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Der alte Narr.

Therese Pranter spielte in einer französischen Napoleons-Komödie die Josephine. Sie trug zehn prunkvolle Kostüme, denn das Stück hatte zehn Verwandlungen. Die Zeitungen berichteten, das Kleid im fünften Bild sei genau nach demjenigen gefertigt, das Josephine getragen, als sie nach dem 18. Brumaire an der Seite des Diktators zum erstenmal in der großen Oper erschien. Für das siebente Bild aber sei das Kostüm der Königin Hortense nachgeahmt worden. Denn Therese Pranter war der Ansicht, Josephine sei bei ihrer Krönung schlecht angezogen gewesen. Sie unternahm damit gleichsam eine Korrektur an der Weltgeschichte.

Man erzählte sich in Wien, der alte Matthias Bögenbacher habe sein hübsches kleines Palais verkauft, um diese Kostüme bezahlen zu können; auch habe er sein Aeußerstes tun müssen, die Perlen und Diamanten, die zu solchen Kostümen gehörten, herbeizuschaffen. Therese Pranter aber erklärte, wenn sie über diesen Punkt befragt wurde: »Lieber Gott, der gute Matthias ... wenn er mir auch doppelt so viel Schmuck geschenkt hätte, ich werde mit seinen Juwelen doch immer nur wie die Mätresse des Herrn Bögenbacher aussehen und nicht wie die Frau des Kaisers Napoleon.« Und sie bedankte sich denn auch ohne besondere Ueberschwenglichkeit.

Der alte Bögenbacher lächelte. Er besaß nun sein nettes kleines Palais richtig nicht mehr, er hatte auch keine Equipage mehr, sondern fuhr in einem Monatswagen. Aber er lächelte glückselig, und in der rosigsten Laune saß er am Abend der Premiere auf seinem Parkettsitz, ganz vorn in der ersten Reihe.

Therese Pranter feierte einen ungeheuren Triumph. Die buhlerische Anmut ihrer Gestalt, die geschmeidige Zärtlichkeit ihrer Gebärde berauschten die Männer und elektrisierten die Frauen. Ein frühlingshaftes Leuchten war in Theresens hellen, blauen Mädchenaugen, und wenn sie redete, klang in ihrer Stimme ein Gurren mit, ein leiser, schwirrender, gesanglicher Ton, der an die Seufzer der höchsten Ekstasen denken ließ und wie ein lockendes Rufen an alle erging, die da saßen und ihr lauschten. Der alte Bögenbacher saß gern hier unten im Parkett. Hier fühlte er sich näher und heißer als in seiner Loge von der Wirkung umsprüht, die Therese übte. Wenn dann der Vorhang fiel, ging der schmale, alte Herr still und lauschend durch die Reihen der Leute, sah auf den Gesichtern der Männer begehrliche Wünsche brennen, sah in den Augen der Frauen Unruhe, Bewunderung und vergleichende Selbsteinkehr. Und dann lächelte er, wie einer, dem kluge Vorhersagung eintrifft oder dem ein kleiner Plan gelingt.

Die Leute schauten ihn an und erzählten sich, wenn er vorbeigegangen war, flüsternd, Therese Pranter sei die Geliebte des jungen Schauspielers, der heute den kleinen Eugen Beauharnais gab. Die Freunde des alten Bögenbacher sprachen davon und nahmen sich nur in acht, daß er es nicht hören solle. Aber das war eine überflüssige Vorsicht. Er hätte es ruhig hören dürfen und wäre nicht erstaunt, auch nicht zornig gewesen. Denn er wußte es. Er hatte es früher als alle anderen gewußt, und wußte auch, daß man von ihm sagte, er sei ein alter Narr. Dennoch lächelte er.

Sogar der Vetter des alten Bögenbacher, der gute Fritz Rodinger, der mit sechzig Jahren immer noch lustig war, meinte, der Matthias sei ein alter Narr. Und als er Therese in der neuen Rolle sah, sagte er: »Die Reserl spielt sich ja selber als Josephine. Deshalb ist sie so gut. Sie spielt ihre eigene Karriere.« Ein junger Mensch erwiderte: »Aber ich bitt' Sie, die Josephine ist doch wenigstens eine Gräfin gewesen und die Pranter ...? Wo stammt die denn her?« Der lustige Fritz Rodinger antwortete: »Eine Portierstochter war sie. Aber das bleibt sich gleich. Es braucht ja nicht jede eine Kaiserin zu werden, die von ganz unten nach ganz oben kommt. Aufstieg ist Aufstieg.«

Therese Pranter spielte im folgenden Jahre die Kleopatra. Es war ein Ausstattungsstück und die Kleopatra darin eine reizende, impertinente, außerordentlich galante, witzige und liebenswürdige Königin. Die Leute verwarfen das Stück, aber von Therese fanden sie, daß sie bezaubernd sei. Die Damen trugen Kleopatra-Frisuren, die jungen Mädchen ahmten die lasterhaften Gebärden, den zärtlich wiegenden Gang und die lockende Stimme der Therese Pranter nach, und die Männer waren wie toll, weil sie überall, wohin sie sich wendeten, an jedem Weib, mit dem sie sprachen, die Spuren und den Duft der Therese Pranter wahrnahmen.

In diesen Tagen wurde erzählt, der alte Bögenbacher habe nun keinen Heller mehr im Vermögen und sei im Begriffe, sich gänzlich zu ruinieren. Außerdem lief das Gerücht um, Therese Pranter werde den Prinzen Alexander Treskoff heiraten. Der lustige Fritz Rodinger wollte immerzu nicht glauben, was er von Bögenbacher sprechen hörte. Daß Therese einen Prinzen heiraten werde, erschien ihm sehr wahrscheinlich. Das sieht ihr ähnlich, dachte er. Daß aber sein Vetter sich in Wuchererhände begeben, hielt er für unmöglich. Allerdings, der gute Bögenbacher mochte einen großen Teil seines Vermögens für diese Therese geopfert haben. Das lag ja auf der Hand. Aber so vernünftig wird er bei all seiner Narrheit doch gewesen sein, für sich ein paar Groschen aufzusparen. Es begab sich jedoch, daß Fritz Rodinger seinen Vetter gelegentlich in einem Kaffeehaus ertappte, wie er mit sonderbar aussehenden Leuten eifrig verhandelte. Ein andermal begab es sich, daß Rodinger den eleganten alten Bögenbacher in einem Einspänner fahren sah. Das waren bedenkliche Anzeichen, und Fritz Rodinger entschloß sich endlich, mit seinem Vetter ein ernstes Wort zu reden.

Er suchte ihn auf und fiel gleich bei den ersten Worten mit der Tür ins Haus »Ist es wahr, daß die Theres den Prinzen Treskoff heiratet?« fragte er.

Bögenbacher strahlte. »Weiß man es schon?« rief er freudig aus, und dann lächelte er glückselig vor sich hin. »Ja ... es ist alles so gekommen, wie ich's mir gedacht habe ... sogar der Prinz ist eingetroffen.«

»Und das sagst du so?« fragte Rodinger verwundert. »Dann ... dann bist du also froh, daß es aus sein wird zwischen dir und ihr ...?«

»Zwischen der Theres und mir wird es niemals aus sein,« entgegnete Bögenbacher ruhig.

»Das verstehe ich nicht,« knurrte Rodinger.

Bögenbacher wiederholte einfach und höflich: »Nein ... das verstehst du nicht.«

»Erlaube,« fing Rodinger in einem ernsten, aber ein wenig unsicheren Ton an: »Ich ... ich habe natürlich kein Recht, mich in deine Privatangelegenheiten zu mengen ... ich ... entschuldige ... aber ... man sagt, daß du ... Gott, ich glaub's ja nicht ... man spricht von ... finanziellen Schwierigkeiten. Ich will nicht hoffen ...«

Bögenbacher unterbrach ihn: »Es stimmt.« Er machte eine kleine Pause. »Ich habe fast nichts mehr.« Rodinger stammelte: »Aber ... aber ... man hebt doch wenigstens ... wenigstens ein paar Heller für sich selbst auf ... man gibt doch nicht alles her!«

Der alte Bögenbacher schüttelte den Kopf. »Das ist ganz unmöglich. Wenn ich auch selbst so klug sein wollte, die Theres würde es nicht zugeben. Solange die Theres noch einen Heller bei mir spürt, ist sie nicht ruhig.« Er lächelte entzückt.

Der andere schlug die Hände zusammen. »Sie weiß also, daß du nicht mehr reich bist?«

»Ja.«

»Daß du dein Palais verkauft hast?«

»Ja ... Wir haben niemals darüber gesprochen. Aber sie weiß ganz genau, wie es mit mir steht. Sie hat mich diese ganzen Jahre her in jedem Moment sehr gut taxieren können. Oh ... sie ist wundervoll ...«

Rodinger lachte ironisch: »Allerdings wundervoll!«

Bögenbacher schien den Spott gar nicht gehört zu haben und fragte voll Freude: »Nicht wahr, du findest es auch?«

»Mensch! Komm zur Besinnung!« schrie Rodinger. »Wie kann sich ein Mann wie du an ein hübsches Frauenzimmer so ganz verlieren? Du bist doch wahrhaftig kein Jüngling mehr. Komm zur Besinnung, Matthias!«

»Mag sein,« sagte Bögenbacher gelassen, »daß diese Besinnung oder das, was du so nennst, eine gute Sache ist. Jedenfalls hätte es jetzt für mich keinen rechten Zweck mehr, zur Besinnung zu kommen. Laß mich, wie ich bin.«

»Solch ein Geschöpf!« wetterte Rodinger. »Dein ganzer Reichtum für solch ein Geschöpf! Wie viele schöne Frauen hättest du dir gönnen dürfen und wärst trotzdem ein reicher Mann geblieben.«

»Ich hab' sie niemals nach dem Dutzend geliebt,« antwortete Bögenbacher heiter, »das wirst du mir nicht nachfühlen können. Du ... der jedes Jahr ein anderes Ballettmädel hat oder eine kleine Schauspielerin, die weiter nichts bedeutet. Dir nicht und der Welt nicht. Therese ist etwas anderes, und meine Beziehungen zu ihr sind andere.«

»So?« meinte Rodinger scharf. »Ist sie also vielleicht nicht deine Geliebte gewesen?«

Bögenbacher sah ihn an. »Kann sein,« entgegnete er langsam, »kann sein, daß Therese meine Geliebte gewesen ist. Kann sein, daß sie selbst nichts anderes denkt, als daß sie nur meine Geliebte war. Was mich betrifft, ich vermag es nicht, dir über diesen Punkt einen genauen Bescheid zu geben.« Der ruhige Blick seiner gütigen Augen kehrte sich nach innen. »Du weißt ja nicht, Fritz, wie das alles sich begeben hat ...«

»Was war denn Großes dabei? Sie ist die Tochter deiner Portiersleute gewesen, und so ist sie dir halt über den Weg gelaufen ...«

»Es läßt sich in Kürze gewiß auch mit solchen Worten sagen,« nickte Bögenbacher ... »Ich erinnere mich genau des Tages, an dem sie mir über den Weg lief. Es war ein schöner Juninachmittag, und ich hatte Gesellschaft zu Tisch. Du bist auch da gewesen, Fritz ...«

»Ich ...?«

»Ja ... Du! Und noch andere Freunde ... und Klementine Steinfeld auch ... es war übrigens das letztemal, daß Klementine bei mir zu Gast gewesen ...«

Rodinger lachte gezwungen. »Was du für ein Gedächtnis hast ...«

»Nicht wahr?« entgegnete Bögenbacher kurz. Dann fuhr er fort: »Ja ... also die gute Klementine ist bis zu jenem Tage meine Geliebte gewesen. Aber damals, nach Tisch, habe ich ihr den Abschied gegeben.« Er sprach jetzt ganz sachlich. »Sie hatte zu wenig Talent ... nein, widersprich mir nicht! Ich gebe dir zu, sie konnte allerlei, sie war geschickt, sie hatte Routine, aber in allen Rollen, in denen Ursprünglichkeit nötig war, versagte sie. Besinne dich, wie sie jenes Lied in dem kleinen Singspiel, das man damals gab, ruinierte, wie falsch und affektiert sie es vortrug? Nun denn, meine Geduld war eben zu Ende ...«

»Deshalb ...?«

»Ja. Sie hatte zu wenig Talent. Und außerdem betrog sie mich.«

»Du glaubst ...?«

»Ich glaube es nicht, Fritz, ich weiß es. Und du weißt es auch. Denn sie betrog mich ja mit dir! Sei nur ruhig; das ist ja heute so unendlich gleichgültig ... Ja ... sie betrog mich. Aber sie tat es genau so, wie sie Theater spielte. Ohne wirkliches Talent. Geschickt, mit Routine, aber ohne Verve, ohne Ursprünglichkeit. Das langweilte mich schließlich.«

»Höre, Matthias.«

»Nein, nein ... wir wollen nicht mehr davon reden. Kommen wir zu Therese. Also höre: an jenem Tage, als ihr alle fortgegangen waret, saß ich noch allein in meinem Garten. Vergnügt bin ich gerade nicht gewesen. Wenn man mehr als fünfzig Jahre ist und soeben seiner Geliebten den Laufpaß gegeben hat, dann wird man nachdenklich und fragt sich, was denn eigentlich noch kommen kann. Aber es kam eben noch was. Wie ich so dasaß, vernahm ich plötzlich eine junge Stimme, die jenes Lied sang. Du weißt ja, das Lied, das Klementine so verdorben hatte. Jetzt aber, in dieser kunstlosen Stimme war das Lied herrlich. Alles klang darin, was ich jemals davon erwartet hatte, und mehr noch. Der tiefste Inhalt dieses Liedes leuchtete gleichsam auf.«

»Das war Therese ...?«

»Ja. Das war sie. Ich hatte sie nie beachtet ... unbegreiflich! Aber ich ließ sie jetzt holen. Könnte ich dir schildern, wie sie da vor mir stand, sechzehnjährig, kindisch noch, und doch schon ganz sie selbst. Weißt du, Fritz, den Künstlern geht es manchmal so, daß sie in einem glücklichen Augenblick ein neues, ungeschaffenes Werk plötzlich vor ihrem inneren Auge aufblitzen sehen. Ein Drama, ein Bild, eine Statue. Es ist nur ein Moment, aber in dieser Sekunde sehen sie die ganze Schönheit des Werkes, das ihnen soeben einfiel, strahlend vor sich. Was dann kommt, ist Arbeit, Hingabe, Selbstvergessenheit, Mühsal. Ich bin kein Künstler; aber als Therese vor mir stand, erlebte ich solch einen Augenblick, und für die Seligkeit dieser Sekunde war ich bereit, mein bißchen Reichtum hinzugeben ...«

»Ich verstehe nicht ...«

»Nun sieh einmal ... Blitzartig wußte ich: dieses kleine Mädchen da ist berufen, eine große Künstlerin zu werden. Diese Kleine da hatte die unbegreifliche Kraft des Wesens, die bezwingt; sie hatte das instinktive Wissen um alle Dinge des Lebens. Sie hatte die unbedenkliche Energie, sich alles anzueignen, was sie begehrte, denn in ihr war die felsenfeste Ueberzeugung, die ganze Welt sei ohnehin ihr Eigentum. Ich begriff: diese Kleine da hatte den Schwung, der hinreißt, die Niedertracht, die man braucht, um keine andere Rücksicht zu üben als die auf sich selbst, die Gelehrigkeit, die so groß und heftig ist, daß sie räuberisch wird, den Trieb zur Lüge, der den Frauen so oft zur Herrschaft hilft, und die Anmut, die zu jeder großen Dirne und zu jeder großen Lügnerin gehört.«

»Verlockend!«

»In diesem Augenblick sah ich in die Zukunft. Ich sah Therese vor mir, wie sie heute ist. Ich sah, wie von ihr ein Taumel ausging über ganz Wien. Ich sah, wie sie im wachsenden Erfolg alle ihre Kräfte entfalten wird; wie sie schnell ihre Herkunft, ihre Armut vergißt; wie sie dann selbst an ihre kleinen Aufschneidereien glaubt, vor allem daran, daß ihr Vater ein General gewesen und daß sie selbst im Kloster Sacré Coeur erzogen worden sei. Ich sah, wie sie auf der Bühne leidenschaftliche Szenen spielt und wie ihre persönliche Art der Liebesgebärde unserer Stadt zum Vorbild wird. Ich sah ihren Aufstieg, ihren Undank, ihren Glanz ... sogar den Prinzen sah ich ...«

»Und ...«

»Ja ... und dann kam eben die Arbeit. Alle Mühsal, alle Hingabe und alle Selbstvergessenheit mußte ich auf mich nehmen, um dieses Geschöpf zur Vollendung zu bringen. Und sieh einmal, wie herrlich alles gelungen ist ... sogar der Prinz ...«

Rodinger schüttelte den Kopf.

»Du verstehst mich eben nicht,« sagte Bögenbacher milde. »Ich bin leider kein Künstler, ich habe im Leben nichts zustande gebracht, ich habe nichts geschaffen, mir ist nie etwas gelungen ... bis auf Therese. Siehst du, diese ist mein Werk; und so habe ich doch wenigstens etwas geleistet. Ich habe der Welt eine vollkommene, eine blendende und berauschende Komödiantin geschenkt, und du mußt gestehen, wir haben einen unglaublichen Erfolg, ich und mein Werk ...«

»Ja,« meinte Rodinger. »Besonders Dankbarkeit ... das hast du von deinem Werk gehabt ... man merkt's ...«

»Du verstehst mich immer noch nicht. Ist ein Bild, ein Drama, eine Statue dem Meister dankbar? Es gehört ja mit zu meinem Erfolg, daß Therese mir nicht dankbar sein kann.«

»So? Und daß sie dich – wie oft – betrogen, daß sie dich ruiniert hat und jetzt einen Prinzen heiratet, das gehört wohl auch mit zu deinem Erfolg?«

»Natürlich ... alles! Ich bin jeden Tag aufs neue entzückt, wenn ich sehe, was für ein Meisterstück Therese ist. Und was hab' ich denn dazu getan? Das bißchen Geld ... sprechen wir nicht davon.«

Als Fritz Rodinger seinen Vetter verließ, murmelte er grimmig vor sich hin: »Alter Narr!«

Es wird Leute geben, die den guten Herrn Bögenbacher verstehen. Aber es kann auch sein, daß der praktische Rodinger dennoch recht hat.


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