Peter Rosegger
Kleine Erzählungen
Peter Rosegger

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Die Zuchtdirn

Warum der liebe Herrgott gerade arme Leute so häufig mit reichem Kindersegen überschüttet? –

Das Darum liegt nicht allzu ferne, nur bezieht es sich bloß auf das Mittel und nicht auf den Zweck.

Wenn ein Taglöhner im Gebirge mit zwölf Gulden Monatserwerb dreizehn unmündige Kinder hat, so ist dieses Zahlenverhältnis ein hinkendes, und man meint, der Volksglaube habe recht, das dreizehnte müsse sterben – an Hunger. Es kommt aber doch vor, daß keines stirbt, daß alle rote Backen haben und groß und kräftig wachsen. Wo eine sorgsame Mutter waltet und die wohltätige Frau Natur Pate gestanden, da tut der Taglohn des Vaters oft gar nicht viel zur Sache.

Anders ist es, wenn in dem armen Hause sich noch der Leichtsinn zu einem Familienmitgliede zählt oder wenn eine Krankheit oder ein anderes Unglück als Gast einkehrt. Solche Hausgenossen drücken auf die holden Kinderstirnen den Kuß des Elendes, und mit diesem Kainszeichen müssen die Armen hinaus in die Weit, und sie werden geflohen oder verachtet, und sie finden keine Heimstätten außer in den Zuchthäusern oder Siechenanstalten. Nicht die Entbehrung ist der Fluch der Armut, sondern die Verwahrlosung der Kinder. Freilich wohl wachsen sie auf »wie die Bäume im Walde«, aber dann gehören sie auch in den Wald und nicht in die Menschengesellschaft.

Für die Burschen ist's noch ein Glück, wenn sie zu den Soldaten kommen, obwohl sie in der Regel das durchaus nicht wollen, denn mit dem Gehorsam und mit der Ordnung stehen sie auf bösem Fuße. An Bauernhöfe verdingen sich solch verwahrloste Jungen nur ungern; auch das fruchtbare Flachland sagt ihnen selten zu, oder das Heideland, auf welchem sie sich durch Fleiß und Arbeit kleine Bauerngüter erwerben könnten. Sie suchen das Gebirge, werden Holzhauer, Köhler, Wurzelgräber und verlegen sich auf das Wildern. Könige des Waldes zu sein ist ihr schönster Traum, und wenn sie lesen könnten, die Geschichte von dem bayrischen Hiesel hätte für sie den meisten Reiz.

Die Töchter armer Leute des Berglandes haben ein gleichwohl nicht viel günstigeres Schicksal, das sich aber dann und wann zum Besseren wendet. Kommt eine reiche Bäuerin in die dunkle Hütte des Taglöhners, teilt unter die Kinder, die sich furchtsam in die Winkel flüchten wollten, Semmeln oder Kreuzer aus und sagt zu einem oder dem andern: »Bist aber sauber, du. Gehst mit?« Und zu der Mutter:

»Wieviel hast denn nachher?«

»Liebe Zeit, fünfe hab' ich halt noch daheim.«

»Willst mir ein Dirndl lassen? Etwa dasselbe schwarzäugig beim Ofenwinkel? Ich zieh' dir's auf, und bei mir hat's eins gut.«

Da tät sich die Hofbäuerin wohl einen Staffel in den Himmel bauen. Geh, Agerl, küß geschwind der Frau Mahm die Hand. Dir ist jetzt dein schwarzes Stückl Brot in den Honigtopf gefallen.

Und so wird's abgemacht. Für das Agerl hat gleichwohl die schönste Zeit des Menschenlebens nun ein Ende: es muß Vater und Mutter und Geschwister verlassen, zieht fort von der Heimathütte und zu dem reichen Bauernhof mit den schönen Rindern und Schafen und Pferden, mit dem zahlreichen Gesinde – wird dort Fußschemel, Waschhadern, Aschenbrödel, die Zuchtdirn.

Mali, die Tochter des Hauses, ist vielleicht im gleichen Alter mit dem Agerl, allein sie mag nicht recht Gemeinschaft haben mit dem »Bettelkind«, so treuherzig sich dieses auch an sie anschließen will. Aber es ist ihr doch recht, daß das Mädchen ins Haus gekommen, nun braucht sie nicht mehr die Hühner zu hüten, daß sie der Geier nicht holt, das Agerl tut's, nun hat sie jemanden, dem sie die abgetragenen und aus der Mode gekommenen Kleider schenken kann, damit sie neue bekommt.

Das Agerl wird größer. Da sagt der Altknecht: »Ein so großes Mensch da und Hühner halten. ‘s ist eine Schand'! Treib die Schafe auf die Heid', treib die Kühe in den Wald, und trag dabei Holz zusamm' und brock Schwämm, daß du was ausrichtest, ist gescheiter!«

Nach bestem Wissen und Können folgt das Mädchen der Weisung:

und nun muß es den ganzen Tag über auf der Heide bleiben oder im Walde, und es bekommt nur ein Stück Brot mit. Bloß ein Stück Brot, das macht der kleinen Halterin kein Herzeleid, sie weiß ja frische Quellen, und neben dem Wässerlein wächst Waldkresse – das ist ein gesundes Mittagsmahl. Angstvolle Stunden sind's, wenn in den Hochsommertagen ein Gewitter naht: da fürchtet sich das Agerl so sehr, es könne der Blitz einschlagen und sie töten mitsamt der Herde:

Oft gehen Gerüchte umher, es sei ein Bär oder ein Wolf oder gar ein Wildschwein in der Gegend – was unsere Hirtin in solchen Zeiten leidet, ist nicht zu beschreiben. Aber getreu hält sie aus bei ihren Schutzbefohlenen, die ihre besten Freunde sind. Am späten Abend zurückgekehrt in den Hof und zu den Menschen, ist ihr nicht viel wohler als draußen in den Gefahren des Waldes. Jedes schafft und befiehlt ihr mit harten Worten. In der Küche soll sie das Geschirr abreiben, in den Ställen die Streu zurechtfassen, in der Stube den Boden scheuern, vom Brunnen die Wasserkübel holen, oben soll sie sein und unten soll sie sein. Und wenn in der Wirtschaft irgendwo was schiefgeht, was ungeschickt gemacht, was zerbrochen wird – das Agerl hat's getan – an allem ist das Agerl schuld, die Zuchtdirn.

Und wenn der Knecht auf den Bauer einen Zorn hat, etwa wegen zu magerer Kost, wegen zu langer Arbeit und zu kurzen Feierabenden, so schilt er die Zuchtdirn. Wenn sich die Magd mit der Bäuerin zerschlägt wegen heimlicher Wäsche oder geradehin wegen des Liebsten, so schilt sie die Zuchtdirn; und wenn der Stallbub die Ochsen schlägt und er dafür vom Bauer eine Rüge bekommt, so schlägt er nicht mehr die Ochsen, aber die Zuchtdirn. Da geht das Mädchen wohl hin zur Bäuerin und sagt weinend: »Mutter, die Leut' gehn all so viel los auf mich!«

Und die Bäuerin entgegnet: »Haben schon recht, das ist dir gesund, mußt auch was gewohnt werden.«

Und die Mali will gar nicht mehr reden mit der Zuchtschwester, sondern blickt sie über die Achsel an und brummt: »Bist ein Patsch, und das sieht man gleich, wo du her bist. Wärst blieben in deinem Hungerleidkotter und hättst Birnstingel kloben.«

Aber schau, so sehr können sie das Agerl doch nicht niederhalten, daß es nicht nach und nach aufwüchse schlank und frisch, daß es nicht glatte Flachshaare und blühende Wangen bekäme, daß sich an ihm nicht nach und nach das Busentuch wölbte über zwei sanfte Hügelchen. Und so merkwürdig hat sich nun die Zeit gewendet: der Knecht mag einen noch so großen Zorn haben auf den Bauer, so schilt er nicht mehr die Zuchtdirn; der Stallbub mag noch so rauflustig sein gegen die Ochsen und gegen die Menschen, so schlägt er nicht mehr die Zuchtdirn. Im Gegenteile, er wird gegen dieselbe zartsinnig, liebevoll.

Aber je mehr das Agerl in der Achtung der Knechte steigt, desto mehr sinkt es in jener der Mägde, der Bäuerin und der Tochter des Hauses.

Die Bäuerin hat gar bemerkt, daß Fremde lieber dem Agerl nachblicken als der Mali. Ist nicht die Mali die Tochter des Hauses? Hat nicht die Mali die feinen, glatten Hände, und hat nicht die Mali wohlriechende Nelkenöltröpfchen im Haare? Trägt ferner die Mali nicht das neue Samtjöpplein und die goldene Kette um den blühweißen Hals? –»Du, Agerl« schreit die Bäuerin einmal. »Trag deinen geflickten Kittel und geh barfuß, heuer kriegst kein Gewand und keine Schuh', das sag' ich dir. Und kämm mit am Sonntag das Haar nicht alleweil so glatt, bind das braune Tüchel um den Kopf und zieh dir s sittsam über die Augen herab, und duck dich schön zu Boden und versteck dich in der Kirchen ins hinterste Winkel, daß dich niemand sieht: ‘s mag dich so kein Mensch anschauen, bist gar nit so sauber wie du meinst. – Hoffart! Das ging mir noch ab bei der Dirn: da soll sie lieber wieder den Bettelsack auf den Buckel nehmen und um ein Häusel weitergehen. Schau!«

Und das Agerl befolgt die strengen Worte der Bäuerin auf das gewissenhafteste. Ein kurzes, dunkelrotes Kittelchen und ein braunes Lodenjöpplein trägt es; und daß es das Kopftüchlein über die Augen herabzieht, tut ihm sogar sehr wohl, denn wenn ihm die Burschen oft so in die Augen geguckt hatten, das war immer ein Stich im Herzen. Barfuß geht es die ganze Woche, ob auf steinigem Grunde, ob über die Nesselheide.

Wenn des Nachbars kleines Büblein, das auch keine Schuhe hat, in dem Gestrüppe und Gesteine der Heide nicht weiterkommt. und zuletzt gar laut zu weinen anhebt, so eilt das Agerl herbei, bückt sich zu ihm nieder und sagt: »So, jetzt klettere mir da aufs Genick, und reck die Füßl auf beiden Seiten vor, und halt dich gut an meinen Kopf: aber gib Fried, sonst lass' ich dich fallen!« Und so trägt das Mädchen den Kleinen über die Hindernisse hinweg. Indes, das Büblein ist zum Dank dafür oft recht unartig; wenn es sich gerade einmal fest und sicher an das Agerl geschlungen und geklammert hat, hebt es mit den Füßen langsam an zu krabbeln und zu zappeln, so daß das Mädchen kichernd schreit: »Du vertrackter Bub, du kitzelst mich ja! Ich schmeiß' dich weg!« Aber es tät's doch nicht, selbst wenn es könnte.

Mit den Burschen wird das Agerl nach und nach anbandeln – das fürchtet die Bäuerin am meisten, sie hat das Mädel ja auf dem Gewissen. Holzapfelessig gießt sie auf die Haken und Bänder der Tür, welche in Agerls Schlafkammer führt; und jetzt soll nur einer kommen in der Nacht! Sobald er die Tür nur anrührt, schreien und winseln es die rostenden Angeln aus, daß das ganze Haus davon erwacht. Das will sie doch sehen, die Bäuerin, ob man so einem jungen Volke nicht genugsam werden kann.

Wohl ist auch die Mali schön und hat ein süßes Blut, doch die ist gescheiter, die bewahrt sich schon selbst. Und sie wird ja ohnehin bald einen Mann haben, sie kann sich einen aussuchen, sie ist eine reiche Bauerstochter.

Und es kommen die Freier. Freundlich grüßen sie das Agerl, das in seinem einfachen Kittelehen in Haus und Hof emsig seinen Arbeiten obliegt, und sie sagen zur Bäuerin: »Dein Töchterl, gelt?«

»Bei Leib nit, bei Leib nit!« entgegnet die Bäuerin schnell. »Na, das wär nit übel, wenn ich so einen Patschen da zur Tochter hätt'! Eine Zuchtdirn. Kann sich ja gar nicht schicken und so einfältig ist sie – zu Tod' tät' ich mich schämen mit so einem Kind. Ein Bettler-Balg ist's, und ich hab's aus Barmherzigkeit ins Haus genommen, vor – Mali, wie lang ist's schon, daß wir die Betteldirn ins Haus bracht haben?«

Nein, wahrhaftig, verrückte Leut' sind diese Freier; sie hören gar nicht, was die Mali antwortet, sie sehen in einem fort nur dem Agerl zu und lächeln und stellen gar Worte an die Zuchtdirn.

Sie haucht nur »ja« oder »nein« und blickt unverwandt auf die Arbeit und wird glutrot im Gesichte.

Die Freier gehen wieder davon.

Mali und ihre Mutter können es gar nicht begreifen, und letztere sagt: »Ich bitt' dich, liebes Kind, so sei doch recht freundlich, wenn fremde Leute kommen, und halt dich sauber!«

Das Agerl darf aber nun nie mehr zu Hause arbeiten; es muß mit dem alten Knecht in den Wald, muß Bäume umhauen und absägen helfen, oder es muß auf dem Felde die ausgeackerten Steine wegschleppen – Arbeiten, die sonst von kräftigen Männern verrichtet werden.

Zu Weihnachten aber bekommt die junge Magd keinen Jahrlohn, denn sie ist eigentlich und jetzt auf einmal »ein Kind vom Hause«. Sie bekäme Plätze mit besserer Pflege und mit Jahrlohn; sie darf aber nicht fort, die Hofbäuerin hat sie auferzogen; und sie will auch nicht fort, sie will dankbar sein für die Wohltat, und sie harrt aus in Fleiß und Arbeitsamkeit und in geduldiger Ergebung.

An Sonntagen auf dem Kirchwege suchen sich Burschen zu ihr zu gesellen, wollen sie ins Wirtshaus mitnehmen und ihr Wein und Kaffee zahlen.

»Dank gar schön! Wir haben schon daheim was«, entgegnet das Mägdelein und eilt davon.

Und die Mali ist noch immer ledig, und die Freier fragen noch immer, auf das Agerl deutend: »Ist das dein Töchterl, Hofbäuerin?«

Das wird der Hofbäuerin endlich zu toll, und sie meint, das müsse anders werden. Sie nimmt Baumöl und bestreicht damit die Haken und Bänder der Tür, welche zu Agerls Schlafkammer führt, so wie sie dieselben einst mit Essig begossen hat. Nun werden sie kommen, die Knechte in bloßen Strümpfen, die Burschen der Nachbarschaft, die Türe wird sie nicht mehr verraten; in einigen Monaten werden die Freier nicht mehr nach der Zuchtdirn fragen.

Aber das Agerl schiebt an jedem Abend fürsorglich den Holzriegel vor die Tür.

Da kommen eines Tages der junge Hochriegler und sein Pate ins Haus. Sie fragen zuerst, ob keine Kalben zu verkaufen, sie gingen im Viehhandel um. Später, so beim Pfeifenstopfen, läßt der junge Hochriegler das Wort fallen: »Ist das Agerl nicht daheim?«

»Die Dirn ist im Holz.«

»Ich mein', wir suchen sie ein wenig auf, Göd«, sagt er zum Paten, und sie gehen dem Walde zu.

Die Bäuerin schaut nur so. Ja, was wollen denn die mit der Dirn?

Sie erfährt es bald, denn es geht schnell: Das Agerl wird Hochrieglerin – könnte jetzt seine Ziehmutter über die Achsel ansehen, denn der Hochrieglerhof ist das größte und wohlbestellteste Bauerngut in der ganzen Gegend.

Bei der Hochzeit geht die Hofbäuerin immer Arm in Arm mit der jungen Braut und sagt: »Nein, aber die Freud', die ich hab'! Den heutigen Tag vergess' ich mein Lebtag nit. Dein Glück geht mir zu Herzen, Agerl, und wenn du meine leibliche Tochter wärst, lieber könnt' ich dich nicht haben, das kann ich wohl sagen. Allweg ist's meine größte Sorg' gewesen, daß du bei mir was gelernt hast und brav geblieben bist. Und das kann ich mir nit verhalten«, fährt sie lispelnd fort, »wenn ich dich dem Hochriegler nicht alleweil so angelobt hätt', du wärst heute nicht die vornehm' Bäuerin.«

Und zu Hause schlägt die Hofbäuerin vor Unmut drei Töpfe zusammen und brummt in sich hinein: »Sein Lebtag, da kann man wohl sagen, da hat eine blinde Henn' ein Weizenkorn gefunden. Eine Ungerechtigkeit ist jetzt auf der Welt – ‘s ist eine Schand' und ein Spott!« –

Nicht alle Ziehmütter sind so böswillig, und bei weitem nicht alle Ziehtöchter heiraten reiche Bauernsöhne. Viele dieser verwaisten Kinder verkommen und verkümmern körperlich und geistig aus Mangel an Pflege oder unter der Wucht der Arbeit, welche ihnen über ihre Kräfte auferlegt wird Den leiblich Ausgebildeten wird nach ihrem zwanzigsten Jahre regelmäßig das Schürzenband zu kurz, es mag Baumöl an die Türangeln kommen oder Holzapfelessig.

 


 


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