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Albanien ist schön, unglücklich und trotz seiner Aktualität langweilig. Die Berge sind manchmal aus einer unbestimmten, klaren Substanz, man könnte sie für grünbemalte, gläserne Klumpen halten. Nur an trüben Tagen, der Himmel ist dann nicht mit echten Wolken bedeckt, sondern mit einem dünnen Überzieher aus Wolkenstoff bekleidet, fühlt man, daß die Berge Gestein sind. Sie sind massiver geworden, auch unerbittlicher, das ganze Land ist wie ein abgeschlossener Hof, von natürlichen Gefängnismauern eingefaßt, die Freiheit ist ein relativer Begriff, man fühlt deutlich, daß es keine Eisenbahnen gibt, uns in das Jahrhundert zu führen, das unsere Heimat ist, man fühlt, daß Schiffe, zwei Stunden, vier Stunden, zwölf Stunden von hier entfernt, nur einmal in der Woche vor einem albanischen Hafen halten, und die Exotik lastet doppelt grausam als selbstgewählte Pein. Von Berlin aus betrachtet, ist Blutrache interessanter. In ihrer Heimat aber ist sie von Schmutz, Wanzen, finstern Nächten, zerbrochenen Petroleumlampen, fetten Speisen, Malaria-Anfällen, trübem Seegrastee wettgemacht, gleichgültig und selbstverständlich geworden.
Unter solchen Umständen bin ich für Schönheiten der Natur weniger empfänglich als etwa die optimistischen geborenen Touristen. Ich registriere höchstens: stille, blaue Tage von einer erhabenen Einfachheit, voll von einer guten Sonne, die selbst noch den Schatten brät und in jeder kühlen Felsspalte fühlbar ist, ein paar Vögel (die hier selten sind, weil man so fleißig schießt) in der Luft und selbstverständlich auch auf den Zweigen, Wälder von einer unermeßbaren Stille, Tiefe, Unendlichkeit, Vergessenheit. Ein paar Häuser, fensterlos, ringsum geschlossen, taube und blinde Würfel aus Stein, plump, rätselhaft und tragisch, trächtig von Schicksalen und geheimnisvoll verflucht. Auf jedem der Häuser, die so angelegt werden, daß sie einem Mörder Rast, einem Verfolgten Zuflucht, einer ganzen Sippe Sicherheit bieten, liegt der sogenannte Zauber der Unheimlichkeit, dem ich lieber nicht nahe komme. Ohne die Erlaubnis des Hausherrn darf man hier nicht die elendeste Hütte betreten. Hat man aber die Erlaubnis erbeten, so ist die Gastfreundschaft herzlich und unter eigener Lebensgefahr ausgeübt. Sie ist eine schöne Sitte, die Gastfreundschaft, sie führt auch zu den edelsten Beweisen der Menschlichkeit. Aber sie hat freilich ihre guten Gründe in der egoistischen Überlegung der Menschen, die statt einer Gerichtsbarkeit die Blutrache haben, daß man sich irgendwo ausruhen muß, wenn man verfolgt wird, und daß schließlich jeder einmal verfolgt wird. Wenn man konsequent skeptisch denkt, kommt man zu der Überzeugung, daß eine gute Polizei besser ist als Gastfreundschaft.
Mögen mir Albaner und andere Nationen nicht übelnehmen, daß ich einen unproduktiven Konservatismus zu schätzen nicht genug begabt bin. Die Albaner haben leider – neben anderen Eigenschaften, die ich verehre – diese eine, die ich nur verstehe: sie sind ängstlich bedacht, alte Sitten zu bewahren, nicht nur am albanischsten zu bleiben auf Kosten der Menschlichkeit, sondern auch ihre Stammeseigenart auf Kosten der Nation zu pflegen. Diejenigen Albaner, die außerhalb des Landes wohnen, sperren sich freiwillig ab, heiraten nur untereinander und mißtrauen ihrer Umgebung. In Amerika bleiben sie Albaner, sprechen miteinander Albanisch und kehren nach einigen Jahrzehnten zurück, wozu? – um in Albanien einen Gürtel aus Patronen zu tragen. Sie haben wie manche kleine Völker jene Art von nationaler Treue, die der Nation zum Aussterben verhilft und die nationale Kultur arm erhält. Daher kommt es, daß die albanische Sprache heute noch kein Wort für »Liebe« hat, nicht einmal bestimmte Bezeichnungen für die Farben des Spektrums, kein Wort für »Seele«, kein besonderes Wort für »Gott«, daß die albanische Literatur heute schon reicher, zumindest ein gewisses Abbild des heutigen albanischen Lebens sein könnte, aber immer noch so simpel ist wie etwa die ersten Lieder der europäischen Menschheit und selbst hinter der Entwicklung dieses langsamen Landes zurückbleibt. Die Stoffe der Literatur sind bukolische Familienangelegenheiten. Gleichzeitig mit dem nationalen Konservatismus lebt die Stammesfehde auf Kosten der Nation, religiöser Fanatismus auf Kosten der Religion. Denn die Albaner sind nicht etwa sehr gläubig. Aber ihre Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis allein verführt sie, die Angehörigen der anderen Konfessionen mißgünstig anzusehen.
Ich weiß, daß die meisten »nationalen Eigenschaften« Folgen der unglücklichen Geschichte sind, der jahrhundertelangen bitteren Kämpfe gegen die Türken. Aber Tausende von Albanern gingen freiwillig in türkische Dienste, waren türkische Günstlinge, Feldherren, Beamte, halfen ihr Land unterdrücken und – blieben dabei Albaner. Launen der nationalen Natur! Ein albanischer Major sagte mir: »Es ist noch ein Glück, daß uns die Türken unterdrückten und von ihrer Kultur abgeschlossen hielten. Denn sonst wäre heute die albanische Sprache spurlos verschwunden.« Es war, wie gesagt, ein albanischer Major, der so sprach. Deshalb erwiderte ich nicht, was mir auf der Zunge lag, nämlich:
Was haben Sie davon? Sagen Sie Ihrer schönen Frau: Ich liebe dich! auf albanisch. Wäre es nicht besser, auf türkisch alles zu sagen als auf albanisch nur die Hälfte? Es ist ein Verbrechen, eine Nation zu unterdrücken. Darin stimmen wir beide überein. Aber das negative Resultat dieser Unterdrückung, das in der zufälligen Erhaltung einer wissenschaftlich interessanten Sprache besteht, gerade deshalb zu loben ist kindischer und falscher nationaler Stolz. Das aber sagte ich nicht.
Ich kam durch Städte von einer erhabenen Unheimlichkeit, in Städte von einer einfachen, großen Trauer. Ich sah Elbassan. Es ist eine der ältesten Städte des Landes. Ihre steinernen Häuser in steinernen Höfen, in steinernen Gärten haben die Monumentalität des Todes und gleichzeitig seine idyllische Trauer. Es gibt nichts Ergreifenderes als dieses Grün zwischen Steinen, dieses weiche, nasse Moos in den Furchen und Sparren, die Blüte des Moders und des Nichts. Der Stein erscheint gleichsam noch steinerner. Die Stadt erinnert in ihren Windungen, mit ihrem gebuckelten Basar, mit ihren Bogengäßchen an eine Art riesigen, launenhaft gegen alle Gesetze gewundenen Schneckenhauses, dessen erster Bewohner verstorben ist und einem Gewimmel lässiger, brauner, malerisch angezogener, auch mit Schmutz und Gebresten behafteter Händler seinen Platz überlassen hat. Übrigens gehören die meisten Häuser von Elbassan dem Herrn Shefgjet Verlaci, dem künftigen Schwiegervater Achmed Zogus. In Elbassan gibt es einen der schönsten, weitesten, grünsten Gebetplätze des ganzen Landes, auf dem am heißen Nachmittag die Priesterschüler und die Priester liegen, der Metaphysik gewidmet. Im Osten sind die großen mohammedanischen Friedhöfe mit Grabsteinen, die an riesige Pilze erinnern, im Süden steht die berühmte, gesprengte Skumlibrücke, weiterhin ein langgestreckter, tiefgrüner Olivenwald, ein Bühnenwald aus einer Märchenvorstellung.
Ich erwähne Kruja. Es ist idyllisch, primitiv. Es erinnert an die ersten Bücher Mosis, an die Geschichte, in der erzählt wird, wie Rebekka zum Brunnen ging. Ein naiver biblischer Jugendflaum liegt über der dörflichen Stadt, in der Töpfe in großen, glühenden, offenen Öfen gebrannt werden, alttestamentarische Topfformen, Henkelkrüge aus unschuldigem Ton, bräunlich-mädchenhaft, mit jugendlich schlanken Hälsen und Hüften und ein bißchen unfertigen, dünnen Trichtern. Auf offenen Feuern kocht türkischer Kaffee. Das Kaffeehaus besteht aus einem Cafetier und aus einer unbeweglichen Waage, auf deren zwei Schalen ein paar Täßchen klirren, gefüllt mit schwarzem, dickflüssigem, süßem Saft. Diese Stadt regiert mit harter Hand ein Gendarmeriekommandant, der früher Bandenführer war (vulgär Räuberhauptmann). Er hat eine schöne Uniform mit goldenen Sternen.
Man begegnet auf den Wegen echt biblischen Szenen: Hirten mit Schals gegen Sonnenbrand, gefleckten Schäfchen, Hütten aus Blättern, Zelten aus geflochtenen Weiden, Männern auf Mauleseln, verschleierten Frauen, die im Gehen stricken. Das Land ist so friedlich, daß man an die gefährlichen Mordsitten nicht glauben will. Dennoch lernte ich einen Mann kennen, der einmal seinen Freund rächen wollte und aus Irrtum einen Unschuldigen erschoß. Er hatte eben Pech. Denn dieser Unschuldige hat zum Überfluß noch sieben Brüder, die alle hinter meinem Mann her sind. Er hat schon mehrere Unterhändler ausgeschickt, aber es dauert, ehe man sich einigt. Seit drei Monaten erwartet er jede Stunde den Tod. Es ist nicht etwa ein primitiver Albaner. Es ist ein Mann, der in Paris als Munitionsarbeiter gelebt hat und zurückgekommen ist, eigens um Blutrache zu nehmen. Obwohl er selbst verfolgt wird, sucht er immer noch den richtigen Mörder seines Freundes.
Kommt man dann in dreivierteleuropäische Städte wie Skutari, Valona, Korça, in Städte mit Stehkragen, Krawatten, Ansichtskarten, Rasierklingen, Goldplomben, Fordautomobilen und Advokaten – so glaubt man noch weniger an die Möglichkeit einer so engen Nachbarschaft von Halbkultur und Heldenepos. Dennoch ist der Bruder des Friseurs ein echter, erfolgreicher Bandenhäuptling. Kommt er in die Stadt, so läßt er sich rasieren, trinkt einen Kaffee und spricht wie du und ich. Menschen sind wir alle.
Die städtischen Albaner sind die furchtsamsten Menschen im Gespräch. Es gehört hier zum Schießen weniger Mut als zum Sprechen. Bevor ein Albaner seine wahre Meinung sagt, schießt er lieber. Er fürchtet die Ohren der Wände. Er sieht in jedem einen Spitzel, hat aber nur zur Hälfte recht; denn nur jeder zweite ist ein Spitzel. Eine albanische »Ochrana«, etwa im Sinne jener festgefügten russischen Organisation, gibt es nicht schon weil jeder albanische Städter, mit Leidenschaft und ohne aufgefordert zu sein, Nachbarn und ihre Handlungen und Wege beobachtet, ein kindisches Vergnügen darin findet, »Geheimnisse« zu entschleiern und in vollkommen offenen und harmlosen Vorgängen gefährliche Geheimnisse sieht. Sie komplizieren sich das Leben, die guten Albaner. Ein Fremder wird nicht etwa besonders beobachtet, sondern mit Leidenschaft und aus primitivem Interesse von allen beobachtet. Viele Albaner, mit denen ich zufällig bekannt wurde, sagten mir auf den Kopf zu und machten dabei ein schlaues Gesicht: »Sie sind ein Journalist« – als hätte ich es zu verbergen gesucht und als müßte ich mich ertappt fühlen. Fragte ich aber: »Was gibt es Neues?« oder: »Was schreibt Ihre albanische Zeitung, die ich nicht lesen kann?«, so zuckten sie mit den Achseln, weil »Neues« sehr gefährlich ist und jedes Wort, das einer »Neuigkeit« ähnlich sieht, einen verraten könnte. Eine ständige Formel ist die Antwort: »Ich weiß nichts Neues! Erzählen Sie mir etwas. Sie wissen doch alles!« Dann kann man sicher sein, daß der verschwiegene Albaner sofort zu irgendeiner interessierten Stelle gehen wird, um zu berichten: »Er hat gesagt, daß ...« Die Lust dieser Menschen am Spionieren ist ebenso groß wie ihre Furcht, eine Meinung zu äußern. Und so selten äußern sie eine Meinung, daß sie mit der Zeit jede eigene aufgeben und nur fremde anhören. Denn wozu eine Meinung, die man verschweigt? An die Stelle einer politischen Überzeugung tritt politisches Parteigängertum, an die Stelle eines Kampfes die Konspiration, an die Stelle des Worts die Andeutung, an die Stelle der Vorsicht die Furcht. In diesem Land ist kein Regierender sicher und kein Regierter. Es gäbe keine öffentliche Meinung – selbst wenn sie gestattet würde. Im Laufe der langen Jahrhunderte haben die Albaner jede Freude am Recht zur öffentlichen Meinung verloren. Sie machen selbst aus unzweideutigen Offenheiten heimliche Rätsel. Gefahrlose Dinge goutieren sie nicht.
Ihre Tugenden sind Höflichkeit, Stille, Sanftmut, Bescheidenheit. Ihre gefährlichste Eigenschaft: die Liebe zum Geld. Es gibt Gegenden, in denen die Bauern Goldhaufen vergraben haben und immer weiter fleißig Gold sammeln. Vielleicht ist ihre Genügsamkeit zur Hälfte Geiz. Sie sind infolgedessen weniger arbeitsfaul als schwach. Sie leisten viel weniger als ein Europäer, weil sie schlechter genährt sind. Ihre Bedürfnislosigkeit grenzt an Unsinn. Ihre Bescheidenheit ist traurig und bedrückend – ebenso bedrückend wie das frauenlose Leben in den Städten, in denen man tagelang keine Frau sieht, keine helle Stimme hört. Das Leben ist enterotisiert, die Liebe ist degradiert zur häuslichen Tugend, und ein Spaziergang ist langweilig wie ein Weekend.
Welch ein aktueller Boden! ...