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Die Mutter der Sängerin.

Johannas Mutter stand vor dem Wäscheschrank. Sie entzückte sich einen Moment lang an all der zarten, schneeweißen Kostbarkeit, die hier aufgestapelt lag. Ihr war leicht und froh; deshalb begann sie laut zu singen.

Sie nahm einen Frisiermantel für Johanna, und während sie ihn ausbreitete, wurde sie plötzlich ernst; sie hörte auf zu singen. Diese Spitzen ... dachte sie ... Was dieser kleine Spitzenmantel kostete, das wäre vor wenigen Jahren noch ein Vermögen für sie gewesen. Sie hätte nicht so schwer arbeiten, hätte mit ihren Kindern nicht hungern müssen; hätte lange Zeit ohne Sorgen gelebt: ohne die Sorgen, die jetzt noch wie ein überstandener Todesschrecken in ihrer Seele bebten.

Johanna ... dachte sie. Dies Kind hatte sie herausgesungen, herausgejubelt aus dem Elend, aus der dunklen Tiefe eines Abgrunds emporgesungen. Sie dachte: Wie eine Lerche ist sie aufgestiegen, meine Johanna ... und uns alle hat sie mitgenommen in den Himmel. Sie dachte: Mein Kind! Und sie betete dies Gluck wie ein Wunder an. Die letzten Jahre, das waren schon lauter Wunder gewesen. Da tat sich eine freundliche Welt vor ihnen auf. Sie ging hinaus aus der finsteren, engen Stube, aus der kleinen, schmutzigen Gasse, in der sie gewohnt hatte, in der sie ihre Kinder gebar, sie aufwachsen und barfuß umherlaufen sah: hinaus aus diesem erbärmlichen Städtchen, darin sie gelebt hatte, wie eingesperrt in Kummer und Trostlosigkeit. An der Hand ihres Kindes, ihres singenden Mädchens trat sie ein in diese freundliche Welt, schüchtern, atemlos, wie in einem Traum, und müde von alle den Jahren der Angst und der Arbeit. Kann der liebe Gott eine Mutter wirklich so reich belohnen ... dachte sie ... und nicht aufhören, sie zu belohnen und zu begnaden? Mehr als sie jemals zu ahnen vermochte, war jetzt gekommen. Nach dem Erfolg des Anfangs, der Ruhm. Jetzt sprach nicht eine Großstadt allein, jetzt sprach Europa von ihrer Tochter. Amerika rief nach ihr. Der Reichtum begann hereinzuströmen wie eine Springflut.

Sie hielt den weißen Spitzenmantel in ihrer Hand und lächelte. Was war das? Ein Nichts. Ihre Johanna hüllte sich in den Prunk einer Prinzessin. Königliches Geschmeide blitzte und funkelte an ihrem Hals, leuchtete von ihrem jugendfrischen Nacken. Die Mutter lächelte, atmete tief und begann wieder zu singen. Sie sang die Arie, die ihre Tochter gestern in der Oper gesungen. Der ganze Saal hatte dann gedröhnt von dem Donner des Beifalls. Die Mutter kannte jeden Ton dieser Arie, hatte ihn hundertmal gehört, wenn Johanna studierte und sie lauschend dabeisaß. Nun sang sie selbst die Melodie laut heraus. Sie hatte lange nicht gesungen.

Es klopfte.

»Wer ist da?« rief die Mutter. »Herein!«

»Ich bin's,« sagte Herr Mitterberger und kam in das Zimmer. Er schaute sich verwundert nach allen Seiten um und fragte: »Wo ist denn das Fräulein ...?«

»Nicht zu Hause ...«

»Komisch,« sagte er. »Diese großen Künstlerinnen ...« Er blinzelte der Mutter zu. »Vor ihrem Impresario lassen sie sich ruhig verleugnen.«

Die Mutter schaute ihn an und verstand ihn nicht. »Herr Mitterberger, meine Tochter ist wirklich nicht zu Hause.«

Er schnalzte mit den Lippen. »Nu,« meinte er spöttisch, »und wer hat denn jetzt eben gesungen ...«

»Das war doch nicht die Johanna ...« Die Mutter lachte. »Das war ja ich.«

Herr Mitterberger erschrak. »Sie ...?« Dann schüttelte er den Kopf. »Das glaub' ich nicht,« sagte er energisch.

Die Mutter wußte nichts mehr zu antworten und war verlegen, weil man sie Lügen strafte.

Herr Mitterberger fuhr fort: »Meinetwegen mag sie sich verleugnen lassen, wenn sie jetzt keine Lust hat, mit mir zu reden. Ich bin ein alter Impresario und kenne diese Launen. Aber ich weiß auch, was eine Stimme und eine Stimme ist ... Da gibt's keine Täuschung für mich.«

Nun sah ihn die Mutter ruhig an und sagte einfach: »Johanna ist nicht zu Hause.«

Er wurde unsicher, schwieg und überlegte. Dann meinte er zweifelnd: »Ich hab' Sie noch nie singen gehört, gnädige Frau ...? Ich hätte es doch einmal hören müssen, wo ich so bei Ihnen aus und ein gehe ...?«

»Lieber Herr Mitterberger,« sagte die Mutter langsam, »ich hab' lange nicht gesungen. In den Jahren, wie meine Johanna zum Theater ging, wie sie studiert hat, da hab' ich nur zugehört, und da hab' ich so viel zu denken gehabt für das Kind, für uns alle, so viel zu denken ... da ist das Singen zu kurz gekommen. Aber früher, wie ich noch arm war, da hab' ich immer gesungen. Um mir die Sorgen zu vertreiben ...« Sie lächelte ein wenig. »... jünger bin ich auch gewesen ... und für die Kinder hab' ich gesungen, wenn ich sie eingewiegt habe ... und bei der Arbeit ... beim Waschtrog ...«

Sie lächelte wieder und spielte nachdenklich mit dem Frisiermantel.

Der Impresario sah sie eine Weile an, ehe er sich wieder fassen konnte »Na ...« sprach er dann leise, »da wollte ich doch, ich wäre einmal so vorübergegangen, dort in Dingsda, und hätte Sie gehört; Sie wären nicht lange beim Waschtrog gestanden.«

Er schaute diese alternde Frau mit erstaunten Augen an, wie sie befangen dastand. Klein, schmächtig, das schmale Antlitz schon leise von Runzeln durchzogen und welk, aber die dunklen Augen noch immer von sanfter Innigkeit strahlend.

»Ewig schade,« sagte er, zuckte die Achseln und ging.

Eine Stunde später saß Johanna vor dem Spiegel, ließ sich von ihrer Mutter frisieren und sprach mit ihr von der Soiree, zu der sie beide diesen Abend gehen sollten. »Ein Erzherzog wird auch da sein ...« sagte sie, »... und dann weiß Gott wie viele Fürsten ... es wird sehr nobel.«

Die Mutter sah auf Johanna nieder. Sie entzückte sich an den weißen Spitzen, die den schlanken, feinen Leib ihrer Tochter einhüllten. Sie entzückte sich an dem feinen, elfenbeinfarbenen Ton, der die Schultern und den Nacken Johannas überschimmerte. Sie sah im Spiegel das schmale, zart blühende Gesicht Johannas, behaucht von einer sachten Röte; sie sah ihre blitzenden schwarzen Augen, ihre schmale weiße Stirn; sie entzückte sich an der lauen Wärme der Haare Johannas, die lebendig und beweglich in ihrer Hand sich zu regen schienen, und sie war so erfüllt von Dankbarkeit und Freude, daß sie wieder laut zu singen begann.

Johanna saß da wie ein kleines Kind, ließ sich frisieren und von der Mutter was vorsingen wie einst.

Das Stubenmädchen kam und meldete: »Der Herr Kapellmeister ist da.«

»Soll warten,« sagte Johanna. Die Mutter sang weiter.

Da rief der Kapellmeister durch die Tür: »Johanna, sing' jetzt nicht. Das ist Unsinn, so ins Blaue hinein zu johlen!«

Die Mutter verstummte. Johanna schwieg. Der Kapellmeister rief durch die Tür: »Uebrigens, Johanna, wundervoll. Sooft ich nur einen Ton von dir höre, muß ich sagen: wundervoll!«

Durch den Spiegel sah die Mutter, wie ein Schatten über Johannas Antlitz zog. Der Kapellmeister draußen fragte: »Warum antwortest du denn nicht ...?«

Johanna fuhr ungeduldig los: »Es ist schon gut ... ich singe ja nicht!« Dabei hielt sie die Blicke tief gesenkt.

Etwas Unerklärliches war in diesen Sekunden zwischen den beiden Frauen: etwas, darin ein weites Entfernen war, und ein nie gefühltes, beinahe gespenstisches Einswerden. Die Mutter vollendete still ihre Arbeit und ging dann still aus dem Zimmer.

Am Abend aber saß sie dann in dem hohen fürstlichen Saal, in dem die Stimme ihrer Tochter erklingen sollte. Nebenan in funkelnden Gemächern schwoll das Rauschen der Gesellschaft. Dort war Johanna, umdrängt von der Bewunderung, vom Enthusiasmus, von Schmeicheleien. Die Mutter saß hier in ihrem schwarzen Kleid, und es waren nur noch ein paar andere alte Damen da, die untereinander flüsterten. Die Mutter saß abseits und wartete. Man hatte sich vor ihr verbeugt an diesem Abend, hohe Herren hatten sich freundlich und flüchtig vor ihr verbeugt. Der Erzherzog hatte ihr die Hand gereicht und hatte über ihren Knicks hinweg ins Leere gelächelt. Man hatte ihr gesagt: »Wie sind Sie um solch eine Tochter zu beneiden ...«, hatte fünf- oder sechsmal gefragt: »Nun, Sie sind wohl sehr glücklich?«, oder: »Sind Sie nicht stolz ...?« Sie kannte das nun schon; kannte dieses Gefühl von Ehre, das wie ein heißer Trank durch ihr Inneres strömte. Sie saß da und wartete, bis man sich hier versammeln werde, um Johanna zu hören. Sie bangte ein wenig für den Erfolg, bebte ein wenig für Johanna, schmachtete ein wenig nach dem Triumph, der dem Kind bevorstand.

In der Tiefe ihres Wesens aber wühlte eine merkwürdige Unruhe. Dort ging das Wort, das der Impresario gesagt hatte, hörbar wie das Ticken einer Uhr: »Ewig schade!« Und das Wort des Kapellmeisters klang in ihr nach: »Wundervoll.«

Die Gesellschaft war hereingekommen, der weite Saal war ganz erfüllt von seidenen Damen, von goldenen Uniformen. Und dann trat Johanna ans Klavier. Die Mutter umfing sie mit ihren Blicken, wie sie dort stand, schlank und stolz und mädchenhaft blühend, und wie ihr schwarzes Haar, wie ihr feines Haupt sich dunkel vom weißen Marmorglanz der Wand hob. Mit einem Male war es der Mutter, als ob dort nicht ihr Kind stünde, sondern sie selbst. Sie selbst als junges Mädchen, so wie sie einst gewesen, vor langer Zeit; nur in die Pracht dieses Kleides gehüllt, aufrecht, sorglos, gebietend. Aber sie selbst.

Meine Jugend ... dachte sie, und irgend etwas löste sich in ihr, ging in Stücke, brach zusammen. Es war, als sei die Schicht vieler Jahre, die sich über ihre Seele gelegt hatte, nun geborsten, und als schaue sie plötzlich in das Gruftgewölbe versunkener Möglichkeiten.

Da hob Johannas Stimme an, wie ein Feiertag im Mai, tönend und warm wie junges Sonnenlicht. Die Mutter lauschte, wie sie niemals vorher ihrem Kinde gelauscht hatte. Das bin ich ... dachte sie ... ich bin es ...! und sie zitterte, während sie dasaß, während ihr war, als höre sie sich selber singen. Ihre Gedanken stürzten ineinander, taumelten und glitten unablässig in eine Tiefe, aus der es wie ein Echo heraufkam: »Ewig schade ...«

Sie sah eine kleine, finstere Stube, atmete die dumpfe, erstickte Luft von damals wieder. Sie sah in schmutzigen Bettpolstern die kleinen Kinder zappeln, ihre Kinder. Sie hörte, wie sie nach ihr schrien, wie sie weinten und sich von ihr beruhigen ließen. Sie sah sich über einen rauchenden Herd gebeugt, der Dunst armseliger Speisen stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie sah sich hingeworfen auf den Fußboden und die grauen Bretter scheuern und spürte, wie die scharfe Lauge ihr in die Finger biß. Sie sah sich mit geschürzten Röcken am Ufer des kleinen Flusses stehen. Frierend, von Müdigkeit gepeinigt, stand sie dort und schwenkte die Wäsche in den unsauberen, lehmigen Wellen. »Wäre ich zufällig vorübergegangen ...« hatte der Impresario gesagt. Aber es war niemals jemand vorübergegangen. Niemand hatte sie gehört, zufällig, wie man Johanna zufällig gehört und gefunden hatte.

Sie mußte sich fest an die Lehne ihres Fauteuils halten, so sehr bebte sie. Mein Leben ... dachte sie. Mein Leben ...! Sie dachte es so heftig, daß sie sich erschrocken umsah, denn sie glaubte, sie habe es laut ausgerufen. Was diese große, schöne Welt mit solcher Liebe empfing, mit solcher Glut bewunderte, das hatte diese alternde Frau besessen, hatte es nicht gewußt und hatte es verschwendet. An Elend und Not verschwendet; hingegeben an Qual und Niedrigkeit. Ueber einen rauchenden Herd, über den schmalen Dampf kümmerlicher Speisen hatte sie's hingestreut. Die wundervolle Musik ihrer Seele, diese tönende Musik, der alle Welt dankbar gelauscht haben würde, hatte sie ausgeschüttet über schmutzige Dielen, in die lehmigen Wellen jenes elenden Flüßchens geworfen.

Sie hob ihren Blick und schaute die Tochter an. Die stand dort, eingehüllt in ihren Ruhm, in die Kraft ihrer klingenden Stimme, entrückt durch ihre Kunst. Sie schaute die Tochter an und wußte nicht: hat sie mir mein Leben genommen, hat sie mich drum gebracht, mit all dem rücksichtslosen Anspruch, mit all dem unbarmherzigen Nehmen der Kinder gegen ihre Mütter ... oder gibt sie mir wieder, was ich verloren habe, bewahrt sie, was mir entglitten, baut sie ein zertrümmertes, versäumtes Leben wieder vor mir auf, daß ich es anschauen und mich daran freuen soll? ...

Sie fühlte sich auf eine geisterhafte, erschütternde Weise eins mit ihrem Kinde, das dort stand und sang, fühlte sich zugleich in quälende Fernen von ihr entführt, durch unermeßliche Abgründe von ihr getrennt. Als dann der Beifall wie ein jäh geöffnetes Wehr erbrauste, brach ein wilder Schmerz in ihr aus, und sie weinte laut.

Vor ihr stand der Erzherzog, beugte sich leutselig und ein wenig verlegen zu ihr nieder und sagte: »Gnädige Frau ... ich weiß sehr wohl, was jetzt in Ihrem Mutterherzen vorgeht ...«

Aber er wußte es nicht.


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