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Das Todesurtheil einer Frau

In einem Gebirgslande lebten in einem stillen Bergwinkel zwei Nachbarfamilien auf ihren Gütern in guter Freundschaft und freundlichem Verkehre, obwohl die Verhältnisse derselben sehr verschieden waren. Die eine nämlich, welche wir Zoller nennen, war durch unsinnige Spekulationen und schlechte, verschwenderische Wirthschaft ihres Hauptes in materieller Beziehung stark heruntergekommen, von vier hübschen Besitzungen waren drei im Laufe der Jahre verkauft worden und die letzte, unansehnlichste, ziemlich verschuldet und überdieß noch verwahrlost. Zum Ueberflusse war dem Hause auch ein reicher Kindersegen zu Theil geworden, und es liefen drei eben so schöne als wilde Mädchen in dem Wirthschaftshofe und auf den mit Gras bewachsenen Wegen des weitläufigen Gartens umher, und vier kleine Zoller balgten sich barhaupt und bloßfüßig mit den Bauernbuben um die Wette. Ganz anders sah es bei dem Nachbarn aus. Herr von Kronenberg besaß eines der größten Güter der Provinz und verwaltete es mit lobenswerther Umsicht. In dem hübschen, im Zopfstyl erbauten Schlosse, welches von einem Hügel herab in die Landschaft blickte, herrschte ein gewisser feiner Luxus, ohne daß deshalb das Erträgniß des Kronberg'schen Eigenthums je vollkommen in Anspruch genommen worden wäre. Der alte Herr sparte sich ein hübsches Kapital zusammen, obwohl er nur einen einzigen Sohn hatte, der, den Traditionen der Familie entgegen, der Landwirtschaft den Rücken kehrte und sich der Diplomatie gewidmet hatte. Einst der Spielkamerad der zwei ältesten Fräulein Zoller, war er seit Jahren im Orient gewesen und kehrte jetzt plötzlich krank in das Elternhaus zurück, um in der heimathlichen Luft und der Pflege der Mutter bald zu genesen. In den ersten Wochen hatte er Niemanden gesehen, kaum hatte er sich aber so weit erholt, daß er das Zimmer verlassen und in dem schönen Schloßpark spazieren gehen konnte, ließ er eines Tages anspannen und fuhr zu den Zollers hinüber, um seine Jugendfreundinnen zu begrüßen. Als der elegante, offene Wagen vor dem wurmstichigen Thore des kleinen Gutshofes hielt, eilten zwei kleine Mädchen mit dunklen Zöpfen und Augen herbei, um Robert von Kronenberg mit ihren hellen Stimmen zu begrüßen und ihm ihre frischen, vollen Lippen zum Kusse darzubieten. Langsam, mit der ruhigen Hoheit einer gebietenden Frau, kam die dritte der jungen Damen, die älteste, dem einstigen Spielkameraden entgegen und bot ihm treuherzig die Hand; und Robert war von der holden Erscheinung im ersten Augenblicke so ergriffen, daß er nur die kleine Hand ein wenig zu drücken wagte und der schönen Leonore lange sprachlos in die blauen seelenvollen Augen sah. Das übermüthige Kind, mit dem er sich so toll herumgetrieben, das gleich ihm kühn über Hecken und Gräben gesprungen war, stand als hochgewachsene Jungfrau, das anmuthige Gesichtchen von hellblondem Haare lieblich eingefaßt, stolz und sittsam vor ihm und lächelte doch zugleich so innig mit den ihm wohlbekannten, treuen Kinderaugen.

»Und von Dir, Leonore«, sagte er endlich, »bekomme ich keinen Kuß?« Das holde Mädchen erröthete und trat einen Schritt zurück. »Die Eltern werden sich sehr freuen, Dich zu sehen«, sagte sie, das war die ganze Antwort. Sie gingen zusammen in das Haus, Herr Zoller und seine Frau schlossen Robert herzlich an ihre Brust, die beiden andern Mädchen zerrten hierauf den »Türken«, wie sie Robert nannten, in den Garten und begannen ihn zu necken und sich mit ihm herumzutreiben, aber Leonore blieb still und stand nur bei Seite und ließ ihre großen und ausdrucksvollen Augen auf dem Jugendfreunde haften, der ihr so ganz verändert schien, so groß und schön, und weltgewandt und männlich, und am besten gefiel ihr, daß er so von der Sonne verbrannt war.

Robert, dessen Herz nicht weniger von den Flammenaugen der schönen Georgierinnen und Griechinnen versengt worden war, fühlte in der Nähe des sanften, blonden, deutschen Mädchens auch in seiner Seele sich etwas wie Genesung vollziehen, er kam täglich, er lebte endlich förmlich mit dem Hause Zoller, er half den Mädchen Vormittags im Garten und in der Küche, er ging mit ihnen in den Stall, in die Milchkammer, er speiste bei Zoller und führte nach dem Essen die ganze wilde Bande der Zoller'schen Kinder durch Felder und Hochwald weit in das Gebirge hinein, oder ritt mit Leonore aus.

Bald wußte es die ganze Umgebung, daß Robert von Kronenberg Fräulein Leonore Zoller liebte und daß sie ihn wieder liebte, nur die Beiden schienen es nicht zu wissen, wenigstens hatten sie sich es noch nicht gesagt.

Es kam die Stunde, wo der »Türke« das stolze Mädchen allein traf im Garten, sie nahm Blumenkohl aus, eine sehr prosaische Situation, aber ihm gefiel sie in ihrer weißen Latzschürze besser als die Odalisken in ihren goldgestickten Kaftanen, und er ergriff ihre Hand und gestand ihr, was er auf dem Herzen hatte.

Sie hörte ihn ruhig an, dann sagte sie ihm, daß sie ihn liebe, daß er der erste Mann sei, dem ihr Herz gehöre, und der letzte, dem es gehören werde, aber sie glaube nicht, daß eine Verbindung möglich sei; sie schilderte ihm mit rückhaltloser Offenheit die mißlichen Verhältnisse ihrer Eltern und schloß damit, daß sie sich als ein armes Mädchen bezeichnete. Robert schwur, daß ihm dies gleichgültig sei, er erklärte, daß er als der einzige Erbe reicher Eltern nicht im Entferntesten daran denke, eine Parthie im Sinne der Welt zu machen, er suche ein braves Weib, das er achten, das er lieben könne, dies habe er in ihr gefunden und zugleich das höchste Glück, das es für ihn auf Erden gebe.

Er zog Leonore sanft an seine Brust. Sie gehörte ihm.

Wochen, Monate vergingen den Liebenden im süßen Taumel, Leonore nahm in ihrem reinen unschuldigen Herzen keinen Anstand, Robert Zusammenkünfte ohne Zeugen zu gewähren, welche im Walde bei einem Felsen, welcher die grünen Wipfel der Tannen hoch überragte, stattfanden. Als der erste Schnee sie vertrieb, ging das ahnungslose Mädchen in seinem Vertrauen noch weiter, es öffnete auf Roberts Drängen ihm Nachts das Fenster und warf eine Strickleiter hinab, welche es am Fensterkreuz befestigt hatte.

So verging der Winter, Leonore erwartete von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, daß Robert sich ihren Eltern erklären, daß er um ihre Hand anhalten würde. Vergebens. Je zarter sie sich in dieser Angelegenheit zeigte, um so mehr schien Robert seine Absichten zu vergessen.

Und als sie ihn endlich unter Erröthen und Thränen zu erinnern wagte, begann er zerstreut und verdrießlich zu werden und seine Besuche wurden seltener.

Es war im Frühjahre, als Leonore, die sanfte, verschämte Leonore, im Schloß Kronenberg erschien und plötzlich in Roberts Zimmer stand. »Du kommst nicht mehr zu mir«, begann sie mit einem höhnischen Lächeln, »ich bin also gezwungen, zu Dir zu kommen. Übrigens wird mein Besuch sehr kurz sein. Ich habe Dir nur eine Mittheilung zu machen« – hier stockte sie – »ich fühle mich Mutter.«

Robert erblaßte.

»Du weißt wohl als Mann von Ehre, was Du jetzt zu thun hast«, fügte das tiefgekränkte Mädchen hinzu. Robert trat an das Fenster und schwieg. Er war Leonorens müde, aber in diesem Augenblicke trat die Schuld, welche er ihr gegenüber auf sein Gewissen geladen hatte, so lebhaft vor seine Seele, daß er keine Worte fand. Leonore verließ ihn hierauf, und als sie am nächsten Tage eine vertraute Dienerin zu ihm sandte, war er nach der Residenz gefahren. Von dort schrieb er ihr, er sei abgereist, um seine Angelegenheiten zu ordnen, er werde seine Pflicht gegen sie zu erfüllen wissen. Er schrieb noch einmal, dann nicht mehr.

Leonore hatte lange genug gezweifelt, gelitten, geschwiegen, jetzt kam auf einmal eine unglaubliche Thatkraft über das bescheidene, sanfte Mädchen. Sie verkaufte heimlich ihren Schmuck und reiste ohne Wissen ihrer Eltern ihrem Verführer nach. In der Residenz traf sie ihn mitten unter seinen Freunden, von einer Orgie zur andern eilend, und stellte ihn zur Rede, sie verlangte Nichts mehr als ihr Recht, sie mahnte ihn an sein Wort und als er Ausflüchte nahm und seine Eltern vorschützte, schrieb sie an diese und setzte ihnen Alles auseinander, ihre Unschuld, seine Verführung, ihre Leiden, ihre verzweifelte Lage, aber ohne Erfolg. Sie bekam statt des Trostes, den sie erwartete, nur Anklagen und Vorwürfe zur Antwort, ja der Vater Roberts ging so weit, ihr die unwürdigste Spekulation zuzumuthen, sie habe seinen Sohn durch ihre Koketterie umgarnt, schrieb er, und sich ihm nur in der Absicht hingegeben, ihn dadurch zu einer Heirath zu zwingen und auf diese unerlaubte Weise sich einen reichen Gatten zu erobern.

Zugleich erfuhr sie, daß Robert die Bekanntschaft einer eleganten, schönen Frau, der Wittwe eines sehr reichen Fabrikanten, gemacht habe, und im Begriffe sei, derselben seine Hand zu reichen. Leonore überwand nun den letzten Rest von Scheu und Schamhaftigkeit und ging zu ihrer Nebenbuhlerin, welche sie in sichtlicher Verlegenheit empfing. Das arme, geängstigte Mädchen öffnete der Frau, welche im Begriffe war, ihr zugleich Glück und Ehre zu rauben, ihr ganzes Herz, sie bat, sie beschwor, sie drohte, aber sie fand statt der erwarteten Theilnahme nur kühle Entschuldigungen. »Sie lieben Robert und sehen durch ihn Ihre Ehre in Gefahr«, sagte die reiche Wittwe endlich, »nun auch ich liebe ihn, und auch ich bin kompromittirt, wenn er sich jetzt zurückzieht. Sie sehen, wir stehen ganz gleich, und ich bin durchaus nicht die Frau, mein Recht und meinen Vortheil aufzugeben.«

Mit gebrochenen Knieen wankte Leonore die Treppe hinab. Noch einmal ging sie zu Robert, aber sie fand seine Thüre geschlossen.

Resignirt, dem Leben, seinen Freuden und seiner Schönheit den Rücken kehrend, auf das Ärgste gefaßt, kam sie nach Hause zurück und eröffnete den Ihren ohne jede Erregung, beinahe kalt, was sich mit ihr zugetragen, ihr Unglück und ihr Schicksal. Die Liebe der Eltern half ihr über die traurige Katastrophe hinweg. Sie wurde Mutter. Die Verwandten, die Freunde, die Nachbarn wendeten sich von dem gefallenen Mädchen ab. Das sonst so gesellige, heitere Haus glich einem Kloster. Niemand kam, Niemand ging aus demselben hinaus.

Leonore trug stumm, was ihre Schuld so gut war wie die Roberts, sie klagte nicht, sie weinte nicht, sie verbarg sich nur, und sie brütete, aber kein Mensch ahnte, worüber sie brütete. Sie sah sich ausgestoßen aus der Gesellschaft, der Schande preisgegeben, gebrandmarkt, dies konnte die stolze Seele dieses Weibes nicht für die Dauer ertragen.

Zu seinem Unglück kehrte Robert nach Kronenberg zurück. Er kam mit seiner Braut, um sie den Eltern vorzustellen, und der eitle Mann begnügte sich nicht damit; er mußte sich an der Seite der schönen Frau der Welt zeigen, sie fuhr mit ihm im Phaeton, selbst die Pferde lenkend in extravaganter Toilette, zu den Nachbarn, oder galoppirte mit ihm durch die Felder. So geschah es, daß sie einmal ein bleiches junges Weib trafen, das, als es sie erblickte, sich bebend hinter einem Baume verbarg. Dieses Weib, dem die Thränen der Empörung und der Wuth über die verhärmten Wangen herabflossen und das die geballten Fäuste drohend gen Himmel hob, war Leonore.

Den nächsten Tag erhielt Robert das folgende Billet von ihr: »Ich habe sie gesehen, die Du liebst, die Deine Frau wird. Ich begreife vollkommen, daß ein armes Geschöpf wie ich vor einer so strahlenden Schönheit zurückstehen muß, ich bin nicht einmal eines Neides fähig. Ich wünsche Dir und ihr das höchste Glück auf Erden und für mich nichts weiter als eine letzte Unterredung mit Dir, welche Du mir nicht verweigern kannst. Ich will Abschied nehmen von Dir! Deine – Leonore.«

Robert glaubte diesen seltsamen Zeilen. Während er sich selbst der unedelsten Handlungsweise einem Mädchen gegenüber anklagen mußte, das ihm Alles geopfert, hielt er es für möglich, daß dasselbe Mädchen seine Infamieen mit Segenswünschen vergelten könne. Verblendet von einem maßlosen Eigendünkel, sagte er Leonoren die verlangte Zusammenkunft zu und wählte für dieselbe den Felsen im Walde bei dem sie ihre ersten Rendezvous gehabt hatten.

Es war ein trauriges Wiedersehen. Leonore saß, als Robert kam, das Haupt in die Hände gestützt, auf einem Stein und erhob langsam das große Auge zu ihm. Der treulose Mann erschrak vor dem finstern, entschlossenen Ausdruck dieses Auges und eine böse Ahnung überkam ihn.

»Was willst Du, Leonore?« begann er.

»Abschied nehmen –« sagte sie kalt.

»Ich habe Dir wehe, ich habe Dir Unrecht gethan«, fuhr er fort.

»Von Recht ist zwischen uns nicht die Rede«, fiel Leonore ein, indem sie sich stolz und drohend erhob, »Du hast mich verführt, entehrt. Willst Du das gut machen?«

»Wie soll ich?« stammelte Robert.

»Ich frage Dich zum letzten Male«, rief Leonore »willst Du mein Gatte werden?«

»Ich kann nicht, Leonore.«

»Gut. Dann bin ich gezwungen, selbst meine Ehre herzustellen, oder wenn ich dies nicht kann, Rache an Dir zu nehmen«, sprach das tief beleidigte junge Weib, indem es zugleich zwei Pistolen hervorzog und die eine ihrem Verführer vor die Füße warf.

»Was beginnst Du?« rief er erschreckt.

»Ich nehme für mich dasselbe Recht in Anspruch, das der Mann hat, um seine verlorene Ehre herzustellen. Schieße Du zuerst, denn ich will meines Schusses sicher sein.«

»Du willst mich morden?«

»Ist Derjenige, der seinem Feinde die Waffe zur Vertheidigung in die Hand giebt, ein Mörder?« fragte sie empört. »Schieß!«

»Nein, ich schieße nicht«, erwiederte Robert, am ganzen Leibe bebend.

»Dann bereite Dich zum Tode«, sagte Leonore kalt.

»Du wärst im Stande –« schrie er.

»Ich tödte Dich, verlaß Dich darauf«, entgegnete sie, spannte den Hahn der Pistole und richtete die Mündung auf ihn.

Halb instinktiv ergriff Robert in diesem Augenblicke die Waffe, die zu seinen Füßen lag, und indem er mit derselben Leonore abzuwehren suchte, wich er einige Schritte zurück.

»Versuche nicht zu entfliehen«, rief sie, »ich schieße Dich nieder, sobald Du Dich noch einen Schritt weiter bewegst.«

»Leonore!« flehte der Verführer.

»Schieß!«

Er senkte den Lauf der Pistole. Da trat sie rasch auf ihn zu und murmelte: »Bete!« – und jetzt in der Todesangst schoß er, aber er traf sie nicht.

»Nun bist Du in meiner Hand«, sagte sie, »ich halte Gericht über Dich und verurtheile Dich zum Tode. Bete!«

Er versuchte mit einer raschen, wahnsinnigen Bewegung ihr die Pistole zu entreißen; in demselben Augenblick traf ihn die Kugel. Er sank lautlos zu Boden.

Sie verschwand nach der That.

Man behauptete in der Gegend, sie habe sich in den Fluß gestürzt; nach anderen Nachrichten soll sie unter fremdem Namen jenseits des Ozeans leben, geachtet und geliebt.


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