Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Das schwankende Moor

Das Tier, das mit solcher Kühnheit angegriffen hatte, erinnerte in den Formen an die Löwinnen Afrikas. Es war aber viel kleiner, hatte die Länge von 1,15-1,20 Meter und eine Höhe von siebzig cm, von der Schulter an gemessen. Es besaß einen runden Kopf, einen länglichen, aber kräftigen Körper mit über einen halben Meter langem Schwanz und lange scharfe Krallen. Sein Fell war dicht, aber kurz, von gelblich rötlicher Farbe, auf dem Rücken etwas dunkler, unter dem Bauche heller, fast weiß und auf dem Schädel grau.

Der Katalonier und der Korsar hatten auf den ersten Blick erkannt, daß es sich um eins jener in Spanisch-Amerika Mizgli genannten Tiere handelte. Sie heißen auch Kuguare, Puma oder amerikanische Löwen und sind noch heutzutage in Süd- und Nordamerika zahlreich. Verhältnismäßig klein, sind sie doch mutig und wild. Gewöhnlich halten sie sich in den Wäldern auf, wo sie eine Menge Affen vertilgen, da auch sie mit Leichtigkeit auf die höchsten Bäume klettern können. Zuweilen wagen sie sich an bewohnte Ortschaften heran, wo sie unter Schafen, Kälbern, Ochsen und sogar Pferden großen Schaden anrichten. In einer einzigen Nacht können sie fünfzig Stück Vieh töten, indem sie die Halsschlagader der Opfer durchbeißen und das warme Blut trinken. Wenn sie nicht Hunger haben, fliehen sie den Menschen, wohl wissend, daß sie ihm gegenüber nicht immer siegreich sind. Nur wenn die Not sie zwingt, greifen sie ihn mit verzweifeltem Mut an. Sogar verwundet werfen sie sich auf ihre Gegner, auch wenn diese in der Überzahl sind.

Manchmal leben sie in Herden, um den Tieren des Waldes besser nachstellen zu können. Doch meist trifft man sie allein; denn auch die Weibchen haben zu ihren Gefährten kein Zutrauen, da diese oft ihre Kleinen auffressen. Übrigens kommt es vor, daß auch sie ihre Erstgeborenen verschlingen; erst mit der Zeit werden sie dann liebevolle Mütter, die ihre Nachkommenschaft heftig verteidigen.

»Potzblitz! Diese kleinen Tiere besitzen ja mehr Mut als manche Löwen«, meinte Carmaux.

»Ein Glück, daß er mir nicht die Kehle aufgeschlitzt hat«, sagte der Spanier, »um mein Blut zu saugen!«

»Wir müssen weiter!« mahnte der Korsar. »Durch diesen Kuguar haben wir kostbare Zeit verloren.«

»Unsere Beine sind schnell, Kommandant!«

»Vergeßt nicht, daß van Gould mehrere Stunden Vorsprung vor uns hat! Vorwärts, Freunde!«

Sie ließen den Leichnam des Pumas liegen und machten sich wieder auf den Weg durch den endlosen Wald. Wieder unterwarfen sie sich der mühsamen Arbeit und hieben die sie am Marsch hindernden Lianen und Wurzeln ab.

Sie gingen nun über ein ganz mit Wasser durchtränktes Erdreich. Hier nahmen auch die kleinsten Pflanzen riesige Dimensionen an. Man schien wie auf einem großen Schwamm zu gehen; denn bei dem leichtesten Auftreten spritzten aus hunderttausend unsichtbaren Poren Wasserstrahlen empor. Vielleicht lag ein Moor mitten im Walde, eines jener verräterischen Wasserbecken mit einem Untergrund von nachgebendem Sand, das jeden verschlingt, der sich dorthin wagt.

Der Spanier, dem ein solches Moor nicht unbekannt war, schritt behutsam vorwärts. Er untersuchte oft den Boden mit einem abgeschnittenen Zweige und teilte von Zeit zu Zeit rechts und links Schläge aus. Nicht nur der Boden, auch die Reptilien waren gefährlich, die sich zahlreich an den feuchten Stellen der Urwälder aufhalten.

Man war in dieser Dunkelheit nicht davor sicher, auf eine Schlange zu treten. Da gab es die Urutu, eine Schlange mit weißen Streifen und einem Kreuz auf dem Kopf, deren Biß das getroffene Glied lähmt. Ferner die Cobra cipo oder Lianenschlange, so genannt, weil sie grün und biegsam wie eine Liane ist und darum mit solcher verwechselt werden kann. Oder die lebensgefährlichste, die Korallenschlange, deren Biß unheilbar ist.

Plötzlich blieb der Katalonier stehen.

»Siehst du wieder einen Kuguar?« fragte der hinter ihm gehende Carmaux.

»Ehe die Sonne nicht aufgeht, wage ich nicht, weiterzugehen!« antwortete dieser.

»Was fürchtest du denn?«

»Der Boden weicht mir unter den Füßen! Das zeigt an, daß wir uns bei einem Moor befinden.«

»Da werden wir kostbare Zeit verlieren!« seufzte der Korsar.

»In einer halben Stunde graut schon der Morgen! Glaubt Ihr, daß die Flüchtlinge keine Hindernisse antreffen, Kapitän?«

»Also warten wir den Sonnenaufgang ab!«

Sie lagerten sich nun zu Füßen eines Baumes und harrten mit Ungeduld auf das Schwinden der Finsternis.

Der große, zuerst so stille Wald hallte von tausend seltsamen Geräuschen wider. Tausende und Abertausende von froschartigen Tieren, Kröten, Ochsenfröschen und »Parraneca« erhoben ihre Stimmen und verursachten einen Höllenlärm. Man hörte Gebell, endloses Gebrüll, langes Kreischen, Knarren, ein Gurgeln wie von hundert Kehlen, dann ein wütendes Hämmern, als ob ein Heer von Tischlern im Walde zimmerte, und ein Knirschen, das von Hunderten von Dampfsägen herzurühren schien.

Von Zeit zu Zeit erregten scharfe Pfiffe unter den Bäumen die Aufmerksamkeit der Flibustier. Sie rührten von gewissen Eidechsen her, die zwar klein waren, aber so mächtige Lungen hatten, daß ihre lauten Stimmen mit Lokomotiven hätten wetteifern können.

Endlich fingen die Sterne an zu verblassen, und eine kurze Dämmerung begann, die Nacht zu verscheuchen, als plötzlich in der Ferne eine schwache Detonation erfolgte, die sich nicht mit dem Gequak der Frösche verwechseln ließ.

Der Korsar sprang auf und fragte den Spanier, der sich ebenfalls erhoben hatte: »War das nicht ein Schuß?«

»Es scheint so«, erwiderte dieser.

»Könnte er von den Flüchtigen herrühren?«

»Ich vermute es.«

»Also dürften sie nicht allzu weit von uns sein!«

»Da kann man sich leicht irren, Herr. Unter diesen grünen Gewölben hallt das Echo in unglaublicher Entfernung wider!«

»Der Tag beginnt; wir können also weitergehn, wenn ihr nicht übermüdet seid!«

»Wir ruhen uns später aus«, sagte Carmaux.

Jetzt drang der erste Tagesschimmer durch die gigantischen Blätter der Bäume und weckte die Bewohner des Waldes.

Die Tucanen (Pfefferfresser) schwangen sich bereits auf die höchsten Gipfel der Bäume und ließen ihre unangenehmen, an das Knarren eines schlecht geölten Rades erinnernden Stimmen ertönten. Sie haben einen Schnabel, der so groß ist wie ihr ganzer Körper, aber so schwach, daß die armen Vögel ihre Nahrung in die Höhe werfen müssen, um sie beim Niederfallen aufzufangen. Andere unter den dichtesten Pflanzen versteckte Vögel schmetterten aus vollem Halse ihre Baritontöne do-mi-so-do. Die Kassicken zwitscherten und schaukelten sich auf ihren seltsamen börsenförmigen Nestern, welche an den biegsamen Zweigen der Wurzelbäume oder an den äußersten Spitzen der Riesenblätter der Maot hingen, während die zierlichen Fliegenschnäpper wie geflügelte Juwelen von Blume zu Blume flogen. Ihr grünes, blaues und schwarzes Gefieder mit goldenen und kupferfarbenen Reflexen schillerte in den ersten Strahlen der Sonne.

Einige Affenpärchen verließen ihr nächtliches Versteck, reckten die Glieder und gähnten, das offene Maul zur Sonne gewandt.

Zumeist waren es Barrigudos, sechzig bis achtzig Zentimeter große Wollaffen, mit einem Schwanz, der länger als ihr ganzer Körper ist, mit weichem, auf dem Rücken tiefschwarzem und am Bauche grauem Fell und einer Mähne auf den Schultern. Etliche hatten sich an den Schwänzen aufgehängt und schaukelten an den Zweigen, indem sie Schreie ausstießen, die wie »eske-eske« klangen. Andere, die boshaft und unverschämt waren, begrüßten mit Grimassen die Flibustier und bewarfen sie mit Früchten und Blättern.

Mitten in den Palmblättern bemerkte man auch Scharen zierlicher Micos (Silberäffchen), die so klein sind, daß man sie in die Tasche stecken kann. Sie kletterten behend die Zweige auf und nieder und suchten Insekten zu ihrer Nahrung. Doch als sie die Menschen entdeckten, brachten sie sich schleunigst auf den höchsten Ästen in Sicherheit und schauten sie von oben mit ihren klugen, ausdrucksvollen Augen an.

Bäume und Dickicht wurden jetzt spärlicher auf diesem wassergetränkten und wahrscheinlich tonhaltigen Boden. Die herrlichen Palmen waren verschwunden und machten Gruppen kleiner Weiden Platz. Letztere sterben in der Regenzeit ab und erscheinen in der trockenen Jahreszeit wieder. Auch seltsame Bäume mit sehr dickem Stamm im untern Teil standen dort. Dieser ruhte in einer Höhe von zwei bis drei Zentimeter auf sechs bis acht kräftigen Wurzeln. In einer Höhe von fünfundzwanzig Meter entfalteten sie ihre großen, gezähnten Blätter ringsum wie einen Sonnenschirm.

Aber bald verschwanden auch diese letzten Bäume. Man sah nur noch Massen von Calupo, einer Pflanze, deren Früchte, in Stücke geschnitten und ein wenig gegoren, ein erfrischendes Getränk liefern, und dicke fünfzehn, sogar zwanzig m hohe Bambusstauden, deren Umfang nicht zu umspannen war.

»Ehe wir diesen Wald verlassen, werdet ihr hoffentlich noch eine gute Tasse Milch genehmigen«, sagte der Spanier.

»Oh!« rief Carmaux vergnügt. »Hast du eine Kuhherde entdeckt?«

»Das nicht, aber den Milchbaum.«

»Gut! Melken wir den Milchbaum!«

Er ließ sich von Carmaux ein Fläschchen reichen und näherte sich einem etwa zwanzig m hohen Baume mit breiten Blättern und dickem, glattem Stamm, der auf kräftigen Wurzeln ruhte, die über der Erde lagen, als ob sie unter derselben nicht genügend Platz gefunden hätten. Mit einem Schwertstoß drang er tief ins Mark ein. Gleich darauf floß aus der Wunde eine weiße, dickliche Flüssigkeit, die in Farbe und Geschmack der Milch ähnelte.

Alle löschten erfreut ihren Durst, schritten aber dann sofort weiter, zwischen Bambusstauden hindurch, unter ohrenbetäubendem Lärm, den das schrille Pfeifen der Eidechsen verursachte.

Der Boden wurde immer weicher. Bei jedem Schritt drang Wasser hervor und bildete Pfützen, die sich rasch vergrößerten.

Scharen von Wasservögeln zeigten die Nähe eines großen Sumpfes an. Man sah Schwärme von Schnepfen und Anhingas, Vögel mit einem so langen und dünnen Hals, daß sie auch Schlangenvögel genannt werden. Sie hatten ein sehr kleines Köpfchen, einen geraden, scharfen Schnabel und seidige, silberschimmernde Federn. Auch Scharen kleinster Sumpfvögel erblickte man, kaum so groß wie Elstern, mit dunkelgrünem, am Rande dunkelviolettem Gefieder.

Der Spanier verlangsamte seinen Schritt aus Furcht, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein Fallen und Gurgeln wurde hörbar.

»Aha! Wasser!« rief er aus.

Plötzlich ertönte ein rauher, langer Schrei, doch nicht aus unmittelbarer Nähe.

»Hast du das gehört?« fragte Carmaux erschrocken.

»Ja, den Schrei eines Jaguars!«

Sie blieben stehen, mit den Füßen auf Bambusrohr, das sie hingelegt hatten, um nicht im Schlamm zu versinken.

Das Gebrüll des Raubtiers ließ sich nicht mehr hören, wohl aber ein heiseres Murren, das seine Wut anzeigte.

»Vielleicht fischt das Tier gerade!« meinte der Spanier.

»Fischen? Soviel ich weiß, haben die Jaguare doch keine Angelhaken«, sagte Carmaux trocken.

»Aber Krallen und einen Schwanz!«

»Wozu soll denn der Schwanz dienen?«

»Nun, um die Fische anzuziehen!«

»Hängen sie sich vielleicht Würmer an die Schwanzspitze?«

»Nein. Sie bewegen mit den langen Haaren nur ganz sanft die Wasserfläche!«

»Und dann?«

»Nun, dann kommen die beutegierigen und auch die neugierigen Fische an die Oberfläche, wo sie der Jaguar mit einem Tatzenschlag geschickt fängt!«

Der Neger, der höher stand als die andern, hatte den Jaguar erblickt.

»Er steht am Ufer des Moors und scheint nach etwas auszuspähen!«

Der Korsar ging dem Neger nach, um das Raubtier zu beobachten.

»Seid vorsichtig, Herr!« riet der Spanier.

»Wenn er uns den Weg nicht verstellt, brauchen wir ihn ja nicht anzugreifen.«

Auch die andern schlichen, hinter hohem Röhricht versteckt, ganz leise vorwärts mit gezückten Schwertern.

Nach zwanzig Schritten gelangten sie an das Ufer des großen Moors, das sich inmitten des Urwaldes auszudehnen schien. Es war ein schlammiges, von den Abgängen des ganzen Waldes gebildetes Becken. Das Wasser war von den tausend und abertausend verfaulenden Pflanzen fast schwarz geworden und hauchte giftige Miasmen aus, die bei den Menschen tödliches Fieber hervorrufen. Überall wuchsen Wasserpflanzen jeder Art. Mucumucusträucher mit breiten, schwimmenden Blättern; Gruppen von Arum, dessen herzförmige Blätter aus einem Blütenstengel hervorsprießen; ferner Muricien, die an der Oberfläche des Wassers bleiben. Endlich entfaltete die größte unter den Wasserpflanzen, die herrliche Victoria regia, ihre oft eineinhalb Meter umfassenden Blätter, die wie ungeheure Teller aussahen. Ihre umgebogenen Ränder waren mit langen, spitzen Dornen bewaffnet. Inmitten der riesigen Blätter erhoben sich die prächtigen Blüten wie weißer Atlas mit rosa abgetönten Strichen von einzigartiger Schönheit.

Kaum hatten die Flibustier einen Blick auf das Moor geworfen, als sie ganz nahe ein dumpfes Knurren vernahmen.

»Der Jaguar!« rief der Spanier erschrocken. »Da steht er am Ufer – auf der Lauer!«


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