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3.

Illo Eulenried lag längelang ausgestreckt am Waldrande und sang mit den Vögeln um die Wette. Seit langer Zeit war ihm nicht so leicht und froh ums Herz gewesen. Rings umher jubelte und sang es in den warmen Frühling hinein. Und immer mehr Vögel flogen herzu, als wüßten sie, daß hier ein echter Musikant lag, dem ein Wettsingen und -pfeifen mit der Vogelwelt das Allerbeste dünkte. Jetzt zog Illo eine Flöte aus dem Felleisen, ein wahres Meisterstück aus Elfenbein, mit silbernen Klappen und einem Mundstück aus wunderfeiner Mosaik. Illo betrachtete seinen Schatz glücklich. Dann stand er auf und zog seinen Wanderrock glatt. Seine leuchtenden, herrischen Augen auf den hohen, umwaldeten Berg gerichtet, stimmte er sein Morgenlied an. »Ein feste Burg ist unser Gott!«

Was sollte ihm wohl sonst in den Sinn kommen, da die Wartburg vor ihm lag. Illo ließ keine Strophe des gewaltigen Liedes aus.

»Nehmen sie uns den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib,
Laß fahren dahin,
Sie haben's kein Gewinn,
Das Reich muß uns doch bleiben. –«

»Ja freilich, freilich. Das Reich bleibt uns allerwegen, und das ist die Hauptsache.«

Eine unendlich feine, kleine Stimme sagte die Worte, und es dünkte Illo wie ein Märchen, als ein graues Männlein aus dem Dickicht trat und ihm die zierliche Hand hinstreckte. Es war kein ungestalter Zwerg, aber wohl zwei Köpfe kleiner als der hochgewachsene Illo.

»Das nenn' ich eine Andacht!« bemerkte das Männlein wohlgefällig. »So kann kein Pfarrer predigen, wie du auf deiner Flöte. Bist du ein Musikant und suchst Anstellung im Kirchenchor zu Eisenach? Oder ein feines Herrlein, das sich zum Sonntag ein bißchen die Füße ausruht, weil es am Samstag zuviel getanzt hat?«

»Keins von beiden, Herr Magister. Denn das sind Sie doch wohl? Sehen so pünktlich aus.«

»Was für ein kecker Bursch! Ohne Respekt vor meinen siebzig Jahren. Man muß ›du‹ zu dir sagen, damit man dich beuteln kann.«

Illo lachte. »Zum Beuteln bin ich wohl zu alt. Zwoundzwanzig vorbei. Und Ihnen, Herr Magister, sieht man die Siebzig nicht an.«

»Fort mit dem Magister. Bin's nicht – Gott Lob und Dank! Zum Stubenhocken taug ich wohl, aber nicht zum Bubenversohlen.«

»Und wollten mich doch gleich beuteln«, lachte Illo.

»Herr du meines Lebens, was für ein kostbares Lachen du an dir hast! Das möcht man gleich in ein Ührlein einfangen als Schlag und Hall.«

Illo stutzte. »Verstehen Sie sich auf Uhren Herr?« Und wieder lachte er klingend. »Da hätt' ich ja am Wegrand gefunden, was ich seit Tagen suche und bis ans Weltende weitersuchen wollte – einen Meister.«

»Der Tausend! Auf der Walze bist du? Könntest gut und gern für einen Studenten gelten. Keck wie eine Made im Speck.«

»Aber nicht so fett, Meister. Ich schnalle mir jeden Tag den Gürtel um ein Loch enger. Sehen Sie, mein Felleisen an, – leer gebrannt ist die Stätte ...«

»Ich nehme dich mit. Kannst die überschlagenen Löcher im Gürtel bei mir wieder ausfüllen. Zum Dank flötest' mir allweil was vor. Scheinst mir über das Bohnenlied musikalisch zu sein, du Lachtäuberich. Und die heilige Cäcilie stand auch bei allen Distelfinks Gevatter, wenn wir auch nur Uhrmacher waren.«

Laut vor Entzücken schrie Illo auf. Und jodelte, daß es durchs Waldtal klang und widerhallte von den Bergen. Er schüttelte dem Männlein die Hand, daß es taumelte.

»Uhrmachermeister Distelfink heißen Sie? Herrgott, sagen Sie's noch einmal! Ich glaub's nicht, ich glaub's nicht! Da! da!«

Illo war wie irre vor Freude, Staunen und Entzücken. Und wie unklug kramte und zerrte er an seinem Felleisen, holte mit bebenden Händen das große Lederfutteral heraus und benahm sich so sonderbar, daß es das Männlein schier mit der Angst bekam.

»Musikanten sollen manchmal von heiler Haut einen Raptus bekommen«, sagte es laut. –

»Ja, – und den werden Sie auch bekommen, Meister, wenn ich Ihnen mein Mitbringsel zeige. Da! da! Was hab' ich da?«

Mit weit aufgerissenen Äuglein starrte Meister Distelfink auf die Bronzeuhr in Illos Händen. Und entriß sie ihm mit einem Jubelschrei, der dem von Illo in nichts nachgab.

Er öffnete fast feierlich die Tür der Uhr, – holte eine zierliche Lupe aus seiner Rocktasche und untersuchte mit stark zitternden Händen den Boden der Uhr.

»Nimm deine Flöte, Bursch«, sagte er mit hellen Tränen in den Augen, »und stimme an: ›Herrgott, dich loben wir!‹ Es ist die Bronzene! Es ist das Meisterwerk meines Großvaters Eustachius Distelfink ! Wie heißest du, Bursch, woher kommst du, daß du solch Wertstück dein Eigen nennst? Aber erst, Herrgott, dich loben wir!«

Illo meisterte die Flöte, das Männlein sang mit einem gut geschulten Bariton, dem man gleichfalls kein Alter anmerkte. Wundergut klang der Choral durch die Sonntagsstille des Thüringer Waldes. Illo ließ die Flöte sinken. Auch er war tief ergriffen.

»Ich heiße Illo Eulenried aus Ilmenbach.«

»Soso! Es ist schön, daß du den Baron unterschlägst, aber deine Kunst und das, was du mit dir trägst, macht dich zum rechten Freiherrn.«

Illo lachte glücklich. Die Vergangenheit einer Laufbahn, die ihn unfroh und unfrei gemacht hatte, versank völlig, er sah in eine helle Zukunft hinein, und das graue Männlein führte ihn zu einem geheimnisvollen, mit Thüringer Edeltannen bestandenen Berg: »Sesam öffne dich!«

Sie waren tapfer ausgeschritten. Meister Distelfink machte dreimal soviel Schritte, wie sein junger, stattlicher Gefährte, und zuletzt hing er sich in seinen Arm: »Sachte, sachte, du Stürmer! Wenn du in Eisenach singen willst, darfst du nicht vorher die Puste verlieren.«

Der »Berg« Sesam war ein stattliches, zweistöckiges Haus, es überragte alle anderen Häuser in der stillen, schmalen Gasse, und als Meister Distelfink die alte geschnitzte Tür aufklinkte, war ein richtiges Glockenspiel im Gange:

»Geh aus, mein Herz und suche Freud
In dieser schönen Frühlingszeit.«

Wahrlich, Illo hatte sie gefunden. – –

Sie traten in eine Halle, die man nimmer vermutet hatte in diesem Hause und dieser Gasse, wenn auch das Gebäude sich preislicher präsentierte als die anderen Häuser. In der Halle stand schöner Urväterhausrat, große, für alle Ewigkeit gezimmerte Truhen, eine kostbare Riesenbank mit hochwertigen Schnitzereien, von Meisterhand gefertigt. Und immer kehrte der Distelstrauch wieder, darin ein Fink sang. Eine einzige mächtige Standuhr nahm eine ganze Ecke ein. Auf dem großen Zifferblatt war das Firmament gemalt. Kunstvoll waren die Zeiger, und durch die offenstehende bauchige Tür sah man das Riesenpendel.

Illo trat näher und las laut:

»Hebt die Uhren zu schlagen ahn,
Sohl auch dein Herze richtig gahn.«

In diesem Augenblick »hub« die Uhr wirklich an, und der Hausherr fing beinahe den Gast in seinen kleinen Armen auf, torkelte selbst dabei, und beide sanken in zwei gewaltige Ohrenstühle. Wie eine Turmuhr dröhnte das Werk, die Luft zitterte vor dem Hall und Schall. Das Männlein lachte. Schier wie ein Urenkelkind von der gewaltigen Uhr lachte der Greis, – und das war er auch. Der Meister stellte lachend vor: »Diese Uhr ist das Gesellenstück meines Urgroßvaters. Der Mann maß zwei Meter und drei Zentimeter. Da mußte die Uhr wohl so groß werden. Aber seine menschlichen Nachkommen gerieten immer kleiner, und ich bin gar ein Zwerg. Ist dieser Umstand aber nicht maßgeblich für das Gehirn. Klingt das überheblich? Ich mein alleweil, man muß wissen, was man vorstellt und was man ist und leistet. Früher, da hießen die Distelfinks: ›Schlagetots‹. Jetzt heißt man mich: ›Das graue Zwerglein‹. Tempora mutantur et nos mutamur in illis.«

In diesem Augenblick ertönte ein so erschrecklicher Lärm irgendwoher, ein Krachen und Splittern von Holz und Glas, daß Illo glaubte, wirklich in einem Spukhause zu sein. Aber Meister Distelfink sagte gelassen: »Es ist nur das Englein, das tut immer so wüst.«

Illo entsann sich nicht, je von einem »wüsten Englein« gehört zu haben, und der Meister meinte geruhig: »Du wirst dich bald an den Radau gewöhnt haben, den Uhr und Englein vollführen.« Damit schloß er die Uhrtür. »Ja, die soll eigentlich nur beim Aufziehen des Werkes geöffnet sein, aber hier ist ein Fürwitz zugange, ein Heinzelmännchen, mit dem es sich aber nicht so bequem leben läßt, wie mit den Heinzelmännchen ehedem in Köln am Rhein. – Und nun komm mit. Ich will dir gleich die Werkstatt zeigen, auch deine Kammer, die darüberliegt.«

Sie schritten durch hallende Gänge, an geheimnisvollen, verschlossenen Türen vorbei, die alle dasselbe bräunliche Schnitzwert zeigten. Das ganze Gebäude war wie ein schönes Museum, und Illos Künstlerherz schlug höher. Das Haus besaß eine unerwartete Tiefe und erstreckte sich bis zu einem alten Garten mit hohen, herrlich gerundeten Kastanienbäumen, deren rote und weiße Kerzen Illos neuen Weg zu beleuchten schienen. Ihm fiel ein alter Kindervers ein:

»Ich will dir was erzählen
Von der Muhme Rählen.
Muhme Rählen hat 'n Haus.
Hier ein Haus und da ein Haus,
Und es war ein rundes Haus.«

Muhme Rählen hatte auch noch einen Garten, und das war ein runder Garten, und Bäume, die runde Bäume waren. Ja, das stimmte alles. Wie ein rechtes Märchen mutete alles an. In einem kleinen, runden Haus, schier wie ein Tempel anzusehen, befand sich die Werkstatt, und die runden Kastanienbäume beschatteten sie. Illo hielt den Atem an. So feierlich war ihm zumute, wie als Knabe am Heiligen Abend, wenn er in die Weihnachtsstube treten durfte.

Der Meister sah seine tiefe Bewegung, als er die Tür öffnete und Illo voranschreiten ließ. Denn noch war er ja nicht sein Lehrling. Aber Illo griff nach der Hand des alten Herrn, und so gingen sie gemeinsam durch die schmale Tür, an welcher wieder ein Glockenspiel ertönte:

»Üb immer Treu und Redlichkeit.«

Wie laut die Uhren tickten! So laut wie die Herzen im Märchen vom »kalten Herzen«. Illo stolperte über die Schwelle.

»Nur aufgewacht, junges Blut!« ermunterte der Alte, der sich zutiefst freute über Illos Befangenheit. So und gar nicht anders mußte ein Mensch in eine Uhrmacherwerkstatt treten, wenn er Ehrfurcht vor dem Handwerk hatte.

»Du bist ja beinahe beswiemelt«, lachte das graue Männlein. »So ist's recht. Dafür bekommst du jetzt einen ›Gottessegen‹.«

Das war ein Wein, den holte der Alte aus einer Vertiefung des Stubenbodens. Es war wie eine große Schatulle, und es schien noch mehr Gottessegen darin zu lagern. Auch zwei geschliffene alte Gläser barg eine Uhr in ihrem Innern, und wie Öl floß der schwere Wein in die Gläser. »Stoß an! Handwerk soll leben!«

Illo tat Bescheid.

»Morgen wirst du mir den Uhrmacherspruch sagen. Das Englein wird ihn dich lehren. Paß auf, daß du guten Merks hast, sonst gibt's einen Katzenkopf. – Damit ist es nicht sparsam.«

In diesem Augenblick huben alle Uhren an zu schlagen. Die zwölfte Mittagsstunde. Es war ein Lärm, nicht zu sagen. Am meisten tat sich eine Kuckucksuhr hervor, und der Meister lachte dem Tierchen zu, das da vor dem Zifferblatt im offenen Türchen tanzte und wippte.

»Das war einmal mein Gesellenstück«, sagte er mit hellen Augen, aber jetzt ist es entzwei, und der Unhold überschreit mir all meine schönen Uhren.«

Illo bewunderte das schöne Stück. Das Türchen blieb aber offen, und der kleine Vogel wippte stumm weiter.

»Komm! Es ist Essenszeit«, mahnte der Alte. »Es wäre wohl nicht statthaft, wenn ein Uhrmacher unpünktlich zu Tische käme, und das Englein hebt an zu wettern.«

Von diesem Augenblicke an, am 19. Mai mittags 12 Uhr, begann in Illos jungem Herzen ein hohes Interesse für das seltsame Englein, das hier das Regiment zu führen schien. Und er wäre brennend gern zu spät gekommen, um es wettern, rumoren, am Ende gar fluchen zu hören. Aber das Eßstübchen lag gleich neben der Werkstatt, und als man eintrat, zeigte eine besonders wertvolle große Uhr, die an der Wand hing, daß es gerade 4 Minuten nach 12 Uhr war. An den Wänden hing kein Bild weiter, um das wunderbare Kabinettstück nicht zu beeinträchtigen. Aber an der Uhr selbst befand sich eine feine Miniatur, die stellte einen Herrn im blauen Frack mit Perücke und Zopf vor. Es war der Begründer der ganzen Uhrmacherdynastie Distelfink, und diese Uhr sein Meisterstück. Um das Zifferblatt schlangen sich geschnörkelte Buchstaben:

»Ich bin ein echter Distelfink,
Singe und schlage flink«

Illo konnte sich gar nicht sattsehen. Ja, hier war gut sein, hier wollte er der rechte Mann am rechten Ort werden.

Die Tür zur Küche öffnete sich, eine kleine, schön geformte, aber, wie es schien, arbeitsgewohnte Hand hielt sie offen für eine ältere Person, die, nach der Kleidung zu urteilen, wohl keine Magd vorstellte. Ihr folgte ein schönes Mädchen mit braunen, um den feinen Kopf geschlungenen Zöpfen und trotzigen blauen Augen. Eine Falte stand zwischen den dunklen Brauen, und es sah den Fremden schier böse an.

»Meine Base ...«, sagte Meister Distelfink, und wollte wohl den Namen hinzusetzen, aber das junge Thüringer Kind rief spöttisch: »Konkordia soll ihr Name sein. Zur Eintracht, zum herzinnigen Vereine versammle sie die liebende Gemeine.«

»Hat's wieder was gegeben?« fragte der Meister lachend.

»Also Base Konkordia und ...«

»Das Englein«, rief Illo keck. –

Die Augen des Mädchens funkelten fast schwarz. Aber ehe es »wüst« tun konnte, sprach Meister Distelfink das Tischgebet:

»Herr schütz Stuben und Dach,
Und laß uns halten hoch und wert
Unseres Hauses heiligen Herd.«

Die Base Konkordia füllte die Suppe auf. Meister Distelfink löffelte sie sogleich etwas geräuschvoll hinunter, aber Illo wartete höflich, bis die Frauen mitessen konnten. Das wurde von der Base mit einem dankenden Nicken quittiert. Angelas schönes Gesichtchen sah gleichgültig drein.

»Nun ist mir aber noch nicht gesagt worden, wer der feine Gast ist?« fragte die Base.

Der Meister nahm noch den letzten Löffel voll zu sich.

»E ja, das hätt' ich balde vergessen.«

Illo sah ihn heischend an, und der Alte verstand es sofort.

»Der heißt Illo Eulenried und will mein Lehrling sein.«

Rasch warf Angela hin: »Hat er den Spruch schon gesagt?«

»Nein, er kommt aus anderem Beruf und kennt ihn nicht, aber du wirst ihm Lehrmeister sein.«

»Also hör zu«, rief sie spitzbübisch:

»Mit Verlaub! Hier kommt ein Geselle von weit weg,
Setzt sich zu Tisch und ist gleich – keck.«

Die Base lief ärgerlich hinaus, um die anderen Schüsseln zu holen; der Meister sah ernst vor sich hin, und Illo sagte sehr höflich: »Ich dachte, hier würden nur Uhren gemacht, und nun schmiedet man Verse? Und was für welche!«

Angela wurde rot. »Wenn sie dir nicht gefallen, mach dir selbst welche.«

»Nein, das kann ich leider nicht in ›solcher‹ Güte. Aber will als Antwort einen alten Schludervers von einem Kritiker zitieren: »In Weimar und in Jena macht man Hexameter, wie die da, aber die Pentameter sind noch viel schlechtererer.«

Laut auf lachte Meister Distelfink. Er trank sein Gläschen Rotwein dem Illo zu und bis auf die Neige leer. »Englein, der da, der Illo, hält dir Halbpart, – der entlastet mich und die Base. Das freut meine Seel.«

Als die Base hereinkam und den Meister lachen sah, schnitt sie desgleichen vergnügt das Fleisch zurecht und gab dem neuen Gast das beste Stück. Er gefiel ihr über die Maßen und erinnerte sie an ihren verstorbenen Schatz. Die hellen Tränen traten ihr in die Augen, aber sie behauptete, das sei vom Meerrettich, der zum Rindfleisch gehöre.

»Ja, der Meerrettich gehört zum Rindfleisch«, zwitscherte das Englein, aber nicht der Name Illo zu einem Uhrmachergesellen, der gehört einem Ritter. Von welchem hast du ihn gestohlen?«

»Englein!« mahnte der Meister, aber Illo antwortete geruhig:

»Von meinem Ururahnen, Urgroßvater, Großvater und Vater. Und nun kann ich ihn nicht wieder los werden, er ist angewachsen.«

»Aber er sitzt nicht, schlägt Falten«, trotzte das Mädchen.

Man aß nun schweigend weiter, dann hob die Base die Tafel auf, Meister Distelfink gähnte herzhaft und ging dann in seine Werkstatt, um auf dem Kanapee ein wenig zu nicken. Illo ging zur Base und wünschte ihr höflich eine gesegnete Mahlzeit, und sie dankte mit einem kleinen altmodischen Knix, bedeutete ihm auch, daß er zwei Stunden Zeit habe, sich Haus und Garten und seine eigene Kammer anzusehen, womöglich gar etwas die Stadt. Gleich nach dem »Abwasch« würde sie ihm behilflich sein.

Illo kam in einen dunklen Flur, um ins Freie zu gelangen. Er tappte sich an der Wand hin, sah eine Leiter im Wege stehn und auf ihr in ziemlicher Höhe jemand hocken. Drinnen rief der Kuckuck. Einmal. Und dann sprang jemand von der Leiter, den er auffing. – Illo lehnte sich an die Wand und lachte, lachte. Er weinte vor Lachen. Da schlug ihn das Mädchen ins Gesicht. Er hielt sie fest, lachte weiter ganz erschüttert, und es war neben dem Ärger eitel Rührung dabei. Denn er ahnte alles. Das Mädchen stellte den Kuckuck vor, gewiß Tag und Nacht, um dem Großvater den Schmerz zu ersparen, daß die Uhr wirklich entzwei sei.

Mitten auf den roten Mund küßte Illo das Englein. Da stieß sie ihn zurück und tat sich Gewalt an, daß sie nicht schrie, aber der Großvater lag im ersten »Nickerchen«, niemals würde sie ihn geweckt haben.

»Ich hasse dich!« stieß sie hervor. – – Er wachte aus seinem wunderlichen Zustand jäh auf.

»Jawohl«, sagte er tief atmend. »Ich kann das verstehen. Du bist gut, du Kratzbürste, und ich war unritterlich. Du mußt es dem Großvater sagen, und er wird mich heimschicken. Leb wohl, Englein!«

»Jawohl! Mach, daß du fortkommst. Es hat mich noch nie jemand geküßt, und es ist eine Beleidigung.« Beide Hände schlug sie vor das Gesicht und weinte bitterlich. Da ging Illo still hinaus. Noch nicht einmal seine Kammer hatte er betreten können, dahinein hatte man wohl sein Felleisen getan. Das mußte er sich wieder holen mitsamt seinen Papieren, die noch darin verstreut waren. In der Küche rumorte noch die Base mit der »Abwaschfrau«, dahin ging er erst einmal.

»Du liebes Herrgöttchen, was fehlt dir, Illo«, rief die Base erschrocken. »Da ist Tausendgüldenkraut gut, du hast's im Magen. Gleich koch ich dir den Tee.«

»Lassen Sie's gut sein, Fräulein Konkordia, – nur mein Felleisen möchte ich holen.« Dann dämpfte er die frische Stimme noch mehr und flüsterte der Base ins Ohr: »Und einen sehr einfachen Gasthof müssen Sie mir nennen, in dem ich herbergen kann.«

»Herr du meines Lebens!« Die Base sackte fassungslos auf den Küchenstuhl. »Was soll das? Ist Meister Distelfink Haus eine Destille? Wo jeder neinprascht un wieder rausmacht?«

»Ach nur nicht lang reden, Fräulein Konkordia. Ich will den Meister nicht wecken, sonst würd' ich zu ihm beichten gehn.«

»Wir sind Lutheraner, und der Vetter ist kein Pfaff«, sagte sie kurz. Aber sie ging doch aus der Tür und kam nach einer Weile mit dem Felleisen wieder.

»Da! Musche Illo. Mir steht der Verstand still. Nun kannst die Flöte rausnehmen und blasen: ›Ach du lieber Augustin, alles ist hin.‹«

»Es ist aber noch nicht alles hin, Fräulein Konkordia.«

»Strapezier dich nicht mit dem ›Fräulein‹, Illo. Jedwerein nennet mich ›Base‹ hier im Haus und auch in der Nachbarschaft. Aber du hast was ausgefressen, ich merk's, und willst wieder auf die Walze, also mußt' freilich ›Fräulein‹ sagen.«

»Jawohl, Fräulein Konkordia! Und bitte noch um Bescheid, wo ich bis morgen bleiben kann.«

Sie sann nach. »Der ›Gasthof zur dreckigen Gabel‹ kommt nicht in Betracht, ebenso nicht der ›Renkliche Löffel‹. Aber in der ›Goldenen Henne‹ kannst vorgehen, die ist anständig und doch billig. Gestohlen wirst ja nichts haben?« fragte sie zögernd.« – – –

Jetzt lachte er sein schönes, frisches Lachen. »Das weiß ich nicht ganz genau.« Spitzbübisch genug sah er aus. »Es kann sein, ich hab was gestohlen. Aber jedenfalls hat man mir was gestohlen.«

»Ei du Bösewicht!« Krebsrot war die Base. Aber Illo war schon zur Tür hinaus. Und da sah sie aus dem Küchenfenster, wie er sehr ehrbar nach dem Platz schritt, zu dem die Gasse sich weitete, und wo in der Mitte die »Goldene Henne« lag. Die Aufwaschfrau aber sah mit reichlich blöden Augen auf ihre Hand. In die hatte der junge, schöne Mann ein Geldstück gelegt, ein blankes Markstück. Sie konnt es nicht fassen.«

»Ein Lehrling, der Trinkgeld gibt!« kopfschüttelte die Base. »Das kann nur ein Windhund sein.« Wie unklug hantierte sie mit dem Geschirr, das sich sowohl aus Porzellan, als auch aus Blech zusammensetzte. Schließlich schlug sie die Schürze vor das Gesicht. Sie hatte ihr altes Herz an den schönen Burschen verloren, der wie ein Prinz aussah und ein Windhund war. –

Inzwischen war Meister Distelfink erwacht, und es war übel getan, daß das Englein just hereinkam, da er noch beim Dehnen und Recken und »gnarren« war, alles Dinge, die nach einem Schläfchen die schlechte Laune vertreiben, wenn man sie ordentlich und ergiebig betreibt. Aber der Meister mußte jäh abbrechen und war nun recht gnittrich.

»Warum heulst du?« fragte er kurz das Englein.

»Ich heul nicht, ich lach!«

»Ja, das sieht man«, rief er grimmig, und als nun auch noch die Base mit vorgehaltener Schürze hereintrudelte, drohte es Gewitter zu geben. Aber Angela hatte blitzgeschwind ein frisch gestopftes, diesmal kurzes Pfeifchen geholt und ihm hingereicht nebst dem Feuerzeug. Das beruhigte sofort den Raucher.

»Un nu komm emal her, Englein«, sagte er weich und zog sein Enkelkind nah zu sich heran. »Was hat denn nu die ›Drähnchen‹ verursacht? Raus mit der Sprache! Wenn ich die kurze Piep un den Varinas paff, dann könnt mich kein Ferscht von Rudolstadt stören.«

»Nein, der nicht, – aber – dein Lehrling.«

»Mein Lehrling? Illo Eulenried? Was hat er getan?«

Da kam es plötzlich dem Englein ganz ungeheuerlich vor, daß es petzen wollte. Und es hielt sich beide Hände vor den Mund.«

»Ja, bring du was aus diesem ›Undäg‹ heraus, was sie nicht sagen will«, rief die Base zornig.«

»Ruich Blut, Andon, so gomm mir nich zum Ziele. Wo is der Addendäder? Ruf'n her.«

»Der hat sich fremd gemacht«, berichtete die Base. »Der sitzt in der ›Goldenen Henne‹, der hat uns alle zum Narren gehalten. Wer weiß, ob er nicht schon wieder weitergewalzt ist, falls die Henne keine goldnen Eier für ihn legte ...« Ganz aus den Fugen war die Base.

Inzwischen zappelte das Englein vor Ungeduld.

» Gar nichts hat er getan. Freilich doch! Aber nichts Schlechtes, daß man über ihn herfällt, wie die Base tut. Hol ihn wieder, Großvater, er soll dirs selbst sagen. Petzen kann ich nicht, schlag mich tot.« Englein schluchzte.

»Nur nich so große Worte!« schalt der Meister.

»Ja ja, nein nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.«

»Aber in eigener Person kann ich den Baron nich wiederholen, das geht gegen meine Ehr und Reputatschen als Meister ...«

»Welchen Baron?« riefen beide Frauen.

»Ach so ! Das ist mir nur so rausgefahren. Weil er so stolz und schmuck aussieht, der Dämelack, – – hab ich ihn bei mir so genannt ...« Der Meister war sehr erbost, es war lange her, daß er mal gelogen hatte. Er rannte im Stübchen hin und her, denn er konnte auch von den Frauen niemand schicken, und die Abwaschfrau wußte nicht einmal mit dem Geschirr umzugehen, geschweige mit einer schwierigen Mission. In diesem bedeutsamen Augenblicke klopfte es stark an die Tür, und polternd fiel ein schlenkriger Jüngling in die Stube.

»Ich bin wieder da«, sagte er atemlos.

»Das merkt man.«

»Wollte auch gehorsamst melden, daß meine Mutter wohlauf ist, und ...«

»Deine närrischen Sprüche hebe dir für nachher auf, jetzt brauche ich dich zu was Besonderem. Sperr die Horchlöffel auf. Du läufst sofort 'nüber zur ›Goldenen Henne‹ und fragst nach dem Illo Eulenried, einem Wanderburschen. Der soll seine Beine in die Hand nehmen und sofort zum Meister Distelfink zurückkommen. Hast verstanden, Kaspar?«

»Wer Ohren hat zu hören, der höre, ich war so frei. Also er soll ›plängschaß‹ kommen, der Gauner. Wie kann so'n Ausreißer sich Eulenried nennen! Das ist ein Schloß auf'm Berg bei Ilmenbach ...«

»Sei so gut, halt jetzt deine Gosche und lauf. Bring ihn her!«

»Geht in Ordnung.« Der närrische Geselle stolperte wieder über die Schwelle und fiel in den Flur.

»Der ist ebenso zurückgekommen, wie er fortging«, sagte kopfschüttelnd Meister Distelfink. »Aber das macht nichts, ich brauch ihn. Ihr wißt es. Für die ganz feinen Sachen gibt es keinen andern, und die Meister lauern und wollen ihn mir abjagen.«

Das Englein seufzte. »Ich mag und mag ihn nicht. Er hat vor niemand Respekt und hält sich für Schiller und Goethe in einer Person. Er ist verrückt.«

»Halt den Mund, Englein.« Hast du etwa Respekt vor irgendwem?«

Das Mädchen flog ungestüm an seinen Hals. »Ja, Großvater, vor dir!«

»Mich umarmt doch auch rein niemand«, dachte Base Konkordia still und ging dann wieder in die Küche, um dort der Dinge zu warten, die da kommen sollten.


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