Peter Rosegger
Kleine Erzählungen
Peter Rosegger

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Das Felsenbildnis

In einem kleinen Tale der Wildnis stand eine einzige Hütte verlassen und verloren. Die gewaltigen Hochwaldbäume, aus denen die Hütte gezimmert war, trugen zum Teil noch ihre Rinden, unter welchen behende Käfer und nagende Würmchen hausten. Aber das Holz war hart geworden; länger als vierhundert Jahre war es her, daß dieser Hütte Gezimmer emporgesprossen war als junger, grünender, säuselnder, wohldufthauchender Wald. Das flache, steinbeschwerte Dach war vermoost, es wuchs ein hellgrüner Filz darüber, es wuchs Wildfarn darauf und dort und da guckte ein Tannenwipfelchen hervor, das als beflügelt Samenkörnchen auf das Dach gehüpft war. Das wollte hier auf dem Dache verbleiben und gegen Himmel wachsen zu einem großen Baum.

Das Wild- und Waldleben hatte wieder Besitz genommen von dem Menschenbaue und flocht und wob ihn ein und zog ihn wieder sanft zurück in den Schoß der Natur.

Das Kostbarste an der Hütte waren die Glasscheiben an den kleinen Fenstern. Aber diese Scheiben waren altersgrau und schon erblindet; und längst vergangene Bewohner des Häuschens hatten etwa mit einem scharfen Nagel Kreuze oder Herzen in die Scheiben eingegraben, auf daß sie auch ein Denkmal hinterließen an dieser Stätte, die sie lebelang ihr Daheim genannt.

Über der sehr niedrigen Tür an der Wand war mit einer Kohle in einem dreieckigen Umriß das Auge Gottes gezeichnet. Dem lieben Herrgott war die ganze Sach' anheimgestellt.

Felsmassen schlossen die Hütte ein. Seit die Welt steht, war kein Sonnenblick gefallen in dieses Tal, und wie der Morgen und der Abend auch glühen mochten oben an den lustigen Zinnen und Alpenhörnern, es war in dieser Tiefe nicht zu sehen.

Hier lebten und starben Leute, die außer dem Lichte an den Felstafeln all ihrer Tage keinen Sonnenstrahl gesehen hatten.

Einst standen sechs Hütten in der Talschlucht. Sie waren da seit undenklichen Tagen, die Menschen wußten ihr Beginnen nicht. Die Bewohner dieser Hütten nährten sich durch einige Äckerlein, die von den Vorfahren zwischen den grauen Felsblöcken und Schuttriesen waren ausgereutet worden, und sie nährten sich von den Ziegen, die auf den Matten des kleinen Tales Futter fanden.

Ihrer Tage mochten unzählige gewesen sein, aber sie vergingen und es kamen andere.

Da war – so haben die ältesten Leute des Alpentales erzählt – ein weißlockiger Kräuterer niedergestiegen von Gestein zu Gestein bis in das schattige Tal. Die schneeweißen Haare dieses Mannes waren so lang gewesen, daß sie weit hinter ihm nachgewallt über Wände und Riffe. Unten bei den Hütten hatte der Greis um Nachtherberge gebeten, aber die Leute hatten ihn hell ausgelacht und übermütig geschrien: »Geh, Du alter Eisbär, wickle Dich in Deine Haare ein, so hast Du Dach und Fach wohl für jegliche Sturmnacht!« – Darauf hatte der Kräuterer nichts entgegnet, sondern war wieder aufwärts gestiegen von Gestein zu Gestein. Aber er war kein Kräuterer, er war ein Berggeist gewesen, der die Menschen hatte prüfen wollen, und als darauf die Nacht gekommen war, da ist er wieder herabgefahren gegen das Tal und seine langen Haare haben Felsen gesprengt, haben mächtige Furchen und Schründe gerissen im Gebirg – und Eis- und Schneelawinen sind niedergebrandet, und alle Wände ringsum haben gellend laut gelacht, und der größte Teil ist verschüttet worden mitsamt seinen Hütten und Bewohnern. – Und wie die übermütigen Leute zuerst den Berggeist lachend verhöhnt haben, so hat der Berggeist zuletzt sie allsamt ausgelacht. – So die Sage.

Eine wilde Natur-Revolution muß wohl gewesen sein; ein graues Sandmeer lag nun im Tale und durch dasselbe hin wälzte sich der Gletscherbach, breit und zerrissen, und schwemmte nach allen Seiten hinaus. Heute ging da sein Bett, morgen dort, das ganze früher so bräutliche Tal gehörte dem Wildbach. Auf den Vorhügeln, wohl auch einst aus Schutt aufgebaut, blühten freilich noch die Eriken und wucherte das Gesträuch des Wacholders und der Alpenkiefer, aber mitten hinein hatte der Berggeist Felsstücke geschleudert, über die nun die Flechten woben und Eidechsen glitten. Von den schwindelnden Wänden nieder gingen schneeweiße Sandriesen und graue Schutthalden, in denen es allfort leise rieselte und rieselte. Wie viel tausendjahre, bis das ganze, gewaltige Hochgefelse niedergerieselt sein wird in die Tiefen! Allein, wer rechnet hier mit Jahrtausenden, wenn sich die ungeheure Burg der Alpen nachbaut herauf aus dem Urgrunde der Erde!

Zwischen den Schutthalden zog sich wohl hie und da ein Streifen Erdgelände hinan, auf welchem Sträuche und verknorrte Fichten und Lärchen mühsam fußten. Und am unteren Ende einer solchen Wildwachszunge, die einige kleine Wiesenhänge wahrte, nicht weit von dem Talsande des Wildbaches, duckte sich das alte, moosbewachsene Häuschen. Das allein war übrig geblieben von der kleinen Hüttengemeinde im Felsentale, und das war die einzige und letzte Menschenwohnung weit und breit. Von zwei Wänden nieder lag und sickerte ein breiter, schwerer Schuttstrom; er würde längst niedergetost sein auf das arme Häuschen, wenn er nicht ziemlich hoch über demselben von einem Felshorn aufgehalten und nach links und rechts seitwärts geleitet worden wäre, so daß auf dem Hange unter dem Felshorn das Wildgesträuche wuchern und die Hütte stehen konnte. Diese Lehne war wie eine grüne Insel mitten in dem Steinstrome des Gerölles, und das Felshorn darüber war der Hort.

In der Hütte wohnten vier Menschen, das waren der Schründenhans, dem die Hütte gehörte, sein Weib, sein Kind und sein Bruder.

Sein Weib hatte sich der Schründenhans vor wenigen Jahren erst vom Waldgelände hereingeholt. Dort war es eine Köhlerdirn gewesen, deren Mutter eines Tages in die Gluten des Meilers gebrochen und jämmerlich zugrunde gegangen war. Ihr Vater war ein Wilderer gewesen, aber alljährlich kaum mehr, als ein einziges Reh hatte er sich angeeignet von den Hunderten, die im Walde mit ihm lebten, auf daß er und sein Weib und sein Kind das gut' Stücklein Fleisch nicht ganz entbehren durften. Aber ein Wilderer war er dennoch, und einmal in der Mondnacht geriet er mit den Jägern zusammen. Sie fielen über den Kohlenbrenner her, es entbrannte ein wildes Ringen, und zuletzt warfen sie ihn die Felswand hinab, daß der Stürzende den Wipfel eines Baumes knickte, der unten in der Tiefe stand. Keinen Atemzug hat der Kohlenbrenner mehr getan. Der Mond ging nieder und die Sonne ging auf, und das Mädchen daheim sah allfort zum Fensterchen hinaus und wartete auf den Vater.

Da ging langsamen Schrittes der Schründenhans vorbei, der wußte von der Geschichte und sollte der Waise die Nachricht überbringen.

Aus dem Meiler zuckte ein blaues Flämmchen heraus. »Verlösche es nicht, Hilda«, sagte der Hans, »es brennt auf der Welt sonst kein Licht für ihn.«

Hilda hat das Wort verstanden, hat nicht mehr nach dem Vater ausgesehen, hat sich verschlossen im Köhlerhause und hat geweint.

Nach Tagen kam der Hans wieder und sagte: »Hilda, ich habe mir gedacht, da Du jetzt keinen Vater mehr hast, so sollst Du einen Mann haben.«

Und nicht lange hernach zog Hilda mit Hans in sein Haus unter den Wänden. Ein Jahr hierauf hatte Hilda ihrem Manne einen Knaben geboren, der zur Zeit dieser Geschichte seine Nahrung noch an der Mutterbrust genoß.

Der vierte Hüttenbewohner nun war Hansens Bruder, der Jok. Der Jok war ein armer Mensch. Er wußte es aber nicht, wie sehr arm er war, er war blödsinnig. Er war ein Krüppel mit kurzem Halse und sehr langen Händen. Er war schon über die zwanzig Jahre alt und konnte noch nicht reden. Seine Stimme war wie ein Stöhnen und Röcheln. Das einzige Wort »Hans« konnte er halbverständlich sagen. Mit seinem Bruder war er seit seinem ersten Lebenstage beisammen gewesen in der Hütte ihres Vaters. Mit seinem Bruder hatte er die ersten Forellen aus dem Wildbache gefischt; mit seinem Bruder hatte er die letzte Träne der in Armut und Kümmernis sterbenden Mutter gesehen und die Segensworte des verscheidenden Vaters gehört. Diesen Bruder, der nun sein Alles und Einziges war, mußte der Jok unsagbar lieb haben, ihm nahm er im Tagwerke die schwersten Arbeiten unter der Hand weg; ihm schob er beim kaum erklecklichen Mahle, das sie gleich auf dem Lehmgrunde des Herdes zu sich nahmen, die besten Bissen zu. Und als der Hans das Weibchen in's Haus brachte, lächelte der Jok glückselig, und als der Jok das neugeborne Knäblein sah, da stöhnte er vor Freude und haschte gleich mit beiden Händen nach dem kleinwinzigen Wesen.

Das Auftechtgehen auf zwei Füßen hatte der Jok auch nicht gelernt, aber gern und behendig kletterte er mit allen vieren wie die Ziegen und Gemsen. Ein Jägersmann verglich ihn einmal scherzhaft mit einem Ziegenbock. Darüber grinste der Jok freundlich; er hielt den Spott für eine Schmeichelei, denn mit den Tieren hielt er's immer gern. Aber dem Schründenhans tat der Schimpf weh, dem zuckte sein Herz und sein Auge und seine Faust: »Du Jäger, wen geht das Elend meines Bruders was an?«

Der Jägersmann schlich von dannen und brummte: »So Leut' verstehen keinen Spaß.«

Wenn Gottes Sonntag war und die Beile der Holzhauer ruhten, ging der Schründenhans mit seinem Weibe hinaus gegen das ferne Walddorf, wo die Kirche stand. Zuweilen redeten sie gern ein wenig mit dem lieben Herrgott. »Vater unser«, sagte der Hans, und legte seine rauhen, waldharzigen Hände recht innig zusammen, »nicht meinetwegen red' ich, aber unser Bübel laß aufwachsen frisch und gesund, und daß es ein braver Mensch mag werden.«

Aber die Hilda wendete sich zum Frauenaltar: »Gegrüßt seist Du, Maria, und ein warm Pelzlein für den heurigen Winter tät mein Bübel wohl brauchen!«

Der Jok aber ging nie hinaus in das Walddoff; er hütete daheim stets das Haus und die Ziegen, und kletterte an den Hängen hin auf allen vieren, und pfiff wie die Gemse, und bellte wie das Reh.

Von all' den Bewohnern der wilden Öde war es seit jeher keinem bewußt geworden, daß sie mitten lebten in der Größe und Herrlichkeit der Natur, und daß um sie eine Gottheit in der Schöpfungswerkstatt ewig meißelte. Sie hatten kein Auge für die wilde Erhabenheit ringsum. Nur zu dem Felshorn, das dem Schuttstrom wehrte, blickten die armen Leute zuweilen auf, aber auch nicht, weil dieser Turm als Wall ihr Beschützer war, sondern einer anderen Ursache wegen. Das Felshorn stellte nämlich in seiner Auszackung und Durchfurchung ein kolossales Bildnis vor, eine sitzende Frauengestalt mit einem Kinde auf dem Schoße.

»Da ist Unsere liebe Frau mit dem Christkinde herausgewachsen aus der Erden«, so lautete der alte Glauben der Bewohner des Felstales, den auch der Schründenhans in seinem Herzen pflegte.

Und wahrlich, allzu große Einbildungskraft gehörte nicht dazu, der Felsturm war die Himmelskönigin mit dem Scepter und der zackigen Krone; von der Tiefe aus gesehen saß sie auf dem Throne und hielt das Kind.

Das Bild war etwas vorgebeugt und blickte gerade hinab in die Talschlucht. Das Bild war den Bewohnern der Hütte der Hausaltar, zu dem sie gerne beteten. Die Leutchen konnten nicht daran denken, daß die sonderbare Felsstatue vielleicht Jahrtausende vor der Erwartung des Erlösers und der Geburt Mariens hier oben in den Stürmen der Urzeit gestanden haben mochte.

Nun aber war an dem Felsenbilde noch eine andere Merkwürdigkeit. Zur frühen Morgenstunde, wenn es oben in den hohen Wänden graute und sich die Tafeln sanft zu röten begannen, klang von dem Marienbilde ein Ton herab wie das ferne Läuten einer Glocke. »Die Himmelschöre singen Unserer lieben Frauen den englischen Gruß«, sagten da die Hüttenbewohner, und erhoben sich von ihrem Lager und beteten.

Der Ton kam von einer Spalte, welche zwischen dem Throne und dem Marienbilde klaffte und durch welche der Morgenwind blies. Das war nicht seit ewigen Zeiten so, erst seitdem die Hütten waren zugrunde gegangen im Felsentale, sangen die Chöre.

Sollten aber nicht immerdar so singen und läuten. Da kam nun ein Sommer und ein Herbst, in welchem das liebliche Klingen der Aveglocke in ein tiefes Dröhnen und in ein klägliches Stöhnen übergegangen war.

»Hans«, sagte da die Hilda einmal, »die Engel läuten nimmer. Was ist Unserer lieben Frau angetan, daß sie so bitterlich tut weinen?«

»Wohl, das hab' ich auch schon bedacht«, antwortete der Hans, »ich hab' herumgesucht in meinem Gewissen, bin wohl recht sündig, aber dasselb' kann ich sagen, schlechter bin ich nicht, wie eh' vor Zeit. Leicht hab' ich mein Bübel zu gern und tu' es in allzu großer Lieb' verderben.«

»Etwa ist es meines Vaters arme Seelen, die so tut weinen«, meinte das Weib, »ich will neun Tag' fasten und das Essen der blinden Bachwabi hinausschicken in das Waldland.«

Sie tat das Buß- und Liebeswerk, auf daß ihr ermordeter Vater erlöst sein sollte, aber das Marienbild oben weinte und weinte.

Da sagte die Hilda einmal, am Ende sei gar die Zeit nahe, in welcher nach Prophezeiung der Vorfahren der Drache wieder hervorbreche, der in irgend einer Höhle der Felsen lauere.

An das dachte Hans nicht, obwohl der klägliche Ton von dem Bilde, der zur Morgenfrühe und gar zuweilen auch mitten in der Nacht zu hören war, ihm eine tiefe Besorgnis verursachte. Oft, wenn er nach der Tageslast im Schlummer ruhte, oder ein liebliches Bild aus Kindeszeiten träumte, erwachte er plötzlich und hörte das schauerliche Weinen.

Und eines Tages, da stieg der Hans die Halde entlang und kletterte hinan bis zu dem Felshorn, und an demselben empor, so weit es ging, und prüfte das Gestein. Die Hilda stand vor der Hütte, hielt die flache Hand über die Augen und blickte hinauf. Wie wenn über den Arm der Mutter Gottes und über dem Haupte des Jesuskindes eine Fliege krabbelte, so war von dieser Ferne ihr Mann zu sehen.

Als der Hans hierauf wieder herabkam zur Hütte, war er sehr schweigsam. Er setzte sich zur Wiege seines Kindes und wiegte. Er sagte dabei kein liebkosend Wort wie sonst; er sang kein Liedlein. Still und schier wehmütig blickte er den lächelnden Kleinen an. Der Jok grinste zum Fensterchen herein und kicherte und tat unverständliche Laute. Der Hans glaubte ihn zu verstehen und reichte ihm ein Stücklein Brot durch das Fenster.

Aber nicht Brot wollte der Jok, viel lieber an der Wiege wollte er sein; allweg wollte er das Büblein tragen und herzen.

Das Weib saß am Herdwinkel und sonderte in Körben die gesammelten Pilze und Kräuter, die für den Winter bereitet waren.

Als sie lange so still gesessen waren, sagte der Hans halblaut: »Da oben schaut's nicht gut aus. Mein Großvater hat oft erzählt, er hätte nicht einmal seine flache Hand in die Felsenspalte legen können. Mein Vater hat schon leicht die Faust hindurchgebracht, und jetzt –« der Mann brach ab, das Weib ließ die Hände in den Schoß sinken und blickte ihn fragend an.

»Jetzt«, fuhr er endlich fort, »das muß schon ein flinkes Gemslein sein, will es die Spalte übersetzen.«

Die Hilda war bei diesen Worten rasch aufgestanden und hinaus zur Türe gegangen. Bald kam sie zurück und setzte sich schweigend an die Arbeit.

Es kam der Herbst. Stetig rieselte der Bach hin über die Sandfläche; er hatte hier stellenweise Schluchten gerissen, Felsblöcke angeschwemmt, als wollte er ein neues Gebirge gründen im Tale. Im Sande funkelten hier und da winzige Sternchen, als hätten treue Körner die Sonnenstrahlen von den lichten Höhen mit herniedergebracht in die ewigen Schatten. Ein Wassersturz rauschte in einer der hinteren Schluchten. Der Jok stand zuweilen am Bache und sah hinein, und wunderte sich vielleicht, daß ewig das alte Wasser und doch ewig ein neues – und wo es denn herkommt, und wo es denn hingeht? Er lachte die Wellen aus. Dann legte er sich auf den Sand und starrte schnurgerade in den blauen Himmel hinein, so viel er davon zwischen den Berghäuptern sehen konnte. Dann lachte er wieder. Sagte die Hilda einmal: »Der Narr lacht und weiß es nicht, warum.«

»Wenn er nur lacht«, antwortete der Hans, »der gescheiteste Mensch auf der Welt kann nichts Besseres tun als lachen.«

Freilich, der Hans selber lachte selten.

Es kam der Winter. Oben in den Felskanten und durch die Schluchten her brausten die Stürme. Es toste und wogte und stöberte in den Lüften, und die grauen Felswände ragten in den Nebel hinein. Es sauste der Wind um die Ecken der Hütte und er winselte an den Fensterchen; aber die Töne des Marienbildes waren verstummt. Alle Spalten und Schründe waren gefüllt mit Schnee. Kalte, trockene Luft rieselte nieder von den Mulden der Wände, und mit ihr manches Steinchen, das nicht just festgefroren war. An den steilsten Sandriesen hielt sich kein Schnee.

In der Hütte war Dämmerung und die längste Zeit Nacht. Das Herdfeuer knisterte, die Spanlunte im Eisenhaken flackerte und wollte nimmer ruhig brennen. Warm und trotz aller Einsamkeit traulich war es in dem Stübchen.

Die Hilda pflegte ihr Kind; sie sagte ihm Worte von dem Vater, der für sie im Waldlande arbeite und allfort sein Kindlein liebe. Sie sagte dem Kleinen Worte von Gott Vater, der im Himmel lebe und seine Englein sende, daß sie den Vater auf Erden beschützten.

Da lächelte das Kind zu den Worten; und schloß es die Äuglein, so sah es selbst den Himmel und Gott Vater darin, und die Englein flogen an den goldenen Felswänden hin und her.

Der Mannbruder pflegte stets die Ziegen und erzählte ihnen in seiner Weise seine Freude und sein Leid, wie er's empfinden konnte. Die Ziegen nahmen teil an allem und gaukelten ihm mit ihren Hörnern vor und beleckten seinen Hals. Das tat dem guten Burschen gar wohl.

Der Hans war im Tagelohn und half Holz schlagen draußen in den Herrschaftswäldern. Er wollte am liebsten Tag und Nacht arbeiten und immer ein doppeltes Tagewerk machen; er wollte sich ein Häuschen erwirtschaften im Walddorfe, wo kein grauenhaftes Felsgebilde ewig drohend schwebe über dem Scheitel seiner Familie.

Wie karg ist der Tagelohn im Walde, und jede Woche nur einen einzigen Stein, nur einen einzigen Baum zum neuen Heim konnte sich der Hans erwerben. Am Sonnabend, wenn er sich durch die Eisschluchten und Schneewehen seinem Felsentale zukämpfte, tat er immer einen scheuen Blick hinauf zum Frauenbilde am Hang über seinem Hause. Freilich war es da häufig schon dunkle Nacht und er konnte es nicht sehen, wie sich »Unsere liebe Frauen« immer mehr und mehr von ihrem Throne nach vorn neigte.

»Es ist zum Erbarmen, Hilda, wie Du die ganze Woche in der Einschicht bist«, sagte der Hans einmal.

»In der Einschicht bin ich nicht«, versetzte das Weib, »ich hab' das Kind, und der Jok tut uns hüten. Gib Du nur acht im Walde, daß Dich kein Baum mag letzen, und die Stege sind auch so vermorscht, gehst Du aus und ein in den Schluchten.«

»Warte nur, Hilda, zur Auswärtszeit (im Frühling) über's Jahr heb' ich an mit dem Hausbau; hernach leben wir draußen im Dorf bei den Leuten.«

Als ob er's verstanden hätte, so jauchzte jetzt der Kleine und zappelte mit den Füßchen. Gar dem Weibe selbst zitterte das Herz; so klagend, sehnend, so eigen waren die Worte gesprochen –-- und leben bei den Leuten!

Es kam der Frühling. Wochenlang blies der Föhn und von den Bergschluchten hervor kam der »Maibrunn«, wie die Schneewässer des Frühjahres geheißen werden. Eine Schneelawine um die andere fuhr nieder von den Karmulden der Berge und begrub die größten Bäume unter ihrem Schutt.

Zur selben Zeit verfolgte der blöde Bursche ein Gemslein. Es war niedergestiegen bis unter das Muttergottesbild und nagte dort an einigen Fichtenreisern. Dann erhob es seinen Kopf, daß die krummen, scharfen Hörnchen gar nach rückwärts standen, und lugte herab auf das Hüttendach, unter welchem es die Ziegen meckern hörte. Es wollte ihm schier einsam werden zwischen den Schneelehnen und Felsen, es wollte niedersteigen zu Genossen. Das sah denn der Jok, und rechtschaffen flink, wie wenn er selbst eine Gemse wäre, kletterte er hinan, um das Tier heimzuholen. Es war nicht das erste, das er auf diese Weise heimgeholt hatte, und die Tiere mochten sich denken: der Jok da, der ist gut, der gehört mehr zu uns als zu den mörderischen Geschöpfen, die auf zwei Füßen gehen; der Jok, der tut uns nichts.

Und der Jägersmann hinwiederum durfte dem Jok nichts tun, holte sich dieser auch manches Stück Wild; denn was man mit den Händen fängt in der Wildnis, das verschreibt Gott dem Erwerber zu eigen.

Heute aber machte das Gemslein, als es den Burschen gewahrte, lange Füße die Lehne hinan; das Tierchen gestand es ja zu: der Jok mag ein ehrlicher Kerl sein, aber es traute nicht; wollte man es wirklich für den Ziegenstall oder vielleicht gar zu etwas weit Unerquicklicherem? Wer konnte es wissen!

Die Gemse war fort und der Jok stand oben beim Felshorn und starrte verdrießlich drein. Zuletzt kletterte er auf den Felsen, wie er es von seinem Bruder einmal gesehen hatte, und guckte durch die klaffende Spalte, in welcher Schnee und Eis und niedergebrochene Steine lagen. Er guckte eine lange Weile, und legte dabei den Kopf auf die rechte Achsel und auf die linke, und er röchelte und ballte die Fäuste zuletzt und war glührot im Gesicht.

Als er hierauf zurückkam in's Tal, wich er der Schwägerin aus; sie sollte es nicht merken können in seinen Augen, was er oben gesehen. Wozu der Schreck und die Angst, wenn die Sache verhütet wird? Er schlich in den kleinen Bretterschuppen, nahm Scheiter und Balken und eine schwere Axt, trug sie hinan auf den Hang und schlug die Blöcke durch Schnee und Gestrüppe in die Erde.

Was mag dem Jok wieder eingefallen sein? dachte das Weib bei sich, aber sie ließ den Burschen gehen und schaffen. Es wurde Abend, die Ziegen meckerten im Stalle; wo denn heut' der Jok sei? Gar das Büblein in der Wiege ließ klug seine Äuglein lugen, wo denn der Jok sei, der sonst gern daneben saß und mit den kurzen dicken Fingern Schattenspiele und sonst allerhand Schwänke mache, daß es recht zu lachen war. Der Jok war oben am Hang; die Hilda sah ihn nicht in der Dunkelheit, aber sie hörte die Schläge auf die in den Boden zu treibenden Blöcke. Die Schläge hallten in den Felsen, und als die Hilda rief: »Jok!«so hallte es wieder nur in den Felsen, und das Pochen da oben währte die ganze Nacht.

Wanderer, die in das Walddorf kamen, erzählten, daß draußen in den weiten Tälern das Getreide schon hoch in Ähren schieße und die Apfelbäume blühten. Im Hochgebirge aber brausten die fahlgrauen, reißenden Fluten des Wassers, und sie wälzten Eisstücke und Bäume und Steinblöcke aus den Schluchten. In den Schutthalden war es lebendiger als je; in die Mulden sickerten immer mehr die Schneelasten der Karre und Schründe zusammen, und Wässerlein rieselten von allen Hängen in zitternden Schleierfällen, bis die ungeheuren Schneelasten in den Mulden in's Schieben und Rutschen kamen und mit einem gewaltigen Donnern, alles vor sich niederwerfend und mitwälzend, in die Tiefen fuhren.

Da hielten die Holzschläger draußen im Waldland ein bei ihrer Arbeit und horchten dem dumpfen Gedonner, das hier und dort durch die Felsschluchten brandete und an den hohen Wänden widerhallte.

Und an einem milden, leuchtenden Maitag war's. Der Hans hatte am selbigen Morgen unter vermorschtem Gefälle das erste Vergißmeinnicht gesehen und es gleich auf seinen spitzigen Hut gesteckt. – Es knatterte da, es donnerte dort, aber das Waldland war sicher, und die Vöglein haben nie fröhlicher gesungen als an diesem Maitag. Gegen die Mittagsstunde hin erhob sich im Gebirge ein Krachen und Dröhnen, von allen Mulden stürzten Schnee- und Erdlawinen nieder, manche Felszacke löste sich von ihrem Grund, manches Gemslein wurde begraben in Schnee und Schutt, und aufgeschreckt von dem wüsten Lärm flatterten grauschimmernde Habichte und Steinadler durch die Luft und schwammen dem ruhigeren Waldlande zu. Wie lichtgraue oder bläulich schmutzige Ströme, sich untergrabend und überstürzend, in breiten, wogenden Tüchern oder in schmalen, schlüpfenden Schlangen, glitten die Lawinen nieder. Kein Baumwall hielt sie auf, die hundertjährigen Stämme brachen, ehe die Lasten noch kamen, bloß von dem Drucke des Sturmhauches; nur an mächtigen Felsnasen schäumten die Schneewogen empor, daß das ganze Kar in eine Staubwolke gehüllt war; aber weiter unten sammelten sie sich wieder und fuhren mit eherner Gewalt unter dem Beben der Vesten dem Abgrunde zu.

Da blieben im Waldlande die Wildbäche aus, aber nur für kurze Zeit, bald hatten sie die Hochwälle der Lawinen durchbrochen und überflutet und kamen nun wie Ungeheuer herangewogt mit Schutt und Eisblöcken, und Holzstämmen und Felsmassen.

Die Holzhauer schüttelten die Köpfe; das ist ein schlimmer Tag! – Etwan ist im Felsgebirge der Drache losgeworden!

Der Hans hatte lange ruhsam Scheiter gespalten und sich gedacht: 's ist eben böse Auswärtszeit, aber über's Jahr heb' ich an in Gottesnamen, und im Dorfe ist keine Gefahr mehr, und bislang wird die liebe Frauen schon Hüterin sein. – Als aber das Getöse ärger wurde, da lehnte er die Axt aus der Hand und horchte; und endlich, als die Erde zu beben anhub von den tobenden Gewalten im Gewände, da tat der Hans plötzlich einen großen Sprung und eilte über Stock und Stein hin gegen sein Felsental.

Schuttwälle und Gießbäche schnitten ihm oft den Weg ab, dann starrte er zuweilen in die Fluten und vermeinte in den heranwogenden Holzblöcken Teile von seiner Hütte zu erkennen. Das Donnern auf den Höhen und das Tosen in den Tiefen wollte ihn betäuben, aber die Hutkrempen tief über die Ohren gedrückt und mit halb geschlossenen Augen wand er sich ruhelos weiter bis zu dem schroffen Felsentore, das in sein kleines Tal mündete. Er bog um die Wand, er sah in den Felskessel – da wollten ihm plötzlich seine Füße und sein Atem versagen. Er sah am Hange das Frauenbild nicht mehr. Eine ungeheuere Sandriese ging nieder von den höchsten Gewänden und schnurgerade der Stelle des kleinen Hauses zu. Und das Haus stand nicht mehr da.

Der Hans stand, als wäre er selbst ein Steinbild geworden. Erst nach einer Weile begann es wieder zu zucken und zu zittern in seiner Brust. Wie verloren wankte er dahin – er suchte die zerschmetterten Leiber der Seinen, er suchte die Trümmerstätte seiner Heimat.

Auf dem Platze, wo das Häuschen gestanden, lag ein Berg aus Schnee und Schutt still und starr, als ob er in Ewigkeit so dagelegen wäre. Aus ihm hervor ragte das niedergebrochene, kantige Felshorn.

Daneben hüpften ein paar Ziegen auf und ab und meckerten. Aber an dem Schuttberg in der Tiefe nagte schon der Wildbach, und jenseits des Wildbaches – der Hans fuhr sich mit beiden Händen über die Augen, er träumte doch nicht, er stand ja mit wunden Füßen im Gestein – aber jenseits des Baches stand sein Häuschen.

0 Gott, da dachte der Hans wohl an keine Gefahr, er setzte über Gefelse, er sprang durch die Fluten, er stand vor seiner Hütte. Sie war ein wenig schief und verschoben und einige Balken waren geborsten, aber sonst war sie unversehrt. Die Tür war offen.

Den Atem an sich haltend, trat der Hans ein. Die Hütte hatte kein Flötz (hölzerner Fußboden) und keinen Herd, und keinen Ofen mehr, nur die in sich zusammengefügte Zimmerung stand da. Und siehe, an der Wand kleppte das Wiegenbettchen, und darin schlief, sorgsam verhüllt und eingeschichtet, das Kind. Es erwachte nun vor dem hellen Schrei, den der Mann ausstieß; da faßte der Hans den Knaben in wildem Ausbruche des Gefühles und preßte ihn derb an seine Brust; den Gewalten der Elemente entgangen, wäre der Kleine schier von der Liebe des Vaters erdrückt worden.

Bald aber ließ der Mann das Kind wieder auf das Bettchen sinken, und sein Auge starrte, und seine Wangen erblaßten. Dort hinter der Tür, sich noch fest an einen Balken klammernd, kauerte sein Weib. Hilda war unversehrt aber – leblos.

So hatte es der arme Hans gefunden.

Hierauf kamen die Leute des Waldes zusammen, um das Wunderbare zu sehen. Jeder gab sein Erachten ab, wie das geschehen sein mochte. Viele meinten wieder, es sei der Drache endlich losgebrochen aus seiner Höhle und habe das Unheil angerichtet. Andere glaubten, daß das Häuschen und das Kind erhalten geblieben, sei ein Mirakel von dem steinernen Marienbilde, das jetzt im Lawinenschutte begraben lag. Ein alter Hirte sagte, nach seiner Meinung sei es so geschehen: Von den hohen Mulden sei eine große Lawine niedergegangen, habe das schon lockere Felshorn mit sich fortgerissen und sei ihre gerade Straße weitergefahren. Daraus habe sich nun ein mächtiger Luftdruck entwickelt, welcher der Lawine vorausgeströmt sei und das Häuschen durch einen plötzlichen Ruck an das jenseitige Ufer gesetzt habe. Das Kind sei wahrscheinlich durch die Wände geschützt gewesen, das Weib an der offenen Tür aber durch den Luftdruck erstickt worden. Es hätte sich bei Lawinenstürzen schon mehrmals auf ähnliche Weise zugetragen; der Luftdruck bei großen Abrutschungen vermöge ja ganze Urwälder vor sich niederzuwerfen und die größten Bäume und Felsklötze über tiefe Abgründe zu schleudern.

Die Leute sagten, es werde schon so gewesen sein, und gingen auseinander.

Der arme Hans blieb bei seinem toten Weibe und bei seinem lebendigen Kinde in der Hütte. Oft ging er vor die Tür hinaus und rief nach dem Jok. Die Ziegen kamen herbei und blickten ihn mit ihren eckigen Augen an: sie wüßten auch nicht, wo der Jok sei.

Wenn dann der Knabe schlief, saß der Hans still und einsam in der Hütte. Die erblindeten Glastäfelchen an den Fenstern waren nicht zerbrochen; der Hans betrachtete die dürftigen Zeichen der Vorfahren. Kreuze und Herzen, von sonst haben auch die Alten nichts gewußt, und dieses Erbe haben sie allen Nachkommen im Felsentale hinterlassen.

Nach zwei Tagen kamen die Leute des Waldes wieder zusammen und trugen das Weib des Holzers fort aus dem Hause unter den Wänden und hinaus durch die Felsschluchten auf den kleinen Gottesacker des Walddorfes.

Hans stieg hierauf tagelang in dem Felsentale umher und suchte seinen Bruder.

Er fand ihn nicht. Da schloß er sich einzig und ganz an seinen Knaben. Im Waldlande, in der Nähe der Holzgeschläge, in welchen der Hans arbeitete, haben sie sich aus dicken Baumrinden eine Klause gebaut.

In dem unwirtlichen Felsentale hatten sie nichts mehr zu suchen. Drei Jahre nach dem Naturereignisse, im Hochsommer, verschmolzen und verschwemmten die letzten Reste der niedergestürzten Schneelawine, und da fanden sich neben dem zackigen Felshorn im Schutt halb begraben die Gebeine des armen Jok. Neben ihm lag noch die Axt und ein zugespitztes Scheit, und der Block, mit dem er in den letzten Tagen vor dem Unglücke an dem Hang Pfähle in den Boden getrieben hatte. Die treue Seele hatte das drohende Unheil geahnt und wollte durch solche Schutzpfähle das Haus des Bruders noch retten. Da sind die wilden Gewalten, die keine Lieb' erkennen, über das Bruderherz hingefahren.

Im Felsentale wächst heute kein einzig Hälmlein mehr – alles Schutt und Gestein. Von dem letzten und einzigen Hause haben tosende Gießströme längst die letzten Reste davongeschwemmt, und an den Hochmulden steigen immer tiefer und tiefer die Gletscher nieder.

So sind aus diesen verlorenen Schründen die letzten Menschen verdrängt worden. Im Waldland draußen lebt heute noch der Hans als alter Mann. Er lebt still in sich und ist ergeben; nur im Frühjahre, wenn im Hochgebirge die Lawinen stürzen, hebt er an zu zittern und umfaßt seinen Sohn mit beiden Händen.

Sein Sohn, nun, das ist ein hübscher kräftiger Bursche geworden; vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeitet er im Walde. Aber der Hausbau im Dorfe ist heute noch nicht begonnen. In der Dürftigkeit muß auch der junge Holzer sein Leben verbringen, darf vielleicht gar sein Herzenslieb nicht freien, weil er kein Daheim hat. Wen soll er darob anklagen? Etwa die hohen Berge? Er ging einmal von ihnen fort in's Flachland hinaus, aber die bösen, die lieben Berge, sie zogen ihn zurück und grüßten ihn wieder mit ihrer Mühsal und Gefahr.

Wenn der Bursche daran denkt, wird es ihm manchmal schier krampfig im Herzen. Aber hinschleudert er den Gram, daß er in die Tiefe fährt wie eine Schneelawine, und hell aufjauchzt der Mann, daß es im grünen Walde und in den sonnigen Hochwänden des Gebirges vielfach widerhallt.

 


 


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