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Mit dem verkrüppelten und verkünstelten Wuchs der Städte im 17. und 18. Jahrhundert ward der Grund zu einer auch noch in unsere Zeit tief hineingreifenden Gleichgültigkeit des Bürgers gegen das Gemeindeleben gelegt. Allein auch hier scheidet sich Stadt und Land, Großstadt und Kleinstadt.
Es ist noch nicht lange her, daß es in deutschen Landen für eines fein gebildeten und frei denkenden großstädtischen Mannes unwürdig und geradezu für philisterhaft galt, sich um das Gemeindeleben zu bekümmern. Die Zeit der rationalistischen Aufklärung im vorigen und im laufenden Jahrhundert schwärmte für die Menschheit und hatte kein Herz für das eigene Volk: sie philosophirte über den Staat und vergaß die Gemeinde darüber. Keine Periode ist armseliger in der Entwicklung des gemeindebürgerlichen Geistes als das 18. Jahrhundert; die mittelalterliche Gemeinde löste sich auf und die moderne war noch nicht fertig. Die Bärenhäuter in den germanischen Urwäldern haben glücklichere Ahnungen über die Gemeinde gehabt, als die große Mehrzahl der Staatsmänner in den Tagen unserer Großväter. Wer in der damaligen satyrischen Literatur einen pokernden Schafskopf zeichnen wollte, der zeichnete einen Bürgermeister, und wer ein Kollegium von Eseln zu schildern vorhatte, der schilderte ein Kollegium von Rathsherren. Dieser Spott auf alle Gemeindewürden ging in stehenden Formen herab bis zur untersten, bis zum Nachtwächter. Was einfältiger als einfältig ist, das nennen wir heute noch »unter dem Nachtwächter,« gleich als ob dieser von Amts wegen der einfältigste Mann im Orte sey.
Ein Zeitalter, in welchem der Spott auf das Gemeindewesen und seine Würde so wohlfeil und gangbar geworden ist, kann aber kein politisches seyn.
Die Staatsdienerschaft sah es in den meisten Ländern als ein Vorrecht an, daß ihre Glieder nicht Gemeindebürger zu werden brauchten, statt daß sie darin eine empfindliche Verkürzung hätte erblicken sollen. Schutzbürger zu seyn (»Permissionist« sagt man gar zierlich in modernem Wort) galt noch in unsern Tagen Vielen für nobler als der Vollbürger. Das sind noch Nachwehen jener hundert Jahre alten Verachtung des Gemeindelebens, die mit dem Kapitel von den künstlichen Städten und von der eifersüchtigen Fehde wider die alten mächtigen natürlichen Städtebildungen seitens der damals neugebackenen winzigen Sonderherrschaften in sehr inniger Verbindung steht. Es ist eines der merkwürdigsten socialen Krankheitszeichen der Gegenwart, daß so viele Leute das Ideal der häuslichen Behäbigkeit darin erblicken – im Wirthshause sich einzumiethen, am Wirthstische zu speisen und täglich wie auf der Reise zu leben. So erschien es auch als eines vorurtheilsfreien Geistes besonders würdig, die Gemeinde wie ein großes Wirthshaus aufzufassen, in welchem man, von allen Banden örtlicher Seßhaftigkeit frei, ein sociales Junggesellenleben führen könne.
In Preußen, wo die politischen Reformen des vom Rande des Abgrundes sich aufraffenden Staats durch eine neue Städteordnung begonnen worden waren, ist auch in Folge dieser bedeutsamen Thatsache der Kredit der Ehrenämter der Gemeinde wieder weit höher gestiegen, als er annoch in den meisten kleineren deutschen Staaten steht. Dann hatte sich Stein als einen wahrhaft politischen Mann bewährt, daß er die Hebung des Gemeindelebens an die Spitze der neuen Erhebung des ganzen Staates gestellt hatte.
Ganz anders als die aufgeklärten gebildeten Leute im 18. Jahrhundert, faßten zu selber Zeit noch die Handwerker, die Kleinbürger, die Bauern, der gemeine Mann, den Gedanken des Gemeindelebens auf.
Als man die Macht der Städte und des darinnen verschanzten Bürgerthums aus Staatsraison brach, wie man früher aus denselben Gründen die Burgen des Adels gebrochen hatte, hielt man es nicht der Mühe werth, auch den Dorfgemeinden und unselbständigen Kleinstädten auf den Leib zu rücken. So ist die historische Gemeinde überwiegend nur auf dem Lande in den zerstörungssüchtigen Zeiten der Hofdespoten, später der Bureaudespoten, gerettet worden. Die Bauern und Kleinbürger hatten darum fast allein einen tiefen angeerbten Respekt vor der Würde der Gemeinde behalten. Das ist die Gloria des gemeinen Mannes, daß er dazumal von Herzen gesund geblieben war, während die feinere Gesellschaft entartete. Also blieb ihm auch die Gemeinde ans Herz gewachsen. Der Bauer war und ist so stolz auf den Titel eines Feldgerichtsschöffen, eines Gemeinderaths oder Rechners, wie der Beamte auf einen Geheime-Hofraths-Titel. Die Dorfschulzen waren nicht umsonst so grob. Die Fülle ihres Standesbewußtseyns war es, die als Grobheit über den Rand des Bechers schäumte. Die Dorfgemeinde war und ist des Bauern politische Welt. Der gebildete Städter aber trieb viele Menschenalter Staatspolitik ohne Gemeindepolitik. »Wir die Gemeinde N. N.« – mit diesem stolzen Pluralis majestatis huben vordem Dorfgemeinden selbst Fürsten gegenüber ihre Sendschreiben an. Wo der Städter ein allgemeines Urtheil etwa einen Spruch der »öffentlichen Meinung« nennen würde, da spricht der Bauer: »die ganze Gemeinde sagt es.« Auch der Kleinbürger der alten Reichsstädte fand im 18. Jahrhundert in seiner Gemeinde noch ganz seine Welt. Nicht sein Haus, wohl aber seine Stadt war seine Burg. Es zeugt von der politischen Oberflächlichkeit jener Zeit, daß die freien Geister dieses tiefe sociale und politische Heimathbewußtseyn fast nur von seiner lächerlichen, fast nie von seiner ernsten Seite faßten. Und je kleiner das reichsfreie Nest war, desto gesteigerter war in der Regel dieses Bewußtseyn.
Es ist heutigen Tages noch immer eine wichtige politische Thatsache, daß in dem Dorfe zumeist ein strengerer Gemeindegeist herrscht als in der Stadt, in der kleineren Stadt ein strengerer als in der großen. Das klettenhafte gemeindebürgerliche Zusammenhalten in den ehemaligen Reichsstädten ist auch keineswegs schon ganz zerstört. Merkwürdige Vergleichungspunkte bieten z. B. in dieser Hinsicht die als Sitte überlieferten Miethgesetze in den verschiedenen deutschen Städten. In den modernen Städten sind sie auf die ab- und zuströmende Einwohnerfluth berechnet; die Stadt ist eine große Kaserne. Die sociale Junggesellenwirthschaft gilt bereits als die Regel. Man hat also kurze Kündefristen, man kann miethen oder ausziehen an jedem Tage des Jahres, und der Miether findet die Wohnung bereits mit allem Behagen der häuslichen Einrichtung ausgestattet. In den alten Städten dagegen bietet man ihm häufig nur die kahlen Wände, man erwartet wohl gar, daß er sich seinen Küchenheerd und seinen Ofen selber mitbringe; man rechnet nach halbjähriger Kündefrist: der Miether kann nur zu bestimmten »Zielen,« etwa zwei- oder dreimal im Jahr ab- und zuziehen. Der Hausbesitzer ist in solchen Miethstatuten angesehen, wie der wahre Herr, alles ist zu seinen Gunsten gesetzt und zu Ungunsten des Miethers, der gedacht ist als der Vagabund, als der fremde Eindringling, dem man aus Gnaden gestattet, für theures Geld eine Wohnung zu miethen. Dahinter lugt noch das alte stolze Bewußtseyn der Eigenherrlichkeit der Gemeinde, zur Hälfte in modernen Eigennutz umgesetzt.
Städte wie Hamburg, Frankfurt, Bremen, Lübeck, sind doch gewiß in hohem Grade bereits durchdrungen von modernem Einfluß. Sie sind bereits hinlänglich großstädtisch geworden, aber sie sind doch immer »natürliche« Städte geblieben. In den erstgenannten ist die Masse der »Permissionisten,« der neuen Schutzbürger, die den alten Gedanken gemeindebürgerlichen Zusammenhalts allmählig ganz wegtilgen müssen, bereits ungeheuer angewachsen. Dennoch unterscheidet man dort immer noch den eingeborenen Bürger und den fremden ansässigen mit einer Strenge, von der man in jüngeren großen Städten keine Ahnung hat. Es ist dort, als laste ein geheimer Fluch auf dem Worte »fremd«.
Indem der deutsche Kleinbürger und der Bauer im achtzehnten Jahrhundert und im Anfange des 19. den hohen Gehalt des Gemeindewesens praktisch würdigte, zeigte er darin weit mehr politische Spürkraft als der Gebildete, der zur Unterhaltung Zeitungen las und in der europäischen Politik kannegießerte, die Gemeindewirthschaft aber als eine kleinliche Philisterei übersehen zu müssen glaubte. Dieses Vergessen der nächsten und eigensten bürgerlichen Interessen über den entfernten, schulmäßig allgemeinen politischen sitzt manchen deutschen Zeitungen noch heute im Fleische. Daher kommt es, daß gerade unsere publicistisch bestgeschriebenen Zeitungen oft am wenigsten praktisch auf die Gesellschaft einwirken, wahrend unbedeutende Localblätter mit einem Häuflein Abonnenten zu Zeiten wirkliche Volksführer oder auch Verführer geworden sind.
Im Bilde der Gemeinde ahnt und begreift das Volk erst den Staat. Aber nicht die politische Form, sondern der sociale Inhalt des Gemeindelebens war es, an welchem das Volk hing und noch hängt. Darum führte man in Deutschland den tödtlichsten Streich gegen den politischen Geist im Volke, als man in und nach der Napoleonischen Zeit die französische centralisirte Gemeindeverfassung einzubürgern suchte, denn nach ihr ist die Gemeinde bloß noch eine politische Form. Die Staatsmänner zeigten damit, daß sie den Gedanken einer socialen Politik vollständig verloren hatten. In dieser Ertödtung des socialen Inhalts im Gemeindeleben war der rechte Grundstein des modern bureaukratischen Staats gelegt. Durch die theilweise wiederhergestellte Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung ist jener Staatsdienerstaat bereits stark aus den Fugen geschoben worden: durch die Vollendung einer organischen Gemeindeverfassung wird er zuletzt ganz aufgelöst werden. Nicht bloß in der Lehre, sondern auch in der Geschichte geht der Weg von Familie und Stamm zum Staat und der Gesellschaft durch die Gemeinde.
Ein ganz richtiger Trieb vereinigte in der unmittelbar vormärzlichen Zeit fast alle politischen Parteien in dem Andringen auf Reform des Gemeindewesens. Es war, Vielen wohl unbewußt, der wiedererwachte Geist einer socialen Politik, der zu dieser Forderung trieb. Die Gemeinde ist nicht bloß eine politische, sie ist vielmehr in erster Linie eine sociale Körperschaft; die Gemeinsamkeit der Arbeit, des Berufes und der Siedelung begründet das Gemeindeleben, welches erst durch den Staat hinterdrein eine secundäre politische Form gewinnt. Darum schlug die ausebnende Demokratie sich selber mit der versuchten Durchführung einer politisch möglichst freien Gemeindeverfassung; denn die politische Selbständigkeit führt hier zugleich zum festen Abschluß jener individuellen Orts- und Berufsinteressen, die der ausebnenden Demokratie der größte Gräuel sind. Freie Landgemeinden werden aristokratisch, social ausschließlich, nicht demokratisch. Die malt germanische Idee des Gemeindeeigenthums, der Markgenossenschaften, der Gesammtbürgschaft der Gemeinden u., anscheinend eine Vorstufe zur allgemeinen Gütergemeinschaft, hat noch nirgends den modernen Communismus geweckt, wohl aber im Gegentheil ein allzuschroffes gesellschaftliches Abschließen der mitbesitzenden Gemeindegenossen. Man wird darum stets zu falschen Resultaten kommen, wenn man bei der Herausbildung unserer Gemeindeverfassungen bloß von dem Gedanken ausgeht, daß die Gemeinde eine politische und nicht weit mehr eine sociale Körperschaft sey. Ueber diese Doppelseitigkeit im Begriff der Gemeinde gilt es noch gar sehr Klarheit zu verbreiten. So reich unsere staatswissenschaftliche Literatur ist an trefflichen Untersuchungen über die Gemeinde als politische Corporation, so wenig ist noch die sociale Bedeutung der Gemeinde erörtert worden. Und doch ist eine Festigung und Veredlung der modernen Gesellschaft undenkbar, ohne eine sociale Reform des Gemeindelebens.
Dieser Gedanke eines Unterschieds des socialen und politischen Wesens der Gemeinde ist aber keine bloße Einbildung der Schule mehr, er lebt und lebte allezeit in der That.
Treten wir mit einem Exempel in die Mitte der Sache.
Es ist eine der obersten Voraussetzungen unserer gesammten bürgerlichen Ordnung, daß jeder selbständige Staatsbürger, jeder Begründer eines eigenen Haushaltes einer bestimmten Gemeinde angehören müsse. Man sollte nun meinen, durch diese an sich unantastbare Forderung müsse der Sinn für das Gemeindeleben gefestigt, ja der ächte Gemeindegeist erst geschaffen werden. Dem ist nicht immer so. In der alten Zeit blieben die meisten Leute in ihrer Heimath, in ihrer Stadt, und nährten sich redlich. Jetzt können aber viele Tausende gerade nur dann sich redlich nähren, wenn sie ihren Wohnort zeitweise wechseln. Besonders für die mächtigsten, acht modernen Berufsgruppen der Industrie, der Geistesarbeit, des Staatsdienstes ist die Gemeinde, der Gau, ja das einzelne Land zu klein und eng geworden. Gut die Hälfte unsers heutigen Bürgerstandes wechselt, nicht von Jahr zu Jahr, aber doch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ihren Wohnort. Dieser Zustand wird steigen, je mehr die Theilung der Arbeit wächst. Ich spreche hier nicht von unselbständigen Gehülfen und Lohnarbeitern, sondern von selbständigen, besitzenden, betriebsamen Leuten, großentheils mit eigenem Hausstand, von Präsidenten und Geheimeräthen, Kapitalisten, Technikern, Künstlern, Gelehrten, Schriftstellern u. Sie würden in ihrem Berufe »sitzen bleiben,« wenn sie immer örtlich sitzen blieben. Gerade um der Mehrung des nationalen wie des eigenen Wohlstandes willen, müssen sie es anders machen als der Schuster, der auf seines Großvaters Stuhl, in seines Großvaters Fensterecke fortschustert bis an sein seliges Ende, als der Bauer, der den Pflug auf demselben Acker regiert, wo ihn sein Urahn regiert hat.
Wir kommen hier zu einem Punkte, wo der oben geschilderte moderne Gegensatz zwischen Stadt und Land als den Herden der vorwiegend festsitzenden und der vorwiegend fluthenden Bevölkerung für den Staatsmann praktisch wird. Man muß die neuen Städtegebilde in ihrer neu herauswachsenden Eigenart nehmen und darnach behandeln. Wir haben es hier mit einer eben im Entstehen begriffenen socialen Macht zu thun. Denn jene fluchende, nicht zerflossene, fluctuirende, nicht vagabundirende, Bevölkerung wird in den Städten in Kurzem eben so die Mehrheit bilden, wie auf dem Lande die stehende Bevölkerung.
Nun kann aber doch einer, der um seines Berufes willen etwa alle fünf bis zehn Jahre seinen Wohnort wechselt, nicht an jedem dieser Orte Bürger weiden. Er hilft sich also in der Regel dadurch, daß er an keinem derselben Bürger wird, sondern seinen Bürgerbrief da zu gewinnen sucht, wo er ihn am leichtesten und billigsten erhalten kann, d. h. entweder in seinem Geburtsorte oder in irgend einem andern Ort seiner engern Heimath, in welchem man gerade am wenigsten spröde ist mit Bürgeraufnahmen. So kommt es jetzt bei Tausenden achtbarer und bürgerlich gediegener Leute vor, daß sie den Ort niemals gesehen haben, in welchem sie sammt ihrer Familie heimathberechtigt sind! Sie stehen nirgends in einem Gemeindeleben. Mit ihrer Heimathgemeinde hängen sie nur insofern zusammen, als sie ihren Bürgerbrief bezahlt haben und alljährlich ihre Bürgerrechts-Rekognitionsgebühr hinübersenden, mit der Gemeinde, wo sie wohnen und wirthschaften, nur durch ihre Aufenthaltskarte. Der Verfasser dieses Buches war selber geraume Zeit Bürger in einer Gemeinde, mit welcher er nur durch die Verpflichtung in Verbindung stand, daselbst einen ledernen Feuereimer unterhalten zu lassen. Man schlage die Bevölkerungslisten derjenigen unserer größten Städte nach, in welchen vorwiegend eine moderne Betriebsamkeit herrscht, und man wird finden, daß die Zahl der dauernd dort wohnenden, aber nicht eingebürgerten Familien in erschreckender Weise anwächst. Es steht zu erwarten, daß in nicht ferner Zeit die Mehrzahl des großstädtischen Volkes faktisch gemeindelos sein werde. Die Fiction, im Besitz eines anderwärts ruhenden Bürgerrechts zu sein, vermag aber die heilsamen sittlichen, socialen und politischen Einflüsse des wirklichen Gemeindebürgerthums ebenso wenig zu ersetzen als ein Hungriger durch den Gedanken gesättigt wird, daß er jetzt an einem andern Ort allerdings würde essen können.
Aus dieser Klemme ist nur herauszukommen, indem man die Doppelnatur des socialen und politischen Wesens der Gemeinde praktisch schärfer hervortreten läßt. Social gehört der selbständige Mann, welcher in einer Gemeinde dauernd auf Aufenthaltskarte wohnt und wirthschaftet, unstreitig dieser Gemeinde an. Seine Existenz, sein Privatwohlstand verwächst mit dem Wohlstand dieser Gemeinde. Politisch gehört er der Gemeinde an, welche ihm den Bürgerbrief gegeben. Darum müßte überall unterschieden werden zwischen Ansässigen und Heimathberechtigten. Die Ansässigen bilden die sociale, die Heimathberechtigten die politische Gemeinde. Ansässig könnte und müßte werden, wer in einer zu bestimmenden Reihe von Jahren in einer Gemeinde seinen Wohnsitz und sein Berufsgeschäft gehabt hat. Alle Fragen des innern Gemeindehaushaltes sind dann auch Existenzfragen für ihn geworden und er hat das Recht und die Pflicht, in diesen Fragen als ein Bürger seine Stimme abzugeben. Er wäre Schutzbürger, nicht Vollbürger; Schutzbürger in einem höheren, modernen Sinn.
Der schöne, aber so vielfach mißverstandene und unpraktisch ausgedeutete Gedanke eines allgemeinen deutschen Heimathrechtes könnte durch das »sociale Gemeindebürgerthum« am ersten seiner Verwirklichung genähert werden. Denn Jeder könnte in einem deutschen Lande socialer Gemeindebürger seyn, in welchem er nicht Staatsbürger wäre. Es dämmert dieser Zustand bereits am Horizonte auf: er muß nur noch klares Licht und festen Umriß gewinnen. Unser ganzes sogenanntes »Permissionistenwesen« ist nichts als ein vorweggenommenes deutsches Heimathsrecht. Nur daß jetzt solchergestalt die Gesellschaft entfesselt, der Permissionist gemeindelos gemacht wird, während ich die vorhandene Thatsache der immer massenhafter fluctuirenden städtischen Bevölkerung zur socialen Reform der Gemeinde ausgebeutet wissen möchte.
Bei der Volkszählung, welche im Zollverein behufs der Vertheilung der Vereinseinnahmen vorgenommen wird, hält man bereits die Regel fest, die Köpfe der socialen Gemeinden und nicht der politischen zu zählen. Der Antheil für den preußischen Gemeindebürger, welcher in Bayern wohnt und wirthschaftet, fällt Bayern zu, nicht Preußen. Und zwar von Rechtswegen. Denn in der Summe der socialen Bürger stellt sich die ernährende und verzehrende Einwohnerschaft dar, nicht in der Summe der formell politischen Staatsbürger. Dagegen zählt bei allen politischen Fragen, bei allen Staatswahlhandlungen und dergleichen mit Fug und Recht nicht der sociale, sondern lediglich der politische Gemeindebürger.
Recht grell zeigt sich die jetzige ungenügende Bestimmung des Gemeindebürgerthums auch in einem andern Falle. Es gibt viele Fabrikherren, viele große Grundbesitzer, die in verschiedenen Gemeinden zugleich bedeutende Güter haben, ein einflußreiches Geschäft betreiben. Ja es kommt namentlich in kleinen Städten und auf dem Lande häufig vor, daß ihre Landwirthschaft, ihr industrieller Betrieb den Wohlstand und die sociale Gesundheit der ganzen Gemeinde bedingt. Nicht minder berührt dann aber auch umgekehrt die Führung des Gemeindehaushalts den geschäftlichen Erfolg solcher großen Besitzer aufs unmittelbarste. Sie können aber nur an Einem Orte politischer Gemeindebürger seyn. Das Gegentheil wäre in sich widersinnig. Allein jedenfalls nicht minder widersinnig ist es, daß sie in all den andern Orten, in welchen sie vielleicht thatsächlich die einflußreichste sociale Person sind, in welchen das Gesammtgedeihen der Gemeinde mit ihrem Privatgedeihen aufs engste verknüpft ist, auch nicht ein Wort mitzureden haben in den Angelegenheiten des innern Gemeindehaushalts! Kann Jemand nur an einem Ort politischer Gemeindebürger seyn, so ist damit doch gar nicht ausgeschlossen, daß er nicht an verschiedenen Orten zugleich socialer Gemeindebürger seyn könne. Das politische Gemeindebürgerthum muß ein einziges, ein ausschließliches bleiben, weil hier die Gemeinde als eine Stufe der örtlichen Gliederung des Staatsganzen erscheint, in welchem der Einzelne nirgends für zwei zählen kann. Das sociale Gemeindebürgerthum dagegen gründet sich nur auf die sociale Geltung, welche der Einzelne durch seinen Beruf an einem bestimmten Ort gewinnt, die er aber ebenso gut an mehreren Orten zugleich, wie an einem einzigen gewinnen kann, es verleiht nur die Pflicht und das Recht, zur Regelung der materiellen Wohlfahrt einer Gemeinde mitzuwirken, deren Glied man durch die Verflechtung der eigenen Privatwohlfahrt in ihren bürgerlichen Gesammtbestand geworden ist.
Die Anwendung auf den gedachten Fall mag sehr unpopulär erscheinen, da sie zumeist dazu führen würde, den öffentlichen Einfluß der großen Besitzer gegenüber den kleinen Leuten zu erhöhen. Sie schließt aber eine Forderung der Gerechtigkeit in sich, und was gerecht ist, kann des Schmuckes der Popularität entbehren. Diese doppelseitige, politische und sociale Natur der Gemeinde ist in mancherlei Punkten unserer Gemeindeordnungen thatsächlich bereits aus einander gehalten.
In Preußen, Bayern und anderwärts hat man zweierlei Magistratspersonen aufgestellt: bürgerliche und rechtskundige. Darin zeigt sich schon die Ahnung des Unterschiedes zwischen socialen und politischen Ortsbürgern. In manchen Städten sind die Permissionisten mit Familie, welche einen dauernden Aufenthalt in Berufsgeschäften genommen haben, von der Lösung einer Aufenthaltskarte entbunden. Hier hat also auch einmal die Polizei einen ganz guten politischen Gedanken gehabt, denn sie unterstellt offenbar, daß solche Permissionisten Ansässige, sociale Bürger seien.
Die Unschlüssigkeit früherer Theoretiker, ob sie die Lehre von der Gemeinde im Privatrecht oder im Staatsrecht abhandeln sollten, zeigt an, daß sie über das Doppelwesen der Gemeinde stolperten, ohne den eigentlichen Stein des Anstoßes zu merken, denn dieser war für sie die Lehre von der Gesellschaft, die sie nicht sahen, ob sie ihnen gleich vor den Füßen lag.
Stellt man die neueren deutschen Gemeindeordnungen neben einander, so gibt das eine merkwürdige Musterkarte von Definitionen der »Gemeinde,« des »Bürgerrechts« u. Die Einen heben mehr den socialen, die Andern mehr den politischen Inhalt der Gemeinde hervor. In der preußischen Städteordnung von 1808 ist das Bürgerrecht noch als die Befugniß erklärt, städtische Gewerbe zu treiben und bewohnte Grundstücke im städtischen Polizeibezirk der Stadt zu besitzen. Dahinter steckt eine veräußerlichte rein sociale Auffassung der Gemeinde. Im Gefühle dieser Einseitigkeit schlug man in der revidirten Städteordnung von 1831 zum schroffen Widerspiel um. Dort wird derjenige für einen Bürger erklärt, welcher das Recht gewonnen hat, an den öffentlichen Geschäften der Stadtgemeinde durch Abstimmung bei der Wahl Theil zu nehmen. Hier ist also die Gemeinde wieder als ein rein politisches Institut gefaßt. Im Geiste jener Zeit war dies ein wahrer Fortschritt. Uns ist nun noch übrig, fortzuschreiten zur Anerkennung beider Gegensätze neben einander und in einander.
Die meisten Gesetzgeber haben den Stadtgemeinden eine andere Verfassung zugesprochen, als den Landgemeinden. Diese Thatsache ist für den Social-Politiker wichtig genug. Denn nicht nur die einzelnen Gemeinden sind halbwegs socialer Natur, sondern die von der Natur gegebenen zwei Hauptgruppen der Gemeinden scheiden sich gerade nach ihrem socialen, nicht nach ihrem politischen Inhalt. Land- und Stadtgemeinden entsprechen dem Doppelzug in der bürgerlichen Gesellschaft, den Mächten »des socialen Beharrens« und der »socialen Bewegung.«
In den Großstädten, den Sitzen eines fluthenden Bürgerthums und des vierten Standes, hat jener Geist der Ausebnung sein Hauptquartier aufgeschlagen, welcher den Unterschied zwischen Stadt und Land ebenso gut für gefallen hält, wie den Unterschied der Stände. Den künstlichen, unächten Städten stellen sich in der Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft die unächten Stände zur Seite, und der Ursprung beider weist auf dieselben Zeitläufte zurück.
So zeigt es sich in dieser von der Natur gegebenen Unterscheidung der Stadt- und Landgemeinden recht deutlich, daß die Gemeinde ein Kleinbild nicht nur des Staates, sondern mehr noch der Gesellschaft ist, daß in ihr die Interessen beider am tiefsten in einander verwachsen sind. In der That, es ist gefährlich, Stadt und Land zu unterscheiden, denn wo ihr es thut, seyd ihr zur Hälfte schon den verfehmten Ideen von der natürlichen Gliederung der Gesellschaft verfallen! Wo in den Gemeindeordnungen Stadt- und Landgemeinden aus einander gehalten werden, da hat man auch schon einen Fuß auf den Pfad der socialen Politik gesetzt. Sehet euch für, dieser Pfad ist sehr abschüssig!
Im Mittelalter zeigen die Dorfordnungen weit buntere Vielgestalt und Eigenart, als die Gemeindeverfassungen der Städte. Das ist nichts Zufälliges. Auf dem Lande wuchert überhaupt die sociale Besonderheit am üppigsten, in der Stadt wird sie ausgeglichen. Auch in der Gemeinde ist hier der Gegensatz von Natur und Civilisation angedeutet. Während die preußische Städteordnung von 1808 die Verfassungen der Stadtgemeinden zusammenschmolz, blieben die landschaftlichen Eigenthümlichkeiten in den Dorfgemeinden großentheils fortbestehen. Die westphälischen Landgemeinden hatten bis in das helle 19. Jahrhundert hinein ihre mittelalterlichen erblichen Schultheißen, und hätte nicht Napoleon dieser seltsamen socialen Würde, in welcher eine Bauernaristokratie ihre Eigenherrlichkeit versinnbildete, ein Ende gemacht, so würde sie vielleicht heute noch in Kraft seyn. Gerade in unsern Tagen wird es wieder recht einleuchtend, wie schwer es ist, das Dorfgemeindewesen eines Staates wie Preußen unter einen Hut zu bringen. Jede Provinz, die ihre eigene sociale und politische Geschichte hat, besitzt auch ihre eigenen Voraussetzungen des Gemeindewesens.
Ich gedachte bereits im Eingange dieses Kapitels der zwiefachen ländlichen Siedelungen in Westphalen diesseit und jenseit der Lippe. In diesem Gegenbilde von Dorf- und Hofverfassung zeigt sich die Doppelart des socialen und politischen Gemeindebürgerthums bereits seit Jahrhunderten mit wunderbarer Klarheit vorgebildet. Nördlich der Lippe bildet der »Hof« für sich die sociale Gemeinde, eine Gruppe von benachbarten Höfen dagegen schließt sich zusammen zur politischen und kirchlichen Gemeinde. Diese Gemeinde ist nur ein geographischer Bezirk, der einen Verband zu polizeilichen, kirchlichen u. Zwecken in sich begreift; Gemeindeeigenthum, Gemeindehaushalt gibt es aber in diesem Bezirke nicht; was etwa dahin gehörte, fällt den einzelnen Gehöften, den socialen Gemeinden, zu. Ganz anders ist es dagegen auf dem südlichen Lippeufer, im Lande der Dorfverfassung. Hier ist die sociale Grundlage der Gemeinde fast bis zum socialistischen Extrem ausgebildet und in die politische Form verschmolzen. Es ist dies jener uralte Socialismus der deutsch-suevischen Dorfverfassung, wie ihn Julius Cäsar geschildert und der sich durch fast zwei Jahrtausende lebendig erhalten hat. Sämmtliche Aecker, Wiesen, Gärten, Weiden, Waldungen des Dorfes bilden ein geschlossenes Ganze, die Dorfmark. Die Einwohner besitzen dieses Ganze nur als eine sociale Körperschaft, ihre Antheile daran sind gleich Aktien nutznießlicher Art. Nur dieses sociale Verhältniß hat man dort ursprünglich die »Gemeinde« geheißen, und dabei von dem politischen Verband der Eingesessenen zu polizeilichen, gerichtlichen, kirchlichen Zwecken ganz abgesehen, wählend man umgekehrt im Lande der Hofverfassung nur den politischen und kirchlichen Verband die Gemeinde schlechtweg nennt.
Aehnliche und noch viel weiter verzweigte Gliederungen des Gemeindelebens in der Gemeinde haben sich, in alten Städten erhalten. So gab es in Erfurt bis auf diesen Tag innerhalb des großen Ganzen der Stadtgemeinde eine Reihe kleinerer Kreise, sogenannte »Specialgemeinden.« Es waren ursprünglich kirchliche Gemeinden gewesen, später aber wurden es politische Gemeinden innerhalb der Sammtgemeinde, welche ihre eigenen Hauptleute besaßen, von denen der eine jährlich gewählt wurde, der andere fest im Amte blieb, daher man ihn den »eisernen Hauptmann« nannte. Von diesem dem mittelalterigen Drang des Sonderns und Gliederns entsprechenden Institut kleinerer Gemeinden in der Gemeinde finden sich auch in Köln, Augsburg, Frankfurt und anderen Städten noch Trümmer, bei denen gleichfalls der Pfarrsprengel allmählig in einen politischen oder socialen Kreis umgewandelt worden war. In Rostock hat man erst neuerdings die alte sociale Vertretung durch »Quartiere,« in welchen die Zünfte und die Kaufmannschaft begriffen sind, wieder aufgefrischt. Bei dieser Gelegenheit kam es aber zu mancherlei Streit und Widerspruch, die Polizei wollte das letzte Wort reden, und die Stadt, welche ohnedieß dazumal als der Herd der mecklenburgischen Demokratie verschrieen war, zog sich die besondere Ungnade des Fürsten zu. Um nun diese Mißstimmung des Großherzogs gegen die Stadt zu beseitigen, faßten die Quartiere im Einverständniß mit dem Rathe einen Beschluß, auf »Wiederannäherung« an den Landesherrn. Dieser wunderliche Ausdruck ist höchst bezeichnend für die ganze Stellung Rostocks, welches sich halb als mecklenburgische Stadt, halb als freie Hansestadt weiß, einer Stadt, deren Selbstverwaltung an kein Oberaufsichtsrecht des Staates gebunden ist, ja welche den Landesgesetzen erst durch eigene Publication in Stadt und Gebiet Gültigkeit verschaffen muß. Da läßt sich ja wohl auch noch ein Beschluß der »Wiederannäherung« an den Großherzog fassen.
Bei dieser Gelegenheit mochten wir darauf aufmerksam machen, daß die Trümmer und Träume des alten Städtelebens, in der Form, wie sie namentlich in den ehemaligen Reichsstädten jetzt noch leben und weben und von neuer Sitte durchwachsen sind, bei weitem nicht mit dem Fleiß aufgezeichnet und beglaubigt werden, wie wir es von den alten Sittentrümmern des bäuerlichen Volkslebens seit Jahren selbst in der Tagespresse gewohnt sind. Es fordert ersteres freilich ein mühseliges Forschen und Beobachtungen, welche nicht bei kurzem Aufenthalt, sondern nur bei längerem Einleben in einer einzelnen Stadt gewonnen werden können. Aber das Beginnen ist auch dankbar, es fördert überraschend neue zeitgeschichtliche Stoffe zu Tage und liefert neue Beweisstücke für das tiefangelegte Sonderthum, welches immer noch durch das deutsche Städtewesen geht.
Bei der Erkenntniß dieser Mannichfaltigkeit eigenster Gebilde im Kreis der Städte selber wird dann der Gedanke gar nicht aufkommen können, als habe nun vollends der Unterschied von Stadt- und Landgemeinden in der Gegenwart sich bereits glatt und platt ausgeglichen.
Es werden allerdings in vielen, den großen Städten benachbarten Dörfern jetzt bürgerliche Gewerbe betrieben. Aber auch nur das ächte Stadtkind, dessen Blick nicht über den Umkreis hinausreicht, den man von seinem städtischen Pfarrthurm aus beherrschen kann, wird sich der Täuschung hingeben, als seyen alle Landgemeinden gleich dieser Vorpostenkette von halbstädtischen Dörfern. Siedelt der großstädtische kleine Handwerksmann jetzt häufig in die naheliegenden Dörfer über, dann ziehen sich die Bauern auch ebenso stark aus Städten heraus, in denen sie vor fünfzig bis hundert Jahren noch einen starken Theil der Insassen bildeten. Noch im Anfang dieses Jahrhunderts gab es in Deutschland eine Masse ächter »Bauernstädte.« Es waren Städte mit Thoren und Wall und Graben und städtischen Vorrechten, wohl gar Residenzen und Hauptstädte. Und doch verspottete man sie mit Recht mit dem Spruch: »wenn alle Bauern aus der Stadt in's Feld gegangen sind, dann ist kein Bürger mehr zu Hause.« Diese Städte sind fast alle entweder zu wirklichen Sitzen des Bürgerthums umgewandelt, oder sie sind thatsächlich, das heißt social Dörfer geworden, die nur noch den nichtssagenden politischen Titel einer Stadt führen. Dieser Umwandlungsproceß wird sich in wenigen Menschenaltern vollendet haben. Die deutschen Staatenkörper müssen über kurz oder lang aus vielen kleinen zu wenigen großen zusammenwachsen. Aber jeder Schritt dieser Centralisation löst eine Reihe von kleinen zwitterhaften Landstädten auf und gibt ihnen den reinen Dorfcharakter wieder. Nur die Kleinstaaterei kann dauernd den Unterschied von Stadt- und Landgemeinden verwischen. Ihr aber steuert unsere Zukunft nicht entgegen.
Man hat für einzelne deutsche Länder durch Zahlen nachgewiesen, daß das Handwerk in seinen bedeutendsten Zweigen (Schmiede, Schneider, Schreiner, Zimmerleute, Maurer u.) ebenso stark oder nur um ein geringes schwächer auf dem Lande als in der Stadt vertreten sey. Dieser Nachweis hat aber für die sociale Scheidung von Stadt und Land nur halben Werth. Die socialen Gruppen gliedern sich nicht schlechtweg nach der Arbeit, sondern nach der aus der Arbeit aufkeimenden, in der Sitte geschiedenen Lebensart. Der Schmied und Schuster und Schneider auf dem ächten Bauerndorf (und hierher zählt immer noch die ungeheure Mehrzahl unserer Dörfer) ist und bleibt eben ein gewerbtreibender Bauer, dessen Hauptgeschäft in der Regel der Ackerbau, dessen Nebengeschäft das Handwerk ist und der sich in Sitte und Lebensart, ja sogar auch Geschäftsbetrieb auf's entschiedenste vom städtischen Handwerker unterscheidet. Es ist sogar die Zahl der auf dem Lande wohnenden »Musikanten« vielfach größer als die der städtischen. Es sind dann nämlich alle Dorfmusikanten, die am Werktag pflügen und am Sonntag geigen, unter diese Ziffer begriffen. Es wird aber Niemand daraus folgern wollen, daß sich die Kunst jetzt vorwiegend auf das Land gezogen habe und die Musik zumeist in den Bauerndörfern blühe. Vielmehr ist der einzig richtige Schluß aus solchen Ziffern, daß eine lediglich aus den Gesichtspunkten der Gewerbesteuer aufgestellte Bevölkerungsstatistik für die sociale Statistik durchaus ungenügend ist. Der Geschäftsberuf und der gesellschaftliche Stand ist keineswegs ein und dasselbe.
Es ist auch eine ganz unbegründete Annahme, als sey der beiläufige Gewerbebetrieb beim Bauernvolke früher nicht vorhanden gewesen und ein ganz neues Wahrzeichen der angeblichen Verschmelzung von Stadt und Land. Dörfer, wo der Pflug das einzige Werkzeug ist, welches die Insassen zu handhaben verstehn, waren vordem so selten als jetzt. Die Bauern vor hundert Jahren haben ihre Pferde ebenso wenig von städtischen Schmieden beschlagen, ihre Wagen von städtischen Wagnern bauen, ihre Häuser von städtischen Meistern zimmern lassen, als die heutigen. Im Gegentheil haben sie damals eine Menge derartiger Geschäfte selber besorgt, die sie heute in der Stadt besorgen lassen, und man kann in diesem Sinne sagen: es gibt jetzt mehr reine Bauern als früher. Es fiel aber auch damals Niemanden ein, den Dorfschmied für einen Handwerker zu nehmen und den Dorfmusikanten für einen Künstler, sondern man nahm beide für das, was sie sind, in ihrer ganzen socialen Natur, für Bauern. Hier zeigt es sich wiederum recht klar, daß wir bei der von allen Parteien gesuchten neuen Gruppirung der bürgerlichen Gesellschaft durchaus zu keinem folgerecht durchzuführenden Eintheilungsgrunde kommen, wenn wir äußerlich bloß von den geschäftlichen Berufen ausgehen, statt von dem in Geschäft, Sitte und Lebensart gleichmäßig gewurzelten socialen Beruf, der eben bei dem handwerkenden Bauern ein ganz anderer ist als bei den bürgerlichen Gewerbtreibenden.
Vordem hat der Kaiser durch seine Privilegien die Städte gemacht, jetzt macht die Eisenbahn die Städte. Mauern und Thore, auch wenn sie nur ein Dutzend Bauernhütten beschlossen, bildeten sonst das äußere Wahrzeichen der Stadt. In Zukunft wird man die Stadt an dem innern Wahrzeichen von Beruf und Sitte ihrer Einwohner erkennen. An die Stelle der oft willkürlichen politischen Scheidung von Stadt- und Landgemeinde tritt mehr und mehr die nothwendige sociale. Bei dieser Uebergangsbildung, in welcher wir uns gegenwärtig befinden, mag es dann freilich für manches befangene Auge den Anschein gewinnen, als werde der Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinde überhaupt verwischt. Nur die alte willkürliche äußerliche Gränzlinie ist es, die verwischt wird. In den Dörfern wird das sociale und politische Gemeindebürgerrecht in einander aufgehen, sich decken, denn dort wohnt die beharrende Bevölkerung; in den Städten werden beide Arten des Bürgerrechts auseinandergehen, denn hier wird das bewegende und bewegte Element im Bürgerstande immer mehr Raum gewinnen.
Abseiten der großen Verkehrswege werden die Dörfer und Landstädte immer dorfmäßiger werden, während die großen Städte in riesigem Maßstabe anwachsend, immer großstädtischer sich gestalten. Dadurch muß sich ein so schroffer Gegensatz von Stadt- und Landgemeinden herausbilden, wie man ihn vordem gar nicht geahnt hat, wie man ihn jetzt noch nicht kennt.
Die zwei scheinbar geringfügigen Thatsachen, daß es bei jedem Schritt, den die moderne Gesittung vorwärts thut, auch immer tieferes Bedürfniß wird, der fluthenden, zeitweilig seßhaften und doch gemeindelosen Stadtbevölkerung eine neue Möglichkeit des Gemeindelebens zu schaffen, und aufzuräumen in dem babylonischen Wirrsal, das gegenwärtig in der Definition von Stadt- und Landgemeinden herrscht: diese einfachen Thatsachen sind an sich schon mächtig genug, die gründlichste Reform unserer ganzen bürgerlichen Ordnung zu erzwingen. Durch die Gemeinde führt der Weg zur socialen Politik.
Im kleinen ist durch jene zwei Thatsachen ganz dasselbe Streben vorgesteckt, von dessen Erfüllung im großen man die Reform der ganzen Gesellschaft weissagt: die social heimathlos gewordenen Glieder der Gemeinde wie der Gesellschaft sollen unter einer neuen beweglicheren Form wieder eingebürgert und seßhaft gemacht, die in der jetzigen Uebergangsphase äußerlich verwischten Gruppenbildungen der Gemeinde wie der Gesellschaft mit neuen festen Linien umrissen werden.
Die Dorfgemeinde entspricht dem Bauernthum, die Stadtgemeinde dem Bürgerthum. Die Thatsache dieser beiden Stände wird darum auch am wenigsten angefochten, weil beide in der Gemeinde bereits eine örtliche Unterlage ihres socialen Bestandes sich gegründet haben.
Ein der Gruppe der Aristokratie entsprechendes Gebilde der Gemeinde würde erst dadurch möglich werden, daß dieser Stand sich der wirthschaftlichen Basis seines socialen Berufes als Inhaber des geschlossenen großen Grundbesitzes wieder tiefer und allgemein bewußt würde. Das Sträuben des Landadels, sich dem politischen Organismus der Dorfgemeinde unterzuordnen und der Gewalt des Schulzen zu fügen, beruht vielfach auf einer gänzlichen Verkennung von Wesen und Würde der modernen Gemeinde. Bei Vielen wird aber auch diesem Sträuben das ganz richtige Gefühl zu Grunde liegen, daß der große Grundbesitzer in der Dorfgemeinde, in deren Banne er zufällig wohnt, seine sociale Heimath durchaus nicht finden kann. Früher dachte man wohl, daß das Rittergut an und für sich eine Gemeinde darstelle, und der Ritter war Schultheiß, Magistrat und Gemeinde in Einer Person. Eine solche Fiktion würde jetzt Vielen sehr barock erscheinen. Allein in einem nicht bloß politisch, sondern auch social wohl ausgebauten Staate wird es wenigstens nicht ungereimt seyn, die Genossenschaft der großen Grundbesitzer eines ganzen Gaues als eine sociale Sammtgemeinde zu fassen. Ob diese Rittergutsbesitzer dann auch allesammt Ritter seyen, wäre hierbei völlig gleichgültig. Denn obgleich die Gemeindegruppen im Allgemeinen den Gesellschaftsgruppen entsprechen, fallen sie doch keineswegs vollständig mit diesen zusammen, wie die Stadt immer der Sitz des Bürgerthums bleiben wird, wenn auch neben der bürgerlichen Mehrheit noch Adelige, Bauern und Proletarier in Masse wohnen.
Das deutsche Gemeindewesen duldet durchaus keine Gleichmacherei, in socialer Hinsicht so wenig als in politischer. So gewiß das Streben jedes deutschen Patrioten auf eine nach außen geschlossene staats- und völkerrechtliche Einigung des großen Vaterlandes gerichtet ist, so gewiß würde es eine Sünde gegen den Geist der deutschen Nation seyn, wollte man das Gemeindewesen, wollte man die gesellschaftsbürgerliche Ordnung der einzelnen Länder und Landschaften über Einen Kamm scheeren. Die Uniformirung des Gemeindewesens läuft jenem germanischen Freiheitssinn geradezu wider die Natur, der da will, daß man ihn bei seinen persönlichen, häuslichen Angelegenheiten in persönlicher Eigenart ungestört sich entfalten lasse. Die deutschen Gemeinden bestehen aus einer bunten Reihe moralischer Personen, die aber wirklich ein persönliches Gepräge tragen, die Charaktere sind, häufig Karikaturen, aber doch immer persönlich charaktervolle Karikaturen, nicht todte politische Rubriken. Selbst der kirchlichen Gemeinde gibt der deutsche Protestantismus Raum zur absonderlichsten Vielgestalt. Es ist nicht zufällig, sondern wesentlich deutsch, daß in Deutschland fast bei jeder protestantischen Kirchengemeinde ein eigenes mündlich fortgepflanztes Gemeindeherkommen gilt. Der romanische Geist dagegen centralisirt das Gemeindewesen. Er hat auch die Kirchengemeinden des katholischen Deutschlands gleichheitlich zusammengeschweißt und jene Fülle örtlich abgestufter kirchlicher Sitte, die im protestantischen Lande wuchert, nirgends aufkommen lassen.