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Nun war die Frage, welches persönliche Betragen mir die sotanen Umstände geboten.
Ich sah auf einmal wieder den Weg vor mir offen zu großen und außerordentlichen Dingen. Langgehegte Träume meiner Jugend nahmen plötzlich leibhaftige Gestalt an. Das Unmöglichste schien jetzt möglich. Mein klarer Geist sah die Tore des Ruhms weit vor mir aufgetan.
Ich widerstand dennoch für jetzt jeder Versuchung.
Auch in diesen Tagen, die mir die größten Dinge in nahe Aussicht stellten, vergaß ich die Dankbarkeit nicht, die ich der Königin schuldete.
Und ich hielt mich verpflichtet, dieser Dankbarkeit nicht nur meine berechtigten Empfindlichkeiten wider den Kardinal, sondern auch alle noch so glänzenden Aussichten auf Ruhm und Größe zum Opfer zu bringen.
Indessen wußte ich nur zu gut, daß auch meine äußerste Ergebenheit und Loyalität gegebenenfalls nicht imstande sein würde, mich vor dem bösen Willen des Kardinals sicher zu stellen.
Darum fand ich es geraten und wohlgetan, zwei Eisen im Feuer zu haben.
Ich wollte gegen die Königin offen und aufrichtig bleiben, aber zugleich auch der Stadt gegenüber nichts versäumen, was nur irgendwie geeignet sein konnte, meine Popularität zu erhöhen und zu bekräftigen.
Meine damaligen Ausgaben an Almosen und sonstiger Wohltätigkeit beliefen sich allein für die Zeit vom ersten April bis zum fünfundzwanzigsten August auf einmalhundertzwanzigtausend Livres.
Der Königin hinwieder und dem Kardinal glaubte ich nicht besser dienen zu können als dadurch, daß ich ihnen über die Stimmung des Volkes durchaus reinen Wein einschenkte.
Was tat aber der Kardinal? Er spottete meiner. Er sagte jedermann, daß ich die lächerliche Rolle des Wolfes spiele, der mit seiner Fabel von der Gefährlichkeit der Schafe dem Schäfer bange machen wolle. Ich aber sah den Tag näher und näher rücken, wo der Kardinal seine Spötteleien teuer würde bezahlen müssen.
Noch einmal hatte Mazarin ein ungeahntes Glück. Am fünfundzwanzigsten August (1648) traf am Hofe die Nachricht ein von dem beispiellos glänzenden Sieg des Fürsten von Condé über die spanische Reiterei in der Schlacht bei Lens.
Diese Nachricht wurde von dem Herzog von Châtillon überbracht. Er traf mich, wie er gerade von der Königin und dem Kardinal kam, in dem Palaste Lesdiguières bei meiner Tante.
»Gebt acht,« sagte er mir, «dieser unerwartete Erfolg wird den Kardinal in einem Augenblick, wo er ganz und gar auf dem Hunde war, von neuem aufs hohe Roß setzen. Er wird den Sieg der französischen Waffen vor allem dazu ausnutzen, Volk und Parlament mehr als je unter seiner Knute zu halten.«
Die Rede des Herzogs von Châtillon traf mich wie ein Schlag. Der Erzbischof von Paris hatte sich abermals nach dem Anjou zurückgezogen, ich war also zur Zeit die oberste geistliche Autorität zu Paris. Mein Amt gebot mir, für meine Diözesanen zu tun, was nur in meinen Kräften stand.
Unverweilt verließ ich den Palast Lesdiguières und begab mich nach dem Louvre. Anna von Österreich empfing mich mit den Ausdrücken des lautesten Jubels. Der Kardinal schien mir gemäßigter in seiner Freude. Beide behandelten mich aufs herzlichste.
»Das ist nun eine günstige Gelegenheit,« sagte mir der Minister vertraulich, »dem Parlament und dem französischen Volke zu beweisen, daß ich keineswegs der bin, für den man mich verschrien hat. Dieser Sieg gibt mir allen Vorteil in die Hände. Ich gedenke aber nicht, die Lage für mich auszunützen. Die allgemeine nationale Freude stimmt mich vielmehr zur Milde und Nachgiebigkeit, wie ich schon in den nächsten Tagen durch die Tat beweisen werde.«
So befriedigt hatte ich noch nie den Louvre verlassen wie an diesem Tage.
Tags darauf, den 25. August, als am Vorabend zum Feste des heiligen Ludwig, hielt ich in der Kirche der Jesuiten die Festpredigt vor dem jungen König.
Ich sprach zunächst von dem, was alle Herzen mit Freude erfüllte, von dem Sieg unserer Waffen bei Lens. – »Damit,« fuhr ich fort, »hat Gott von neuem bewiesen, daß er noch heute, wie in vergangenen Jahrhunderten, die geheiligte Person unseres Königs in seiner ganz besonderen Gnade hält, und wir wollen ihm dafür auf den Knien danken und ihn lobpreisen mit Hymnen und Psalmen. Mit hoher Freudigkeit erfüllen wir diese Pflicht. Doch darüber dürfen wir, im Bewußtsein unserer hohen Verantwortung, die andere ebenso ernste Pflicht nicht vergessen, nämlich die: Deine geheiligte Majestät, großer König, nachdrücklich daran zu erinnern, wozu solche auffällige Beweise der göttlichen Gnade Dich in Deinem Gewissen auffordern müssen.
»Wir feiern heute das Fest des heiligen Ludwig, Deines großen Ahnen. Wie sollte ich da nach eigenen profanen Worten suchen, da ich in der glücklichen Lage bin, und nur zu wiederholen brauche, was jener große, jener ruhmreiche, jener heilige König im Angesicht des Todes zu seinem Sohn und Nachfolger gesprochen hat. Und so darf ich wohl sagen, daß er es selber ist, der von seinem hohen Platze am Throne Gottes aus jetzt durch meinen Mund zu Dir spricht. Audi, fili mi, disciplinam patris tui. So hat Ludwig der Heilige in dem Augenblick, da er im Begriff stand, vor seinen ewigen Richter zu treten, zu seinem Sohne gesprochen, und so spricht er heute im Angesicht des lebendigen Gottes selbst, zu Dir, König: Merke wohl auf, mein Sohn und höre die Lehren Deines Vaters. Verliere nie aus den Augen, daß Du vor allem andern Deinem Volk ein Trost und eine Stütze seist. Stärke nichts so sehr in Deinem Volke als den Freimut, weigere Dich nie, des Volkes Klagen und Beschwerden anzuhören, und vor allem neige Dein Ohr den Armen, da sie es sind, die am öftesten unterdrückt werden. Sei streng gegen Dich selber und laß nie unter Deinen Dienern und Verwaltern den Glauben aufkommen, als ob sie durch Ungerechtigkeiten und Mißachtung der Volksrechte Dir angenehm werden könnten.«
Ich überlasse es Euch, schöne Frau, Euch vorzustellen, wie diese Rede auf das Volk von Paris gewirkt hat.
Zu jeder andern Zeit hätte man meine Predigt angehört, wie man eben Predigten anhört, will sagen, ohne sich viel dabei zu denken. In diesem Augenblick aber, der äußersten Spannung zwischen dem Volk und der königlichen Regierung, fielen meine Worte wie ebenso viele zündende Blitze in die aufgeregten Gemüter, und wenn man in der Umgebung des Kardinals wahrscheinlich nicht sehr mit mir zufrieden war, in der Stadt Paris, von einem Ende zum andern, war man es um so mehr.
Wenn ich mich an jenem Tage auf der Straße gezeigt hätte, das Volk von Paris würde mich auf Händen getragen haben, und noch nie hat vielleicht ein Mann durch die bloße Macht seines Wortes in so hohem Grad die Herzen eines ganzen Volks sich wie im Sturm erobert.
Meine Popularität, seit lange groß zu Paris, stieg an diesem Tag auf einen Gipfel, den ich mir nie zu träumen gewagt hätte.
Aber hier mögt Ihr nun sehen, verehrte Freundin, wie in dem Mikrokosmos, Mensch genannt, das Außerordentliche und das Gemeine oft hart nebeneinander liegen.
Die Bekräftigung dieser Wahrheit schon allein, auch abgesehen von dem Versprechen, das ich Euch gegeben habe, Euch nicht das geringste in meinem Leben zu verschweigen, fordert das Geständnis eines Unglücks, dessen stärkste Seite die Lächerlichkeit ist.
Ihr erinnert Euch an meine Base von Retz, die ich einst nahe daran war, nach Holland zu entführen. Sie hat nachher den Herzog von Brissac geheiratet. Wir hatten uns lange nur wenig gesehen, in letzter Zeit aber besuchte sie mich auf einmal so häufig, daß es mir auffiel. Es war mir nicht um sie zu tun. Um so mehr verriet sie ihrerseits, wie gern sie bereit wäre, unsere Kindereien von ehedem wieder aufzunehmen. Kurz, ich war zuletzt auch nicht grausam und hatte es zu bereuen. – Denn nur zu bald merkte ich, daß mich die liebe Base mit einem Geschenk in Form einer kleinen Krankheit begabt hatte. Dieselbe stammte von Herrn von Brissac, der seiner Frau, die er haßte wie den Tod, dieses Benefizium herzlich gegönnt haben mochte. Und so war auch die Herzogin, wie sie mir nachträglich gestand, nur zu mir gekommen, um sich an mir dafür zu rächen, daß ich sie einst, wie sie meinte, leichter Hand aufgegeben und dem Dirnenjäger von Brissac ausgeliefert habe. Als ob meine Verheiratung mit ihr in meiner Macht gelegen hätte.
Dieser Unfall ereignete sich kurz vor jenem denkwürdigen 25. August. Zu allem war nicht nur mein Arzt auf den Tod krank, der zu meinen Hausgenossen gehörige Chirurg stand ebenfalls nicht zu meiner Verfügung; er hatte sich, einige Tage zuvor, wegen eines Mordes genötigt gesehen, sich versteckt zu halten. – Ich wußte nun, daß der Herzog von Noirmoustier einen in dieser Materie sehr geschickten Arzt besaß, und da der Herzog zu meinen intimsten Freunden gehörte, nahm ich seinen Anstand, mich ihm zu entdecken. Zwar kannte ich ihn als wenig diskret, aber ich dachte zu hoch von seiner Freundschaft, um mir nicht einzureden, daß er mit mir eine Ausnahme machen werde.
Er hat mich bitter enttäuscht. Bei jener Ansprache an den König am Vorabend des Ludwigsfestes war auch er, wie alle Welt, zugegen. Das Fräulein von Chevreuse, der er seit lange vergeblich den Hof machte, und deren Freundin, die Herzogin von Rohdes, waren mit ihm zusammen. Man kann sich denken, daß gerade diese Damen in der Bewunderung meiner kühnen Beredsamkeit nicht hinter andern zurückblieben.
»Wenn Ihr erst wüßtet,« sagte zu ihnen der verschmitzte Noirmoustier – die Herzogin von Rohdes hat es mir später erzählt – »wenn Ihr erst wüßtet, daß unser guter Koadjutor derartig krank ist, daß jeder andere als er nicht einmal imstande wäre, auch nur den Mund zu öffnen.«
Und darauf verriet er den Damen auch den schönen Namen meiner Krankheit. – Beide hätten ihn unter andern Umständen ausgelacht, aber da ich noch am Tage zuvor mich in der Nötigung befunden, dem Fräulein von Chevreuse selber von meiner Krankheit zu sprechen, der ich nur einen weniger lächerlichen Namen beilegte, konnte sie die Wahrheit dessen, was Noirmoustier berichtete, nicht leicht bezweifeln.
So endeten meine Beziehungen zu dem Fräulein von Chevreuse, doch ohne daß der verräterische Noirmoustier deß einen Gewinn hatte.
Dergestalt mischt sich im Leben Hohes und Niederes, und die kennen den Menschen schlecht, die da meinen, daß die kleinen Lächerlichkeiten, die am üppigsten im Gemeinen wurzeln, immer Halt machen vor großen Naturen und großen Bestimmungen.
Ein Brief der Fürstin Anna von Rohan-Guemené mag Euch am besten, schöne Frau, von der Bedeutung meines Auftretens an jenem Tag einen Begriff geben. – Ich habe wohl schon berichtet, daß die Fürstin dem Bekehrungseifer des jansenistischen Herrn Arnauld trotz meiner Gegenwirkung nach und nach immer mehr unterlag, wenn auch die Rückfälle ins Weltliche (was in der Sprache jener Frommen so viel hieß wie das Sündliche) nie ganz ausblieben. Gerade jetzt hatte sie sich zum soundsovieltenmal nach Port-Royal zurückzuziehen für gut befunden, das sich immer mehr in den Ruf zu bringen gewußt, die einzige Zufluchtsstätte für wahre Tugend und Religion zu sein. Nun wurde mir ihr Brief zum Sporn im entscheidenden Augenblick.
»Möge Gott,« so schrieb mir die fürstliche Büßerin aus dem Heiligtum ihrer Zelle, »möge Gott mir verzeihen, in seiner unendlichen Gnade, daß ich ihn seit drei Stunden von neuem aus meinem Herzen verbannt habe, um mich in meinen Gedanken einzig mit dem Manne zu beschäftigen, der durch seine Kühnheit verdient hat, ein zweiter Ambrosius genannt zu werden. Ja, mein Herr Koadjutor, und wenn es zehnmal eine Todsünde ist, ich weiß mich vor Stolz nicht zu fassen darüber, von einem Mann geliebt worden zu sein, den die Weltgeschichte einst unter die Großen zählen wird. Das war immer mein heimlicher Glaube, der heutige Tag hat ihn bestätigt. Wenn Herr Arnauld, der mein Beichtvater geworden, wie Ihr wißt, es mir nicht ausdrücklich verboten hätte, ich wäre wahrlich zu Euch geeilt, um Euch meine Huldigung in Person zu Füßen zu legen. Wenig aber fehlte, und ich hätte mich mit dem heiligen Manne für immer überworfen, weil er den Verdacht aussprach, das Wohl des Volkes und die Gesundung des Staates möchte für Euch nur ein frivoler Vorwand sein, um Eurem schwindelnden Ehrgeiz zur Brücke zu dienen, die man niederreißt, wenn sie ihren Dienst getan hat.
»Nun, mein Koadjutor, Ihr werdet das schwächliche Mißtrauen des viel verketzerten Mannes glänzend zuschanden machen. Mögen alle an Euch irre werden, Ihr wißt, wer an Euch glaubt, und das Größte von Euch erwartet ...«
Gleichzeitig mit diesen Zeilen – über die moralische Schnüffelei des Schulmeisters Arnauld konnte ich ruhig bei mir lächeln – brachte man mir (also in der Frühe des Festes vom heiligen Ludwig) die Zeitung, daß zwischen dem königlichen Palast und der Kathedrale alle Straßen dicht mit Militär besetzt seien. Ich erschrak hierüber nicht wenig, aber eine Meldung des Oberhofmarschalls, daß der König dem Tedeum in der Kathedrale beiwohnen werde, beruhigte mich. So mochte sich das Aufgebot der Soldaten erklären und rechtfertigen.
Leider war die Sache so harmlos nicht.
Seine Majestät – es ist vielleicht gut, daran zu erinnern, daß es sich um ein Kind von acht Jahren handelte – war längst in den Königspalast zurückgekehrt, aber das Militär machte noch immer die Straßen nicht frei. Ja, durch meine Agenten erfuhr ich, daß man aus den Soldaten drei Bataillone gebildet, die den neuen Markt und die Brücke nach dem Justizpalast gegen jeden Verkehr absperrten. – Eine noch schlimmere Nachricht ereilte mich eine halbe Stunde später. Der Graf von Comminges, ein Leutnant von der Leibgarde der Königin, hatte den Gevatter Broussel, einen der Räte der ersten Kammer, so lautete die Meldung, in verschlossenem und verhängtem Wagen nach St. Germain abgeführt; gleichzeitig war Sieur Blancménil, der Präsident der Untersuchungskammer, ergriffen und in den Turm von Vincennes geworfen worden.
Man hatte mir also zwei Tage zuvor im Louvre eine schöne Komödie vorgespielt. Aber so sehr mich die Doppelzüngigkeit des Kardinals im Innersten empörte – er hatte mich noch ausdrücklich gebeten, meine Freunde, soviel an mir läge, von seiner versöhnlichen Politik zu überzeugen – war ich doch fest entschlossen, mich einzig an meine Pflicht zu halten.
In diesem Sinne äußerte ich mich auch gegen meine Freunde, die Grafen von Chapelain und von Gomberville wie den Kanonikus Plot, die an diesem Tage bei mir speisten. Wir saßen gerade zu Tafel, als Herr von Montrésor hereintrat und uns über die Wirkung der oben genannten Verhaftungen berichtete.
Einen Augenblick lang hatte der Schreck die Gemüter wie gelähmt, dann aber sei die Wut des Volkes um so ungestümer losgebrochen, die Zusammenrottungen seien in wenigen Minuten ins Unheimliche angeschwollen, man habe angefangen, die Budiken zu schließen, Barrikaden aufzuwerfen und nach Waffen zu schreien.
Ich hob unverzüglich die Tafel auf und befahl, meine Karosse vorzufahren. Zugleich ließ ich mich mit dem bischöflichen Ornat bekleiden, und so angetan mit allen Insignien meines Amtes, bestieg ich den Wagen, um nach dem königlichen Palast zu fahren.
Ich geriet bald mitten ins Gedränge der zusammengerotteten Volksmassen. Ein schreckliches Wutgeheul drang mir von allen Seiten entgegen. Hie und da verstand ich den Ruf: »Hoch Broussel! Es lebe Broussel!« Da ließ ich meinen Wagenschlag öffnen, um die Nächststehenden anzureden und zur Ruhe zu mahnen.
»Ich gehe zur Königin,« rief ich den Leuten zu, »Ihre Majestät wird euch Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
Das Volk wich ehrfürchtig zur Seite, man rief: «Platz für den Koadjutor!«
Bei der Zufuhr zur neuen Brücke stieß ich auf den Marschall von La Meilleraye an der Spitze der königlichen Garderegimenter. Ich sah ihn in peinlicher Verlegenheit, obwohl das Volk sich noch sehr zurückhielt und nur einige Gassenjungen ein Geschrei machten und hie und da mit Steinen nach den Soldaten warfen.
»Ihr seht mich auf dem Weg nach dem Louvre,« sagte ich zu Herrn von La Meilleraye, nachdem ich ihn zu mir herangewinkt, »es ist durchaus nötig, daß die Königin die wahre Wahrheit erfahre.«
Der Marschall lobte mich um meiner Absicht, ja er schloß sich mir an, um im Palast meine Aussagen durch seine eigene Zeugenschaft zu bekräftigen.
*
Wir trafen die Königin in dem sogenannten großen Kabinett am Ende ihrer Gemächer zu ebener Erde, in dem Flügel nach dem Flusse zu, der damals die kleine Galerie hieß, und über welcher dann seither die Galerie des Apollo erbaut wurde. Unter ihrer Umgebung erkannte ich die Königliche Hoheit von Orleans, den Marschall von Villeroy, den Grafen von Nogent, den Abt von Larivière, den Herrn von Baudru und den Hauptmann Guitaut von der königlichen Leibwache.
Anna von Österreich empfing mich weder gnädig noch ungnädig. Sie war jetzt zu aufgeregt, ja aufgebracht, um daran zu denken, wie schnöd man mich übertölpelt hatte. Der Kardinal aber war viel zu viel Schurke in seinem Herzen, um so etwas wie Scham auch nur zu kennen.
Er schien mir dennoch nicht ohne Verlegenheit. Aus seinem Galimathias sollte ich entnehmen, daß seit vorgestern Ereignisse eingetreten seien, wodurch die Königin zu einer Änderung in ihrer Gesinnung gezwungen worden.
Ich tat so, als ob ich alles für bare Münze nähme und antwortete bloß, ich sei gekommen, meine Pflicht zu tun und erwarte nur die Befehle Ihrer Majestät, um nach meinen Kräften alles zur Beruhigung der Gemüter beizutragen.
Eine unwillige Kopfbewegung der Königin bei meinen Worten, die ich mit aller Bescheidenheit vorgetragen, und die im Munde eines Koadjutors von Paris durchaus am Platze waren, belehrte mich darüber, daß der Hochmut der Großen unverbesserlich ist. – Der Untertan darf nicht die Macht haben, das Gute von sich aus zu tun. Das ist in den Augen der Fürsten eine gefährliche Sache und fast ein größeres Verbrechen, als daß er den Willen hat zum Bösen.
Unterdessen war es dem Marschall von La Meilleraye nicht entgangen, daß der Abt von Larivière, der Graf von Nogent und der professionelle Hofspaßmacher Baudru die Aufregung der Volksmenge als eine verächtliche Bagatelle behandelten und unsere Besorgtheit ins Lächerliche zu ziehen suchten. Er verheimlichte seine Empörung nicht über eine solche Leichtfertigkeit, und ich bekräftigte seine Schilderung der Gefahr.
Der Kardinal antwortete nur mit einem leichten boshaften Lächeln, die Königin aber geriet in hellen Zorn. Sie sprach ein Wort aus, das für ihren Charakter und ihre politische Denkweise charakteristisch ist.
»Eine Revolte auch nur für möglich zu halten,« sagte sie giftig, »heiße ich schon revoltieren. Man spricht nur von Revolte, weil man sie wünscht. Möge sich niemand meinetwegen bemühen. Die königliche Autorität genügt sich selber.«
Nun schien den Kardinal sein Schweigen doch zu reuen. Er wußte offenbar mehr als seine Monarchin. Und ein Ausdruck schmerzlichster Bewegtheit in meinen Zügen mochte ihm verraten, was in mir vorging. Er tat endlich den Mund auf.
»Hohe Frau,« antwortete er mit besänftigendem Ton der erzürnten Königin, »wir alle hoffen zu Gott, daß der Herr Koadjutor unrecht haben möge; die Freiheit seiner Rede aber ist lobenswert. Er ist besorgt für seine Herde, für das Volk von Paris, er ist es ebenso für die Autorität Eurer Majestät. Auch ich bin überzeugt, daß er die Gefahr übertreibt, aber wir dürfen annehmen, daß er es in gutem Glauben tut.«
Die Worte des Kardinals beschwichtigten die Königin, sie sagte mir fast Entschuldigungen.
Indessen hörte die Gesellschaft, der Königin zu gefallen, nicht auf, alles ins Spaßhafte zu ziehen.
Besonders Baudru und der Graf Nogent zeichneten sich darin aus. Sie agierten zusammen die Amme des verhafteten Broussel (der Mann war ein achtzigjähriger Greis) wie sie in ihrem Ammenschmerz das Volk von Paris zugunsten ihres ehemaligen Säuglings aufreizte. Einen ganzen Haufen Witze von ähnlichem Kaliber produzierten sie. Und da sagt man noch, daß in Frankreich die Hofnarren abgeschafft seien. Du lieber Gott, man müßte die Höfe abschaffen, um keine Hofnarren mehr zu haben.
Die beiden spaßhaften Herrn waren sich dennoch der Tragik des Augenblicks durchaus bewußt.
Während man so unter frivolen Scherzen die kostbaren Augenblicke verlor, trat plötzlich der Oberst von Vannes ein, um der Königin zu melden, daß das Volk bereits die königlichen Garden bedrohe. Bei dieser Nachricht fiel nun auch der Marschall von Meilleraye um. Mit einem Ruck warf er den Mann des Rats von sich, fühlte sich nur noch als Soldat.
»Und so was hören wir ruhig hieran,« rief er im Landsknechtton. »Auf, laßt uns lieber sterben für unsere Königin, als solche Frechheiten zu dulden.«
Niemand widersprach ihm, vielmehr stimmte das ganze Hofgesindel mit ein, daß man schon lang die Nachsicht zu weit getrieben, daß es höchste Zeit sei, das Hundepack in seine Löcher zurückzuschmeißen. Die Königin nickte beifällig.
»Wenigstens« platzte der Marschall Villeroy, der sich seither fast schweigend verhalten hatte, in seiner rauhen Art heraus, »wenigstens sollte man sich endlich entscheiden, so oder so.«
Noch einiges andere murmelte er unverständlich zwischen den Zähnen.
»Ihr wolltet noch etwas sagen, Herr Marschall, wandte sich der Kardinal an ihn, »sprecht frei heraus, was ist Eure Meinung?«
»Meine Meinung ist,« antwortete Villeroy barsch, »daß man dem Pöbel seinen Gevatter Broussel unverweilt zurückgeben soll, so oder so, tot oder lebendig.«
»Tot,« fiel ich dem Marschall in die Rede, »das wäre im höchsten Grad unmenschlich und dürfte schlecht zusammengehen mit der Klugheit sowohl wie mit der Frömmigkeit unserer Monarchin; lebendig aber, das freilich wäre eine andere Sache und würde, nach meiner Meinung, die Gemüter mit einem Schlag beruhigen.«
Doch wie erschrack ich über die Wirkung dieser meiner Worte auf die Königin. Sie wurde rot vor Zorn wie ein Puterhahn.
»Ihr wollt, daß ich dem Schurken von Broussel die Freiheit gebe,« rief sie, fast schreiend. »Oh, ich verstehe Euch, Herr Koadjutor, aber lieber will ich ihn mit meinen eigenen Händen erwürgen – « sie machte eine Geste wie um nach mir zu greifen – »ihn und alle diejenigen, die ...«
In diesem entscheidenden Moment, von dem unendlich mehr abhing als irgendeiner der Anwesenden ahnte, erschien unter der Türe des Kabinetts das sonst hochgerötete, jetzt aber kreidebleiche Gesicht des Staatskanzlers Le Tellier. Der feige und wohldienerische Charakter dieses Mannes war bekannt. Er hatte bis zu diesem Augenblick vielleicht auch nicht ein einziges Mal in seinem Leben gewagt, seine Überzeugung auszusprechen. – Diesem feigen Höfling preßte jetzt die Angst die Wahrheit aus. Und der Kardinal, der seinen Freund kannte, wurde betroffen. Wahrscheinlich wirkte weniger der Bericht, den der Kanzler erstattete, als die entsetzliche Angst, die man ihm auf dem Gesichte ablas. Man weiß längst, daß die Furcht ansteckende Wirkung hat. Die des Staatskanzlers ergriff plötzlich allgemein sichtbar die Herzen aller Gegenwärtigen, die ganze Hofgesellschaft schien auf einmal wie umgewandelt.
Man lachte nicht mehr über mich.
Man gestattete, daß der Herzog von Orleans, der Fürst von Longueville, der Marschall von La Meilleraye und meine Wenigkeit endlich ihre Überzeugung aussprechen und begründen durften.
Und alle Genannten äußerten sich übereinstimmend dahin, der einzige Ausweg sei der, dem Volke seinen Broussel zurückzugeben, wenn man nicht wolle, daß ganz Paris zu den Waffen greife.
Aber auch bei dieser Gelegenheit bewahrheitete es sich wieder, daß die Angst wohl mit Vorliebe deliberiert, aber nur schwer zu einem Entschluß kommt. Auf den Vorschlag des Kardinals einigte man sich endlich dahin, dem Volke die Befreiung Broussel's für den andern Tag unter der Bedingung zu versprechen, daß die Menge auseinanderginge und sich ruhig hielte. – »Und wir alle, denke ich,« fügte der Kardinal hinzu, »sind der Überzeugung, daß sich niemand mehr eignet, das Volk hierüber aufzuklären und zu beruhigen als unser lieber Koadjutor.«
Ich erkannte wohl, daß man mir damit einen Fallstrick zu legen gedachte, aber ich sah auch die Unmöglichkeit, mich dieser Aufgabe zu entziehen, um so weniger, als zugleich der Marschall von La Meilleraye, der keinerlei Hintergedanken hegte, mich mit Ungestüm dazu aufforderte, ja mich förmlich mit sich fortzog.
»Ich werde den Koadjutor begleiten,« rief er der Königin zu. »man wird sehen, daß wir Wunder tun.«
»Ich zweifle nicht daran,« antwortete ich zögernd,« besonders, wenn es Ihrer Majestät gefallen möchte, ihr Versprechen in aller Form zu unsern Händen zu geben.«
»Lappalien,« entgegnete mir der turbulante Marschall, »ein Wort der Königin ist mehr als alles Geschreibe.«
Ich wollte noch einmal mein Bedenken äußern, aber die Königin hatte sich bereits erhoben und in das anstoßende, sogenannte graue Kabinett begeben. Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Orleans, schob mich mit beiden Händen sanft gegen die Türe: »Keine Umstände, mein lieber Koadjutor, tut, was keiner außer Euch vermag.«
Mit noch größerem Ungestüm schob der Marschall mich vor sich her, die Musketiere der Garde hoben mich begeistert auf ihre Schultern, und ohne zu wissen wie, befand ich mich auf der Straße, wo das Volk ehrfürchtig vor mir auseinanderwich.
Mit der Linken auf meinen bischöflichen Stab gestützt, teilte ich mit der Rechten nach allen Seiten den Segen aus.
Diese Tätigkeit hinderte mich nicht, darüber nachzudenken und immer deutlicher zu erkennen, wie sehr meine Rolle der Mißdeutung ausgesetzt sei. Ich wollte dennoch bei meiner Pflicht verharren und tat alles, was ich nur konnte, den Tumult zu bändigen; nur daß ich mich hütete, dem Volk in meinem Namen eine Zusage zu machen. Vielmehr begnügte ich mich mit der Erklärung, daß die Königin versprochen habe, den Parlamentsrat Broussel freizugeben, sobald nur die Ruhe wieder hergestellt sei.
Schon zeigte sich auch die günstige Wirkung meiner Worte, als das ungestüme und unvernünftige Betragen des Marschalls auf einmal wieder alles verdarb.
Statt an meiner Seite zu bleiben, wie ich vorausgesetzt hatte, stellte er sich zu Pferd an die Spitze seiner Dragoner und rückte mit diesen und mit gezogenem Degen gegen die Menge vor. Sein Ruf: »Hoch der König, Freiheit für Broussel« nützte ihm nichts. Denn da er von der ganzen Menge gesehen, aber nur von wenigen verstanden wurde, beruhigte er zwar einzelne mit seinen Worten, erregte aber mit seinem gezückten Degen um so mehr die Menge. Man schrie nach Waffen, ein Lastträger drang mit einem rostigen Säbel gegen den Marschall vor, ein Pistolenschuß streckte den Mann zu Boden.
Allgemeines Wutgeheul antwortete dem Schuß. Von allen Seiten wurden Waffen herbeigeschafft, ich sah plötzlich den Marschall in höchster Gefahr. Nur mit Mühe gelang es mir, mich durch das Gewühl bis zu ihm durchzuarbeiten. Ich hoffte, daß man für mein Kleid und Amt noch einige Achtung haben werde. Auch täuschte ich mich nicht, die ergrimmte Bürgerschaft wich zurück, und der Marschall war froh, diesen Vorwand zu benutzen und seinen Dragonern das Feuern zu verbieten.
Doch schon im nächsten Augenblick stürzte sich von den Markthallen her ein wütender Haufe, der mich entweder nicht gewahrte oder nicht gewahren wollte, den Dragonern in den Rücken. Ich sah noch den Leutnant Fontrailles an der Seite des Marschalls blutend vom Pferde stürzen und fühlte, wie die Pagen, die mir die Schleppe trugen, im Getümmel von mir weggerissen wurden, als mich plötzlich ein Steinwurf mit großer Heftigkeit gegen die Schläfe traf und zu Boden warf.
Mit Mühe raffte ich mich wieder auf. In diesem Augenblick hielt mir ein besser aussehender Bürger seinen Flintenlauf entgegen. Nur meine Geistesgegenwart rettete mir das Leben. »Ah, Unglücklicher,« rief ich, »wenn dein Vater dich so sähe!« Aus diesen Worten mochte der Mann schließen, der mir so fremd war wie ein Chinese, daß ich ein guter Freund seines Vaters sei, er faßte mich jetzt erst näher ins Auge. »Herr Gott, seid Ihr der Koadjutor,« rief er aus. Sein Ruf machte die übrigen aufmerksam, und dies benutzte der Marschall, sich zurückzuziehen.
Unterdessen suchte ich mit allen Mitteln die Aufgeregten zu beruhigen. Ich schmeichelte ihnen, ich flehte sie an, ich beschwor sie, ich drohte, ich versprach, ich drang, jetzt bittend, jetzt befehlend, auf Niederlegung der Waffen. Die angeseheneren Bürger traten auf meine Seite, und endlich willigte das Volk in seine Entwaffnung. Ich ließ durch sichere Personen die Waffen sammeln und in der Nähe der Hallen in ein geräumiges Gewölbe bringen; die Leute selber baten mich zuletzt um Verwahrung des Schlüssels.
*
Es war höchste Zeit, daß dies geschah. Wenn das Zusammenrotten der bewaffneten Massen bis zum Einbruch der Nacht fortgedauert hätte, wäre Paris unfehlbar geplündert worden. Und kaum würde man den königlichen Palast verschont haben.
Ich habe in meinem Leben nicht wieder eine so tiefe Genugtuung empfunden als in diesem Augenblick. So groß war diese innerliche moralische Befriedigung, daß ich dabei nicht mit dem leisesten Gedanken an den Louvre und an die Wirkung dachte, die ich dort von meinem Auftreten erwarten durfte.
Und bald sollte es sich zeigen, daß ich wohl daran tat, nichts zu erwarten.
An der Spitze einer ungeheuren aber unbewaffneten Menschenmasse, es waren sicher an die dreißig- bis vierzigtausend Mann, wandte ich mich zum Louvre zurück. An der Barriere des Palastes trat mir der Marschall von La Meilleraye entgegen. Der gradherzige Soldat umarmte mich mit solcher Heftigkeit, daß er mich fast erstickt hätte, und er hatte in der Tat allen Grund, mit mir zufrieden zu sein.
»Ich bin ein roher Geselle und ein Dummkopf obendrein,« sagte er erschüttert, »um ein Haar war ich daran, den Staat in den Abgrund zu stürzen, Ihr habt das ungeheure Unglück verhütet. Nun aber laßt uns zur Königin gehen und zu ihr reden als Ehrenmänner und wahrhaft gute Franzosen, und die Pest will ich kriegen, wenn sie uns nicht Zeuge ist und noch einige Redliche in ihrer Umgebung, auf daß wir am Tage der Volljährigkeit des Königs dieses ganze Geschmeiß von niederträchtigen Schmeichlern am Galgen baumeln sehen.«
Nie habe ich aus dem Munde eines Soldaten so warme und begeisterte Worte gehört. Er trug mich mehr als er mich führte vor die Königin, die wir in ihrem grauen Kabinett, noch immer von derselben Gesellschaft umgeben fanden wie vorhin.
»Hier, hohe Frau,« rief er aus, »bringe ich den Mann, dem ich das Leben, dem Eure Majestät die Rettung Ihrer Garden, ja vielleicht Ihres Palastes verdanken.«
Ein höchst zweideutiges Lächeln auf den Lippen der Königin antwortete ihm.
»Nein, hohe Frau,« unterbrach ich den Marschall, um ihn an der Fortsetzung seiner Lobrede auf mich zu verhindern, »nicht um mich handelt es sich hier, sondern um Eure Bürger, um das Volk Eurer guten Stadt Paris, das unterworfen und entwaffnet, nur des Augenblicks harrt, um sich Eurer Majestät zu Füßen zu werfen.«
Aber schon wieder rötete sich die Stirne der Königin, diese Stirne, die das zartblonde Haar mit so kinderhaften Löckchen umgab, und ihr Auge blitzte mich an in leidenschaftlichem Zorn.
»Ich finde es sehr wenig unterwürfig, Euer gutes Volk,« rief sie mit dem Ausdruck höchster Erbitterung; »schuldig finde ich es und strafbar in hohem Grad. Wenn die Menge aber so von Wut hingerissen war, wie Ihr mich glauben machen wollt, wie war es da möglich, sie so rasch zu besänftigen?«
Über diese Insinuation der Königin, die niemand mißverstehen konnte, ergrimmte nun seinerseits der Marschall.
»Ich beschwöre Euch, hohe Frau,« sprach er mit fester Stimme, »Ihr wollet bedenken, daß jetzt nicht der Augenblick ist, Eurer Majestät zu schmeicheln. Es steht schlimm um uns alle, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Gebt dem Volke diesen Broussel frei oder ich fürchte, es wird bis morgen früh in ganz Paris kein Stein auf dem andern bleiben.«
Ich wollte diese Rede bekräftigend antworten. Mit einer Handbewegung verschloß mir die Königin den Mund.
»Gut, gut,« sagte sie in dem zweideutigen Ton, den man an ihr kannte, »Ihr habt ja wohl ein schweres Stück Arbeit getan, Herr Koadjutor. geht jetzt und ruht Euch aus.«
Groll und Zorn im Herzen, verließ ich das Königsschloß, und langsam fuhr ich in meiner Karosse nach Hause. Aber so ergrimmt ich im Innern war, enthielt ich mich doch jedes aufreizenden Wortes an das Volk, das mich auf dem ganzen Wege in Scharen umgab.
Vor meinem Palaste gar hatte sich eine unübersehbare Menge versammelt. Ich stieg aus den Hochsitz meiner Karosse, zum Zeichen, daß ich reden wolle. In fieberhafter Erwartung harrte das Volk, welche Art Neuigkeit ich ihm aus dem Königspalast zu bringen hätte. – Obwohl ich kaum selber dran glauben konnte, wiederholte ich meinen Zuhörern das Versprechen der Königin, Broussel freigeben zu wollen, sobald das Volk aufhöre, dessen Befreiung mit Ungestüm zu verlangen.
»Gehorsam und Unterwürfigkeit,« fügte ich hinzu, – verdammt nur, daß ich selber nicht dran glaubte – »sind jetzt die besten Mittel, alle Wünsche des Volkes von der Gnade der Königin erfüllt zu sehen.« – Kurz, ich tat alles, die aufgeregte Gemeinde zu beruhigen und zu besänftigen, was mir in diesem Augenblick auch gar nicht schwer wurde, da die Stunde des Abendessens herannahte.
Diese letzte Bemerkung könnte lächerlich scheinen, sie ist aber im Gegenkeil sehr wichtig und charakteristisch. Ich habe immer, bei allen Zusammenrottungen des Volkes, mochte dieses auch noch so aufgeregt sein, unfehlbar die Beobachtung gemacht, daß sie zuletzt alles stehen und liegen ließen, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.
In meinen Gemächern angelangt, verordnete ich zu allererst, daß man mir zur Ader ließ, denn ich fühlte mein Blut erhitzt und die Wunde an der Schläfe von Minute zu Minute schlimmer werden.
Diese Wunde war indes mein geringster Schmerz. Viel schlimmere Dinge quälten mich. Ich hatte zwar dem Volke mein Wort nicht verpfändet, aber ich hatte ihm doch, dem eigenen wohlbegründeten Unglauben zum Trotz, auf die Befreiung Broussel's Hoffnung gemacht. Das mußte bei der Menge so ziemlich auf dasselbe hinauskommen. Werden die Pariser nicht glauben, fragt ich mich, wenn sie ihre Hoffnung vereitelt sehen, daß ich sie verraten, daß ich ihnen eine Komödie vorgespielt und daß ich mit dem Kardinal gemeinsame Sache gemacht habe? Ja, wird man nicht vom Louvre aus alles tun, die Bürger in diesem Glauben zu bestärken und meinen Kredit beim Volke gänzlich zu vernichten?
Ich bereute dennoch nicht einen Augenblick mein Betragen, da ich überzeugt war, daß mein Amt und mein Gewissen mich dazu verpflichtet hatten. Ja, ich schämte mich, mein Ansehen beim Volke einen Augenblick höhergestellt zu haben als meine Pflicht.
Während ich so mit meinen Gedanken ins reine zu kommen suchte, meldete der Lakai den Grafen Montrésor.
»Ihr irrt Euch,« sagte dieser eintretend, «wenn Ihr Euch einbildet, durch Euer Auftreten bei Hof etwas gewonnen zu haben.«
»Ich habe so viel gewonnen,« antwortete ich kühl, »daß man keine Lobreden auf mich halten wird, die einem Manne mit dem Bewußtsein der Pflichterfüllung immer widerwärtig sein müssen. Ich verdanke mein hohes Amt der Königin, wie hätte sie mit mir zufrieden sein sollen, wenn ich in der Gefahr zu Hause geblieben wäre.«
»Sie ist es auch so keineswegs,« entgegnete der Graf. »Ich komme eben vom Fürsten Rohan-Guemené, ich habe die Damen der Königin dort getroffen, die Herzogin von Noailles und die Gräfin von Motteville, und aus ihrem Munde hörte ich das Neueste: Die allgemeine Meinung im Louvre sei die, daß es nicht an Euch gelegen habe und Euerem Wunsch und Willen, wenn das Volk nicht zum äußersten geschritten.«
Ich mochte kein Wort davon glauben, und wenn ich mir auch bewußt war, daß man im Kabinett der Königin versucht hatte, meinen Diensteifer ins Lächerliche zu ziehen, wollte ich mich dennoch überreden, daß allen Teufeleien der Hofschranzen zum Troß mein Verdienst in seiner wahren Bedeutung erkannt worden sei. Und weit weg von mir wies ich den Gedanken, daß man mir daraus gar ein Verbrechen machen könnte.
Aber Graf Montrésor fuhr fort, mir in den Ohren zu liegen, und auch der Herzog von Laigues, der etwas später dazu kam, stimmte in die Litanei mit ein.
Beider Bemühen schien umsonst. Ich hatte mir einmal vorgenommen, bei meiner Pflicht zu bleiben und den Traum meiner Kindheit, nämlich die Aussicht auf eine hervorragende und glorreiche politische Rolle mit dem Heroismus der Tugend von mir zu weisen, wie eindringlich mir die Freunde auch vorstellten, daß jetzt oder nie die Gelegenheit dazu gegeben sei.
Erst die Ankunft des Marquis von Argenteuil führte zu einer Umwälzung in meiner Gemütsverfassung.
*
Ich sehe ihn noch heut', wie er blaß und mit verstörtem Gesichte ins Gemach trat:
»Mein Freund,« begann er, «Ihr seid ein verlorener Mann. Ich komme vom Marschall von La Meilleraye. Ja, ich komme ebensosehr in seinem Auftrag wie aus eigener Bewegung. Er hat an der Tafel der Königin gespeist, und zwei volle Stunden lang habe sich das Gespräch einzig um Eure Person gedreht, habe Eure Person herhalten müssen für die Hanswurstiaden des Herrn von Nogent, die seinen Witzeleien des Herrn von Baudru, die behaglichen Späße des Abt's von Larivière und die ironische Verteidigung Eurer Person durch den Kardinal, unter unaufhörlichem lauten Lachen der Königin. Aber das sei das geringste. Der ganze Louvre sei überzeugt, daß der Aufstand des Volkes allein durch Euch hervorgerufen worden. – »Und da nun tatsächlich eingetreten, woran der Marschall nie habe glauben wollen, was aber der Kardinal immer mit voller Bestimmtheit vorausgesagt: daß alles nur ein Schreckfeuer sei, das sich schnell wieder legen werde, so muß ich selber sagen,« fuhr Argenteuil fort, »daß der Schein in hohem Grad gegen Euch ist. Ich habe eben die halbe Stadt durchquert, nicht ein Hund hat sich in den Straßen geregt; eine aufständische Bewegung aber, die sich so schnell wieder beruhigt, dürfen die vom Hofe mit guten Gründen für abgetan halten. Sie werden morgen ohne Schwierigkeit verhaften, wen sie nur Lust haben. Der Gevatter Broussel soll, wie mir der Marschall sagte, nach Hâvre gebracht werden, und in bezug auf Euch sei bereits die Festung Quimpercorentin genannt worden.«
Bestürzt sahen mich die Freunde an. Dann erhoben sie wegen meines Betragens die heftigsten Vorwürfe. Die kühnsten Hoffnungen hätten sie auf mich gesetzt, meine Unentschlossenheit habe alles vereitelt. Durch meine zaghafte Schwäche stünden sie jetzt alle am Rande des Abgrunds.
Sie hielten auch mich der Verzweiflung nahe, mein stilles Lächeln empörte sie, wie wenn ich sie verhöhnen wolle. Sie mißverstanden mich ganz und gar. Innerlich bebte ich vor freudiger Aufregung.
Ich sah meine Stunde endlich unwiderruflich gekommen.
»Meine Freunde,« sagte ich zuletzt, »wollt Ihr mich nur wenige Minuten zu ernstlichem Nachdenken allein lassen, so sollt Ihr weiter von mir hören.«
Mit diesen Worten zog ich mich in mein Privatkabinett zurück.
Ich brauchte nicht erst darüber mit mir ins reine zu kommen, wessen ich unter den gegebenen Umständen fähig sei. Meiner Macht war ich sicher. Was ich vermochte, war mir klar. Nicht so sehr, was ich sollte und durfte. Aber die Erwägung, daß man mich trotz meiner Zurückhaltung zum äußersten getrieben, daß man sogar das Volk gegen mich gebrauchen wolle, verflüchtigten in mir die letzten Skrupel und ich wollte endlich mit Entschlossenheit ergreifen, was mich allein mit Ehren aus der Klemme ziehen konnte.
Keine Art Glorienschein habe ich von Kindheit an mehr beneidet, keiner schien mir auch jetzt wieder verführerischer als jener Glanz, der in Plutarchs Lebensbeschreibungen die Häupter derjenigen umgibt, die an der Spitze kühner Verschwörungen das Glück oder Unglück ganzer Völker bestimmt haben.
Dennoch gab ein Gedanke ganz anderer Art zuletzt den Ausschlag. Ich war ehrlich genug, um mir zu sagen, daß ich bei meinem unüberwindlichen Hang zum Laster niemals ein guter Bischof sein werde. In diesem Beruf konnte ich wenig Ehre ernten. Ich wußte zu wohl, welche Geringschätzung und verächtlichen Spott sich mein Onkel und einige andere hohe Prälaten von ähnlicher Lebensführung zugezogen hatten. Einstweilen wurde ich noch getragen durch mein hohes Ansehen bei der Sorbonne, durch den Erfolg meiner Predigten, wie insbesondere durch meine Beliebtheit bei dem gemeinen Volk. Aber so was hält selten auf die Dauer. Tausend Zufälligkeiten konnten solche Vorteile zunichte machen. Sobald ich mich aber entschloß, eine hervorragende politische Rolle zu spielen, wurde ich nicht mehr in erster Linie als Priester beurteilt. Was für einen Erzbischof ein Verbrechen ist, kann für das Haupt einer Revolutionspartei ein Ruhm und eine Tugend sein.
Dieser Gedanke kam mir nicht heute zum erstenmal, aber meine Dankbarkeit gegen die Königin verbot mir bis jetzt, ihm Gehör zu schenken. Durch die Vorgänge an der königlichen Abendtafel jedoch und die deutlich hervortretende Absicht des Hofes, mich bei dem Volke in Mißachtung zu bringen, sah ich mich jeder Verpflichtung enthoben und konnte mit gutem Gewissen in die neue Laufbahn eintreten, in der mich seine andere Rücksicht mehr leiten sollte als die Rücksicht auf meinen Ruhm.
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Ich wollte mich schon erheben, um zu meinen Freunden hinauszutreten, als mir auf meinem Schreibtisch ein Brief in die Augen fiel, den man mir am Vormittag übergeben und den ich ganz vergessen hafte. Ich öffnete das Schreiben, es enthielt die gleichen Vorwürfe und Aufmunterungen, wie ich sie eine Viertelstunde vorher von meinen Freunden erfahren. Und der Schreiber? Kein geringerer war's als Prinz Heinrich von Bourbon, Herzog von Beaufort. – Dieser ebenso ehrgeizige wie unfähige Enkel Heinrichs des Großen hatte schon vor fünf Jahren eine Verschwörung gegen den Kardinal angezettelt. Er hatte auch mich damals zur Teilnahme an seinem Unternehmen aufgefordert. Aber da ich seine Geringfügigkeit kannte – er war zu einem leitenden Staatsmann ungefähr so geschickt wie ein Esel zum Lautenschlagen –, hafte ich seiner Werbung sein Gehör gegeben. Man hieß seine Mitverschworenen bezeichnenderweise die Wichtigtuer. Ihre Anschläge wurden schnell entdeckt und vereitelt, ja, der Herzog selber, als er eines Morgens aus den Gemächern der Königin trat, verhaftet und in Vincennes eingekerkert. Von dort entflohen, lebte er seither vergessen in seinem Herzogtum. Er war fraglos der größte Dummkopf unter den Prinzen des königlichen Hauses.
Nun meldete er mir in seinem Schreiben seine Ankunft zu Paris, und diese Nachricht, will ich gern gestehen, war mir in diesem Augenblick höchst willkommen. So unfähig sich Seine Königliche Hoheit an leitender Stelle erwiesen hatte, als Werkzeug in meiner Hand war der Prinz nicht zu verachten. Von den übrigen Bourbonen, dem Herzog von Orleans wie den Fürsten von Condé und Conti wußte ich zwar ganz genau, daß sie sich früher oder später zu meiner Sache schlagen würden; ebenso genau wußte ich aber auch, wie es später zum Schaden unseres Unternehmens nur allzusehr eingetroffen ist, daß sie mir mehr Ungelegenheiten bereiten als Förderung schaffen würden, und daß man mit solchen hohen Herren noch eher fertig wird, wenn man sie zu Feinden, als wenn man sie zu Parteigenossen hat.
Was ich brauchte, war eine Art Strohmann, den ich überall da vorschieben konnte, wo meine geistliche Person besser im Verborgenen blieb. Zu einem solchen Strohmann war dieser Herzog von Beaufort grade gut. Er war kein Katilina, aber er war ein Enkel Heinrichs des Großen, war kindisch eitel auf sein langes, blondes Haar und redete wie ein Sackträger: er konnte Wunder tun vor dem Volke.
Der Brief des Prinzen enthielt auch ein kleines Zettelchen eingeschlossen. In dessen Schrift erkannte ich nicht ohne Bewegung die Hand der Fürstin Anna von Rohan-Guemené. Der Zettel enthielt nur wenige Worte. Sie lauteten: »Du kannst nicht mehr zurück. Gottlob. So wirst du wie ich dich kenne, kühn vorschreiten. Mit dir und deinem Unternehmen alle meine Wünsche und Gebete.«
*
Die Glocke schlug Mitternacht, als ich zu meinen Freunden, den Herren von Laigues, Montrésor und Argenteuil hinaustrat.
»Ihr wißt,« sagte ich. »wie ich mich vor Apologien fürchte; daß mich sein Kriegsruf schreckt, sollt ihr nun erfahren. Der ganze Hof wird mir bezeugen, auf welche Art man mich seit einem Jahr im Louvre behandelt hat. Bis heute war das Volk mein Halt und meine Stütze. Aber dieses Volk zu unterdrücken, machen sie von oben jetzt alle Anstalt: wer aber sollte das Volk verteidigen und seine Unterdrückung verhindern?
»Von mir erwartet das Volk diese rettende Tat. Ihr Freunde habt an meinen Hilfsmitteln gezweifelt, ich will euren Kleinmut beschämen. Schon morgen früh und vor Ablauf der ersten Tageshälfte will ich Herr und Meister von Paris sein, ich verspreche es euch.«
Die beiden Freunde glaubten nicht anders, als daß ich den Verstand verloren habe. – Dieselben Männer, die mich hundertmal mit größter Leidenschaftlichkeit zum Widerstand aufgefordert und mir wegen meiner zögernden Haltung die bittersten Vorwürfe nicht gespart hatten, rieten jetzt, im entscheidenden Augenblick, plötzlich zur Mäßigung.
Ich hörte nicht auf sie. Schon hatte ich heimlich den Parlamentsrat und Präsidenten der Rechnungskammer, Herrn Miron, zu mir berufen, der in diesem Augenblick eintrat. Er war Kommandant der Bürgergarde im Kirchsprengel von Saint-Germain-Lauxerrois, zu dem auch der Louvre gehörte. – Mit diesem kühnen und zuverlässigen Manne verabredete ich die nächsten Maßnahmen. Er sollte noch in der Nacht und in aller Heimlichkeit die vom Volke im Laufe des Tages aufgeworfenen Barrikaden durch seine zuverlässigsten Bürger besetzt halten und mich von Viertelstunde zu Viertelstunde von jeder noch so geringen Bewegung in den Schweizergarden des Louvre und der anderen Quartiere benachrichtigen.
Während wir noch zusammen disponierten, meldete sich Mirons Leutnant. Er brachte uns die wichtige Zeitung, daß die Schweizer unterdessen das Tor von Nesle besetzt hatten. Andere Truppen hätten sich an den Brücken und andern Zugängen zum Parlamentspalast postiert. Daraus schlossen wir, daß ein neuer Anschlag auf das Parlament geplant sei und daß man das Tor von Nesle sich sichern wolle, sei es für die Durchbringung der Verhafteten, die man zu machen gedachte, oder für die Flucht des Hofes, wenn dieselbe nötig werden sollte.
Miron wußte also genau, wo er seine Bürger zusammenziehen mußte. Ich schärfte ihm noch ein, ausschließlich Schwarzmäntel ins Vortreffen zu führen. So nannte man die Bürger der reicheren Klasse. Das geringere Volk trug graue Mäntel. Diese Leute aber sind ihrer Erziehung nach undiszipliniert, während die besseren Bürger mir die Garantie boten, keinen Augenblick eher zum Angriff zu schreiten, bevor der Befehl ergangen. Denn nichts ist so wichtig, als sich in den Augen des Volkes den Schein der Notwehr zu geben; auch wenn man der Angreifer ist, muß doch das Volk glauben, daß wir einzig unsere Sicherheit verteidigen.
Miron war mit allem einverstanden. Er verließ mich mit der Versicherung, bei dem ersten Zeichen, das ich ihm geben werde, die Lärmtrommel zu rühren und die Bürgerschaft offen unter die Waffen zu rufen.
*
Ich hatte allen Grund, mit ihm zufrieden zu sein. Schon eine Stunde darauf brachte mir sein Leutnant die Meldung, daß sich über vierhundert der wohlgenährtesten Bürger, in kleinen Gruppen verteilt, bereit hielten, während die betreffenden Stadtviertel den Eindruck machten, als ob alles im tiefsten Schlafe liege.
Auch meine Freunde hatten Vorkehrungen getroffen. Der Marquis von Argenteuil hatte von dem Chevalier von Humières, der gerade zu Paris für den König Rekruten warb, eine Kompagnie entlehnt und dieselbe in der Werkstatt eines Steinhauers nahe dem Tore von Nesle untergebracht. Er begab sich jetzt dorthin auf seinen Posten.
Ich selber legte mich, es mochte gegen drei Uhr morgens sein, zum Schlaf hin, aus dem mich um sechs Uhr der Leutnant des Herrn Miron erweckte, der mir meldete, daß der Staatskanzler Le Tellier mit dem vollen amtlichen Pomp und bewaffneter Eskorte vom Louvre aufgebrochen sei und sich dem Parlamentspalast nähere. Zu gleicher Zeit ließ mir der Marquis von Argenteuil sagen, daß die Schweizergarde am Tor von Nesle sich in der Frühe verdoppelt habe.
Der Augenblick des Handelns war gekommen. In zwei Worten gab ich meine Befehle und in weniger als einer halben Stunde waren sie zur Ausführung gelangt.
Der Marquis von Argenteuil, als Maurer verkleidet, ein Winkelmaß in der Hand, griff mit seinen Soldaten die Schweizer von der Flanke an, tötete an die dreißig Mann, erbeutete ihre Fahne und schlug den Rest in die Flucht. Der Staatskanzler aber wurde von den Leuten des Obersten Miron von allen Seiten her bedrängt. Er ergriff die Flucht und rettete sich mit genauer Not in den Palast seines Bruders, des Bischofs von Meaux, am Augustinerkai. Das Volk erbrach die Türen des Palastes, um sich seiner Person zu bemächtigen. Zum Glück für den Kanzler konnte der Pöbel der Versuchung zum Plündern nicht widerstehen, der darüber ein gewisses kleines Pförtchen vergaß, hinter dem, sonst zu andern Verrichtungen und Bedürfnissen bestimmt, der Bischof dem Kanzler seine Beichte abnahm. Diese kuriose Beichte und die Beutegier eines verworfenen Gesindels retteten Herrn Le Tellier.
Wie eine Feuersbrunst bemächtigte sich der Aufruhr in wenigen Minuten der ganzen Stadt. Die Berichte, die bei mir einliefen, setzten mich selber in Erstaunen. Alles ohne Ausnahme hatte sich bewaffnet. Sechsjährige Kinder sah man mit Dolchen in den kleinen Fäustchen. Ihre eigenen Mütter hatten sie damit versehen. In weniger als zwei Stunden waren über zwölfhundert Barrikaden errichtet worden, wo es von Waffen starrte. Es wäre unbegreiflich gewesen, wo nur all das Rüstzeug herkam, wenn ich nicht gewußt hätte, daß die Bürger von den Tagen der Liga her alle ihre Waffen zurückbehalten hatten.
Eine ärgerliche Sache berichtete mir der Herzog von Brissac. Ein Offizier unserer Partei hatte sich eine vergoldete Halsberge umgeschnallt mit dem eingravierten Bilde jenes Jakobinermönchs, von dem Heinrich der Dritte ermordet worden, nebst der Unterschrift »St. Jakob und Clement«. So war nicht meine Meinung. Vielmehr durfte nichts den Anschein erwecken, als ob unser Unternehmen gegen die Person des Königs ginge. Ich ließ mir den Offizier kommen und schalt ihn gehörig aus. Seine alberne Halsberge ließ ich unter meinem Palast auf dem Platz vor der versammelten Menge in Stücke schlagen. Alles Volk rief: »Es lebe der König, nieder mit Mazarin.« Andere riefen dazwischen: »Es lebe der Koadjutor.«
Gegen zehn Uhr ließ sich der Schatzmeister der Königin bei mir melden, der mich im Namen Ihrer Majestät beschwor, ja mir ausdrücklich befahl, jetzt meinen Einfluß auf das Volk zu gebrauchen und den Aufstand mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu unterdrücken.
Der Hof glaubte also endlich an den Ernst der Lage. Aber nun war es zu spät.
Ich antwortete mit bescheidener und frostiger Zurückhaltung. – »Ich vermag nichts mehr,« sprach ich bedauernd, »mein gestriges Verhalten hat die allgemeine Stimmung gegen mich erregt. Ich bin seit gestern nächst Mazarin der bestgehaßte Mann von Paris. Es war gestern schon höchste Zeit, daß ich mich zurückzog. Schon stand mein Leben auf dem Spiel!«
Natürlich begleitete ich meine Weigerung mit allen nur möglichen Versicherungen von Bedauern und tiefster Ergebenheit.
Aber der Schatzmeister hatte unterwegs wohl hundertmal den Ruf des Volkes gehört: »Es lebe der König! Es lebe der Koadjutor!« Er scheute also keine Mühe, mich von meiner Macht über das Volk zu überzeugen. Ich selber fuhr fort, ihm das Gegenteil vorzuhalten, wenn ich auch keineswegs die Absicht hatte, den Hof ernstlich dahin zu bringen, an meine Ohnmacht zu glauben. Nichts konnte ich weniger wünschen als das. Nicht bescheiden zu sein, aber immer den Bescheidenen zu spielen, muß die Methode dessen bilden, der zur Macht gelangen will. Und so ließ ich es an den devotesten Beteuerungen nicht fehlen. Sie kosteten mich wenig.
Die mächtigen Günstlinge zunächst am Thron wußten nicht, was sie taten, wenn sie seit den letzten Jahrhunderten die schuldige Achtung der Könige vor dem Bürger zu inhaltslosen Redeformeln umgestalteten: Ihr seht, schöne Frau, daß Fälle eintreten können, wo der Bürger den Stiel umdreht und den dem König schuldigen Gehorsam ebenfalls in nichtssagenden schönen Redensarten bezahlt ...
Der königliche Schatzmeister hatte mich kaum verlassen, als sich die geheime Türe meines Kabinetts leise auftat und die Fürstin von Rohan-Guemené vorsichtig hereinschlüpfte. Als sie mich allein sah, fiel sie mir stürmisch um den Hals, und ihre leidenschaftlichen Küsse belehrten mich, daß ihre Bußübungen bei Herrn Arnauld und Konsorten ihrem Temperament kaum geschadet hatten.
Immer von neuem umhalste und küßte sie mich. Ihr Enthusiasmus hatte etwas Kindliches und zugleich Heroisches. »Seht Ihr nun,« schloß sie ihre begeisterten Beglückwünschungen, »seht Ihr nun, mein Koadjutor, wie ich wohlgetan habe seinerzeit. Euch einen dummen Streich zu ersparen und Eure Heirat mit Eurer mürrischen Base von Retz zu verhindern?
»Denn hatte ich es Euch nicht vorausgesagt, daß Ihr nur als Mann der Kirche die Bedeutung erlangen könnt, wozu Euer Genius Euch berechtigt. Nur als Erzbischof der Kirche von Paris oder dessen Stellvertreter war es Euch möglich. Euch wie im Handumdrehen der Hauptstadt zu bemächtigen, an der Spitze ihrer Bürgerschaft über das Schicksal des Königs zu Gericht zu sitzen und seinem allmächtigen Minister Gesetze zu diktieren.«
Ich selber hegte in diesem Augenblick weder so kühne Begriffe von meiner Macht, noch mochte ich glauben, daß es der Kardinal zum äußersten treiben werde. Ich hielt, im Gegenteil, eine friedliche Lösung des Konflikts für ebenso wahrscheinlich wie notwendig, und die nächsten Ereignisse bestätigten einstweilen vollkommen meine Auffassung.
*
Die wichtigste Aktion dieses Tags waren die Verhandlungen des Parlaments mit dem Hofe. Eine Deputation der erlauchten Körperschaft, bestehend aus dem ersten Präsidenten, den Präsidenten sämtlicher Kammern und der doppelten Anzahl Räte, wurde eine Stunde nach Mittag im Louvre von der Königin empfangen. Man forderte von der Königin die Freilassung des verhafteten Präsidenten Broussel, als das einzige Mittel, die Gemüter zu beruhigen. Ihre Majestät weigerte sich. Vage Versprechungen waren alles, was die Deputation erlangen konnte, und nicht ohne Besorgnis verließen die Parlamentsherren den königlichen Palast. – Sie kamen nicht weit. Das Volk sah gleich an ihren Mienen, daß nichts erreicht war. Mit fürchterlichem Wutgeheul warf sich ein bewaffneter Haufen dem ersten Präsidenten entgegen.
»Wo hast du Broussel?« erscholl es aus dem Haufen. »Gib uns Broussel! Wir wollen Broussel sehen. Und wenn nicht ihn, bringe uns den Kardinal oder den Staatskanzler als Geisel.«
Gegenüber dieser Forderung und im Angesicht der Barrikaden, die von Tausenden Bewaffneter verteidigt wurden, ergriff bleicher Schrecken die Mitglieder der Deputation. Einige retteten sich durch die Flucht. Um so erstaunlichere Geistesstärke zeigte der erste Präsident. – »Zurück,« rief er seinen Kollegen zu, »zurück in den Louvre, kein Heil als auf diesem Weg.« Seiner Festigkeit gelang es, die Mehrheit der Deputation zusammenzuhalten und nach dem königlichen Palast zurückzuführen.
Der Herr Präsident verschmähte es nicht, sich der Königin zu Füßen zu werfen und ihr mit den eindringlichsten Worten die Gefahr zu schildern. Sogar die anwesenden Prinzessinnen, entsetzt von seiner Schilderung der drohenden Lage, unterstützten ihn mit Niederknien vor Ihrer Majestät. Auch der Kardinal sprach endlich zugunsten Broussels. Seine Fürsprache brachte die Festigkeit der Königin ins Wanken, und nach ungefähr einer Stunde verließ die Deputation zum zweitenmal den Louvre, diesmal versehen mit dem königlichen Freibrief für den gefangenen Broussel.
Bei dieser Nachricht brach das Volk von Paris in hellen Jubel aus. So laut und so enthusiastisch hatte man den Ruf »Es lebe der König« lange nicht vernommen, und schon eine Stunde darauf waren alle Barrikaden verschwunden, alle Waffen niedergelegt. Ein Gang durch die Straßen genügte, um sich zu überzeugen, wie beglückt die Pariser Bürgerschaft sich fühlte über die friedliche Beilegung des Streits und die Beendigung eines Zustands, bei dem in Wahrheit nur dem Gesindel wohl zumute war. – Auch im Louvre schien man mit diesem Ausgange höchlichst zufrieden. Die Königin ließ mich noch vor Abend zu sich befehlen, sie zeigte sich gnädiger als je gegen mich, überschüttete mich mit Schmeicheleien und legte in scherzhaften Reden eine Laune an den Tag, die an Übermut grenzte, und die jeden in Verwunderung gesetzt hätte, der weniger naiv gewesen wäre, ja, die mir selber für den Augenblick jedes Mißtrauen benahm.
Der Ort dieser Audienz war wieder das beliebte graue Kabinett. Zugegen war nur der diensttuende Kammerherr Ihrer Majestät, Herzog von Villeroy der Marschall von La Meilleraye und Graf von Guiteau, damals noch Hauptmann der Leibgarde, alle drei mir mehr oder weniger befreundet. – »Diese sämtlichen Herren hier,« sagte unter anderem Ihre Majestät, »tun Euch Abbitte, mein lieber Herr Koadjutor, wegen ihres gestrigen Verhaltens. Sie gestehen, daß Ihr allein eine richtige Erkenntnis der Schwierigkeiten bekundet habt. – Ihr habt allen Grund zum Triumph,« fügte sie hinzu »und wenn Ihr dem frivolen Baudru, der gestern so ungezogen gegen Euch aufgetreten ist. eine Tracht Prügel verabreichen laßt, geschieht diesem Menschen nur, was ihm recht ist.« Ihre Majestät bat mich hierauf, ihrem armen Kardinal nicht zu grollen. Er bereue bitter sein Betragen gegen mich und brenne darauf, mir das persönlich zu sagen.
»Seine Eminenz erwartet Euch in dieser Minute. « Mit diesen Worten reichte Ihre Majestät mir die Hand zum Kuß, ich verbeugte mich unendlich tief, grüßte die Herren mit leichtem Kopfnicken und wandte mich zum Ausgang. Hier hielt ein Wort der Königin mich noch einen Augenblick fest. – »Noch eines,« sagte Anna von Österreich, »man hat mir erzählt, die Pariser befürchteten, daß der König die Stadt zu verlassen gedenke; Ihr könnt jedermann sagen, daß das nichts als böswillige Reden seien.«
Ich begab mich nach den Gemächern des Kardinals, die denjenigen der Königin benachbart waren. Die Eminenz empfing mich mit fast demütiger Höflichkeit. »Ich sei,« so begann er, »der einzige verläßliche Mann in Frankreich. Alle übrigen seien elende Schmeichler, die, trotz seiner eigenen weisen Ratschläge, die Königin zu den gefährlichsten Schritten verleitet hätten. Er selber wolle in Zukunft nichts mehr unternehmen, ohne meinen Rat gehört zu haben.« Darauf teilte er mir, wie um gleich einen Anfang zu machen, einige Depeschen aus Deutschland und Spanien mit und bat mich um meine Meinung. Kurz, ich verließ den Louvre mit großer Genugtuung, und wenn ich auch weit entfernt war, alles, was man mir gesagt hatte, für bare Münze zu nehmen, zweifelte ich doch nicht daran, daß in der Politik des Hofes die Vernunft die Oberhand gewonnen habe.
Der nächste Morgen sollte mich bitter enttäuschen. Es war noch nicht ganz Tag, als mich mein Sekretär weckte.
Und was war geschehen?
Der ganze Hof hatte in der Nacht mit größter Heimlichkeit die Stadt verlassen und sich nach Ruel begeben.
Was bedeutete das aber?
Ich begriff ohne weiteres.
Zu Ruel wurde stündlich der Fürst Condé mit seinem siegreichen Heer aus den Niederlanden her erwartet. Damit rechnete der Kardinal. Mit dem Mittel dieser Kriegsmacht Paris zu erwürgen, war der Trumpf, den er jetzt auszuspielen gedachte.
So blieb mir von zwei Wegen nur einer: entweder das Volk der Hauptstadt, d. h. die mir anvertraute Herde der Schlachtbank ihres Henkers auszuliefern, oder die Bürger zu ihrer Verteidigung und der meinigen aufzurufen.
Dieser Weg war der Bürgerkrieg.
Er war zugleich der einzige, den ich, ohne ehrlos zu werden, beschreiten konnte. Nun erst mußte sich's zeigen, ob die Fürstin von Rohan-Guemené mit ihrer hohen Meinung über meine Fähigkeit recht behalten werde.
Nach dieser höchsten Probe hatte ich mich lange gesehnt, wie hätte ich ihr jetzt feig aus dem Wege gehen sollen?
Denn selbst im Unterliegen winkte hier dem Stolzen mehr Ehre als in zurückweichender Zagheit.
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St. Mihiel. 2. Aug. 1676.
Schöne Frau! Über alles geliebte Freundin! Das Vorstehende hatte ich ohne viel Besinnen niedergeschrieben. An dem Punkt, wo ich abgebrochen, stockte der Fluß meiner Feder.
Von diesem Augenblick an überstürzen und verwickeln sich die Ereignisse und sind zugleich von so ausschließlich politischer und militärischer Natur, daß mich der quälende Zweifel anfiel, ob die Sache so zu erzählen sei, daß sie einem lebhaften und sinnlichen Geist wie dem Eurigen nicht unerträglich trocken und langweilig scheine.
Seit Wochen schon buchte ich mit Eifer betrübet nach, wie ich Euch die fernere Speise genießbar machen könne, nun enthebt mich plötzlich die Notwendigkeit für einstweilen dieser schweren Aufgabe. Gestern erhielt ich die Nachricht von dem Tod unseres Heiligen Vaters (Klemens X.) und die Einladung zum Konklave auf den siebenundzwanzigsten August.
Und so schicke ich Euch, verehrte Freundin, als einstweilige Abschlagszahlung meiner Pflichtschuld das Vorstehende. Ob ich Euch die Fortsetzung davon in Aussicht stellen darf? Eine Reise nach Rom ist für einen zweiundsechzigjährigen Greis mit ohnedies geschwächter Gesundheit keine kleine Sache. Und gar der römische August. Dieser Monat wird dort Gesunden tötlich. Dazu die Beschwerden eines Konklave.
Und wer weiß! Vielleicht wählt man mich gar zum Papst. Bin ich doch, wenn nicht ein ganzer, so wenigstens ein Dreiviertelsitaliener.
Ich möchte mir dann nur wünschen, mit eigenen Augen zu sehen, was mein allerchristlichster, aber für mich allerungnädigster König, der mich dennoch persönlich durch zwei äußerst verbindliche Schreiben zu dieser Romreise auffordern ließ, für ein Gesicht dazu machte.
Verzeiht meinen Scherz, schöne Frau. Im übrigen habe ich die Wahrheit jenes Pöbelwortes nur allzu gründlich erfahren, jenes Wortes vom lieben Gott, der die Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt.
In einem andern Sinn freilich mag meine Verpflanzung in den Himmel vielleicht nur allzu nahe stehen – wenn es nicht etwa auch da schief geht.
Doch, edle Freundin, verzweifeln darf ich in diesem Punkte nicht, da ich wohl weiß, wie eifrig Ihr täglich für mich betet, in der wohlbegründeten Überzeugung, keinen treueren und ergebenern Diener zu haben in diesem wie in dem andern Leben, als Euren armen
Kardinal von Retz.