegengesetzte Seite hervorheben. In den Großstädten als den Stammsitzen der Luxusindustrie beginnt das Handwerk wieder von künstlerischen Elementen durchdrungen zu werden, wie es seit Jahrhunderten nicht mehr der Fall war. Dies ist eine Lichtseite des großstädtischen Wesens, welches überhaupt aus dem Gesichtspunkte der materiellen Betriebsamkeit stets in glänzender Beleuchtung erscheinen wird. Bei Zeiten, die vorwiegend künstlerisch und erst in zweiter Linie industriell waren, lag in dieser Verschmelzung der Kunst mit dem Handwerke keine Gefahr für die höheren, idealen Interessen des Künstlerthums. Bei der Gegenwart aber ist es umgekehrt! wir sind in erster Linie industriell und erst in zweiter künstlerisch. Daher liegt jetzt der großen Menge der Wahn so nahe, daß der Glanz handwerklicher Technik am Kunstwerke das Kunstwerk selber sey. Dieser Wahn, der den idealen Gehalt des Künstlerthumes zur Magd der Technik erniedrigt, findet in dem ganzen Kunsttreiben der Großstädte unglaublich Nahrung.

Der vollendete Sieg der Technik in der Kunst und die Erniedrigung der Kunst zur Magd der Luxusindustrie stellte sich dar auf der Londoner Weltausstellung des Jahres 1851. Sie war der Jubeltag des großstädtischen Geistes in der ersten Großstadt Europas gefeiert. Ihre Nachwirkungen sind schon um deßwillen unberechenbar, weil sie die Siegestrunkenheit des großstädtischen Industrialismus auf lange Jahre permanent gemacht hat. In den Sälen des Krystallpalastes hatte man griechische Götterbilder zur Decoration moderner Fabrikwaaren aufgepflanzt. Selbst Jules Janin, das ächte Pariser Kind, meinte, der Apoll von Belvedere spiele da eine Rolle, als ob man ihn vor einen Waarenballen gespannt, der olympische Jupiter, als ob man ihn als Bierzeichen an einem Wirthshaus ausgehängt habe. Wachen wir, daß über dem Siegesrausche der materiellen Arbeit die höhere Würde des geistigen Schaffens nicht ganz vergessen werde! Ich bekenne wenigstens, daß bei all den schimmernden Einzelheiten des Eröffnungstages, wie sie uns in tausend jubelnden Berichten zugefluthet wurden, nur die Kunde von einer einzigen einen wahrhaft herzerwärmenden Eindruck auf mich gemacht hat. Als der Erzbischof von Canterbury sein Gebet gesprochen, stimmten die Schaaren der Sänger Händels Hallelujah an, und vor der zermalmenden Majestät dieses idealen Meisterwerkes des tiefsinnigen deutschen Künstlers beugten sich erschüttert die stolzen Söhne des materiellen Jahrhunderts.

Damals war es, wo man mit schneidender Frivolität den »kerkerhaft festen und schweren« Kölner Dom, den sechs Jahrhunderte nicht vollenden konnten, wegwerfend mit dem Prunkstück des Glashauses an der Themse verglich, mit dem »leichten luftigen Haus,« welches ein Winter hervorgezaubert. Hier hatten wir schwarz auf weiß jene in den Großstädten ausgeborene Ueberhebung der rein technischen Meisterschaft über die Schöpfungen des vollen, aus der Tiefe des Geisteslebens geborenen Künstlerthums. Wir werden nicht vermögen, dem anerkannten Ruhm eines so außerordentlichen Technikers wie Paxton ein Stücklein auch nur um Haaresbreite ab- oder zuzuschreiben. Aber Protestiren müssen wir, wenn man ein aus dem ganzen Ideenreichthum der religiösen und künstlerischen Begeisterung der Jahrhunderte geborenes Kunstwerk ersten Ranges mit der Londoner Industrie-Elle messen will, und den Standpunkt der Geschwindigkeit des Hervorbringens von einer rein technischen Construction wie der Glaspalast auf eine architektonische Kunstschöpfung übertrat. Dann wäre Luca fa Presto der größte Maler gewesen, weil er am geschwindesten gemalt hat. Die Kunst hat Segen dem Handwerk gestiftet, das Handwerk soll es nicht mit Undank zurückzahlen, wie wenn es heischte, daß die Kunst sich demüthige vor der bloßen Technik.

Der einfache künstlerische Schönheitssinn war das Charakterzeichen des hellenischen Alterthums. Aber als derselbe einseitig in seiner höchsten Blüthe stand, brach Hellas sittlich, politisch und social zusammen. Die Mystik des religiösen Lebens im Verein mit einem wunderbar individuellen Bau der Gesellschaft erzeugte im Mittelalter jenen spiritualistischen Schaffenstrieb, der unsere Dome thürmte. Aber als abermals der Bau dieser Riesentempel in seiner Blüthe stand, brach das Mittelalter zusammen. Der forschende, rechnende, der bienenfleißig industrielle Geist des 19. Jahrhunderts hat die wunderbaren Colosse der modernen Großstädte vollendet und in der größten derselben jene stolze Ruhmeshalle der Industrie aufgestellt. Jene Städte und jene Halle entsprechen einander, beide ein »freies, luftiges Haus.« Aber es wird eine höhere und höchste Blüthezeit des Industrialismus kommen und mit ihr und durch dieselbe und die moderne Welt, die Welt der Großstädte zusammenbrechen und diese Städte zusammt viel fabelhafteren Industriehallen als diejenige war, welche wir geschaut, werden als Torsos stehen bleiben, auf dem Kopfe den Krahn, wie der Kölner Dom. Wo die Weltgeschichte über vergangene Zeiten tragisch gerichtet hat, da sollten wir nicht in frivolem Uebermuth mit dem kleinen Maße des Tages messen und ausrufen: Sehet, wie groß wir sind!


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