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Ellis erster Vormittag in Berlin verging mit dem Suchen eines Zimmers; sie mietete in Charlottenburg, wo ihr zu wohnen geraten war, unweit vom Savignyplatz in der Kantstraße ein Zimmer von der etwa vervierfachten Größe eines Handtuches, dessen Mietpreis aber fünf oder zehn Mark unterhalb des angesetzten Betrages lag, denn – einbeschlossen das Licht der Petroleumlampe, die Wärme der Zentralheizung, die Benützung des Badezimmers und das Frühstück, aus einer Tasse dünnen Kaffees nebst einer Butterschrippe bestehend –, kostete es bare fünfundzwanzig Mark, wozu freilich noch die Monatskarte der Stadtbahn mit vier Mark und siebenzig Pfennigen zu schlagen war, zweiter Klasse, denn hier dachte Elli bei einem Unterschied von drei Mark sechzig und vier Mark siebzig; wennschon – dennschon!
Das Zimmer, wie gesagt, war schmal, so zwar, daß zwischen dem Bett rechter Hand und einem kleinen Sofa gegenüber ein halbmeterbreiter Tisch eben noch Raum genug ließ, um sich durchzuzwängen. Den Platz zwischen Tür und Bett füllte ein Kleiderschrank, den zwischen Fenster und Bett ein andrer hübscher Schrank aus gelber Birke mit dreieckigem Giebel, sechs grünverhangenen Scheiben und darunter drei Schiebladen. Ihm gegenüber führte eine kleine Tür zu einem Verschlag, der außer dem Waschtisch so viel freien Raum enthielt, um beim Waschen darin stehen zu können, und Elli ernannte ihn zu ihrer Speisekammer. Ein kleiner alter Spiegel, gleichfalls aus gelber Birke und mit Giebeldreieck, hing zwischen der Tür des Verschlages und dem Sofa gerade so hoch, daß Ellis Gesicht hineinreichte.
Ein gestickter, ältlicher, aber sauberer Vorhang vor dem Fenster hinderte den Einblick der über den Hof Gehenden; das Zimmer lag wenige Stufen erhöht über dem Erdboden; die Vermieterin hatte einen Damenhutladen an der Kantstraße, – eine dunkelhaarige, freundlich gealterte Frau, mit der Elli sich gut zu vertragen hoffte, im Hinblick auf Anschluß ihres Bügeleisens an den Gaskocher in der Küche.
Übrigens war sie, wie sie gleich erfuhr, nicht die einzige Mieterin, es lagen noch zwei Zimmer an dem schmalen und dunklen Korridor, eines neben dem Ellis, das andre an seinem Ende, welche beide schon seit mehreren Jahren ein ›Herr Doktor‹ innehatte, wie die Vermieterin betonte, ›ein sehr solider Mann‹, der nur die Arbeit kannte. Es sei ein jüdischer Herr, aber sehr nett, – worauf sie erschreckt Elli fragte, ob vielleicht sie selber … Elli verneinte lachend.
Am Nachmittag langte ihr Koffer an, am Abend war sie fertig eingerichtet und sah das Zimmer im Licht der milden Lampe mit weißem Glasfuß sie freundlich genug an. Nun war das Fenster von der Rollwand verschlossen; Elli hatte, Feuersgefahr verachtend, den Vorhang halb aufgezogen und die Lampe erfinderisch in die tiefe Nische gestellt; das nannte sie magisch. Das alte Sofa veredelten zwei bunte Kissen, den Tisch ein türkischer Longschal großmütterlichen Erbes als Decke, auf dem Wandstück links vom Fenster hing das Kruzifix, und die Wände überm Sofa und Bett zierten die mitgebrachten drei kleinen Bilder, gedruckte Wiedergaben von Rembrandts Faustradierung, Correggios Jo und Rosettis Begegnung Dantes mit Beatrice auf der Brücke. Die Photographien der Mutter und des Vaters – ein Jugendbild des als Regimentskommandeur Verstorbenen mit der Schärpe des Bataillonsadjutanten – kamen in die Fensternische.
Elli entschlief unbesorgt diese Nacht; sie würde es aufnehmen mit dem Berlin.
Die nächsten Tage vergingen mit den notwendigen Geschäften der Einschreibung, des Aussuchens von Vorlesungen am schwarzen Brett und des Belegens, die Elli mit Stolz erfüllten. Sie belegte nicht weniger als dreißig Stunden Vorlesung, und da sie es sich zur Pflicht machte, das ganze tägliche Stenogramm alltäglich auch ins reine zu schreiben und zu ergänzen, so war ihr Tag vollauf gefüllt. Aber sie war zufrieden mit sieben Stunden Schlaf, und so würde immer noch Zeit für Lektüre bleiben, für ein paar Theaterbesuche, ein Konzert, einen Vortrag (sie war ein wenig musikalisch und hatte zwei Jahre lang etwas Gesangunterricht gehabt); in den Sonntagvormittag würde sich ein Museum, eine Galerie, in den Nachmittag ein Spaziergang fügen. Bald würde sich wohl eine Gefährtin finden. Das schien Elli ein rechtes Leben.
Aber am siebenzehnten Abend dieses Daseins wurde an ihre Tür geklopft. Nicht durchaus unerwartet von Elli.
Dreimal hintereinander zwischen acht und neun Uhr an diesem Abend hatte die Türglocke angeschlagen; dreimal war der Herr aus dem Hinterzimmer an Ellis Tür vorüber nach vorn gekommen, hatte geöffnet, war eine männliche Stimme hörbar geworden, waren zwei paar Füße zurück und vorbei gekommen und hatte Elli Sprechen und Gelächter gehört, bis die zufallende Tür es plötzlich wegschnitt. Jedesmal auch hatte sie die Gestalt ihres Zimmernachbarn – Ludwig Studassohn hieß er – geistig gesehn, so wie er Ihr einmal im Dunkel des Flurs entgegengekommen war, gerade vor ihrer Tür mit ihr zusammentreffend und grüßend zur Seite tretend, so daß beim Türöffnen dle Helligkeit über ihn hinfiel. Er war sehr groß gewesen, hager von Wuchs und von Zügen, hatte eine Brille vor tiefen und dunklen Augenhöhlen getragen, schwarzes, wirr gelocktes Haar war ihm in die Stirn gefallen beim Abnehmen des Hutes, die Wangen waren ganz schwarz vom Rasierten. –
Es sei an dieser Stelle ein Irrtum der Vermieterin berichtigt, die auf den ›jüdischen Herrn‹ durchaus selbsttätig, nach seinem Aussehn und dem Namen geschlossen hatte, als welcher, wie Elli später von ihr hörte, ganz wie ›Judaslohn‹ geklungen habe. In Wirklichkeit rührte sein Aussehn vermutlich von eben den welschen Einflüssen her wie das Ellis. Der Hauptstamm seiner Familie wurzelte noch heute in der Steiermark, in Graz. Nun seit unberechenbaren Zeiten nur Gelehrte über Gelehrte, lenkten sie ihren Ursprung her von jenem bäuerlichen Heime, dem Sohne des Studas, der aus Neigung zum ritterlichen und abenteuerlichen Wesen an den Hof König Dietrichs ging, ohne daß seine knechtische und finstere Art ihm unter den Heroen Beliebtheit verschafft hätte, worauf er zu guter Letzt, der Rabenschlacht über das Leichengefilde nachreitend, dem daliegenden Wittich den Mimung entwendete unter dem Vorgeben, er habe ihn für erschlagen erachtet. Ein schlauer Nachkomme und Rechtsgelehrter wies ihm verspätet die Berechtigung hierzu so überzeugend nach, daß sein vorher etwas schief gestandener Name wieder zu Ehren gerückt wurde und viele Enkel mit ihm beschenkt; auch dieser, Ludwig, trug ihn, ohne jedoch großen Wert darauf zu legen. – Da ist wohl Geburtstag –, hatte die einsame Elli gedacht und Schlag zehn Uhr die Lust an ihren Stenogrammen verloren. Sie hatte den Tisch mit der Lampe, der vor dem Bücherschrank zu stehen pflegte, neben das Sofa gerückt, sich ein Glas Tee bereitet, eine halbvolle Schachtel mit gezuckerten Früchten dazu gestellt, und hatte sich schließlich, zu ihrem eigenen Vergnügen, wie sie meinte, ›schön gemacht‹', indem sie einen kostbaren, ziegelroten Seidenschal mit langen Fransen um Schultern, Brust und Rücken legte. So saß sie halb liegend im Sofa, das Gesicht nach der Tür gewandt und friedfertig beschäftigt mit Tee, Zuckerfrüchten und Frau Marie Grubbes trauriger Geschichte; saß, ganz und gar nicht auf irgend etwas wartend, denn was in aller Welt wäre zu erwarten gewesen? Immerhin in einer heimlichen Ungeduld, und nicht ohne hin und wieder neben der Buchseite den pfirsichgrünen Streif ihrer Strümpfe hinter dem Rocksaum unten im Schatten zu vermerken.
Als nun in der Tat dieser völlig unbekannte, jüdische Herr in ihrer Zimmertür stand, war sie sehr empört über eine solche Aufdringlichkeit und blieb unbeweglich sitzen, teils aus Nichtachtung, teils im dunklen Bewußtsein, daß Licht, Schal und alles übrige gerade so, wie sie waren, die richtige Ordnung hatten.
Der Fremde, ganz so aussehend wie bei der ersten Begegnung, nur daß hinter den blitzend scharfen Brillengläsern undeutlich etwas Freundliches im Schatten der Augenhöhlen glimmte, verbeugte sich mit linkischer Bewegung und sagte in einer angenehm welch und breit getönten Sprache – Elli erfuhr später, es sei Darmstädtisch –: »Da sitze Sie wirklich so ganz allein, wie mirs dachte. Möcht es Ihnen nit Froid mache, zu uns herüber zu komme?«
Er lächelte überaus gewinnend dazu, und Ellis Herz zog sich leise zusammen. Dieweil erwiderte sie herablassend, wie es sich ziemte, sie kenne ihn ja gar nicht, was er aber durchaus bestritt, da er vor ihr stehe, seinen Namen nannte und erklärend hinzufügte, er und drei Freunde hielten eine kleine, ganz stille Feier zu Ehren eines Buches, das eben heute im Druck erschienen sei, – und nun fragte er, während Elli die Füße vom Sofa nahm, was sie lese. Sie hielt ihm, unschlüssig zurückblätternd, die Titelseite wortlos hin, mußte aber gleich darauf den Oberleib zurücklegen, denn er stieß plötzlich den Kopf so weit herunter vor ihr, daß seine Augen, von denen er die Brille zur Stirn hochschob, fast die Seiten berührten, worauf er nur mit dem einen und mit flinken Bewegungen von links nach rechts den Titel halblaut ablas. – Du lieber Gott, dachte Elli mitleidvoll – und irgendwie enttäuscht –, er ist ja blind!
Einige Minuten später wurde sie gewahr, daß sie übergossen saß von einem strudelnden, ungeheuren Redestrom. Er hatte angefangen, von dem Buche, vom Dichter, von seinen andern Büchern zu sprechen, und wie es schien, sprach er noch immer davon, aber sie verstand nicht das geringste. Minutenlang hatte sie das ängstliche Gefühl, eine fremde Sprache zu hören, deren Worte sie einzeln erkannte, ohne sie in der Geschwindigkeit des Dahinwirbelns übersehen zu können. Obendrein stammelte er auf eine wahrhaft berserkerhafte Weise, nicht eines Zungenfehlers wegen, sondern aus Erregtheit im Innern, stieß fünfmal, siebenmal das selbe Wort hervor auf der zitternd verkrampften Suche nach dem nächsten, sprudelte dann wieder lange Sätze mit galoppierender Geläufigkeit, und wieder versagte ihm alles, er stand da, nur die Lippen verschiebend, stumm, zischend, innerlich rüttelnd, sich biegend. Und bei alledem bewegte er sich in einer riesigen Begeisterung, schwang die Arme, lief unausgesetzt, sich hin und zurück werfend, auf dem winzigen Fleck zwischen Tisch und Tür auf und ab, verbog sich, verrenkte die Hände, warf das Buch an die Erde, hob es, blitzschnell nachfahrend, auf, legte es auf das Bett, brachte Konfektschachtel, Teeglas, Lampe, Tisch, kurzum alles in Gefahr zu stürzen, und trotz alledem schien er innerst unangefochten, denn immer wieder fiel aus seiner Höhe ungemein freundlich und verständnishaft sein Blick auf Elli, und er nickte, lächelte, den Kopf zurückwerfend, schwenkte sich auf dem Absatz herum, fiel beinahe selber und merkte von dem allem augenscheinlich nicht das geringste.
Er schloß damit, daß er, eher zu sich selber als zu ihr, bemerkte, nun könnten sie wohl hinübergehn, seine Freunde würden warten, und so blieb Elli nichts übrig als aufzustehn, da er schon die Klinke in der Hand hatte. Sie löschte die Lampe, im dunklen Flur ergriff er ihre Hand und zog sie hinter sich her auf die rotglühende Milchglasscheibe in seiner Tür zu.
Hier war es nun schattenhaft. Der unerwartet große, quadratische Raum schien Elli zunächst ganz dunkel und rot – lange rote Fenstervorhänge und war zum Ersticken angefüllt mit schwebenden Wolken von Tabaksqualm. Hinter denen sah Elli zwei Gestalten mit rötlichen Gesichtern sich erheben, – ein Diwan stand dort vor einer breiten Wand von Buchrücken, plötzlich dann entdeckte sie zu ihrer Rechten in der Fensterecke die kleine mattgrüne Stoffkuppel einer Lampe hinter einem Gebirge von durcheinander gehäuften Büchern mit lichten Lücken von Lampenschein, und dieser Schattenberg lag auf einem Schreibtisch. Daneben stand noch ein männlicher Schatten, und die Wand darüber war ebenfalls dunkelrot, leer bis auf die schlafende, weiße, vom Widerschein rosig überhauchte Maske eines toten Mannes mit einem Spitzbart.
Der Qualm war kaum erträglich. Nach der Vorstellung – Elli verstand keinen Namen, außer daß der letzte wie Almanach klang –, herrschte eine Weile Schweigen, und Elli gewahrte, daß auch die Wand gegenüber den Fenstern nur aus Buchrücken und Regalen bestand. Indem hörte sie von rechts sich in italienischer Sprache und von einer sehr zarten und melodiösen Stimme gefragt, ob sie nicht italienischer Abkunft sei; darauf sie, froh überrascht von den jahrelang nicht gehörten mütterlichen Lauten: Ja! und wie er das gleich habe sehen können, und ob er selbst Italiener sei? – Er verneinte jedoch, erklärend, daß er alle Sprachen verstünde ähnlich wie Salomo, und aus welcher Gegend denn ihre Frau Mutter sei, denn vermutlich handle es sich um diese. Elli, in den hingeschobenen Armstuhl gleitend, erwiderte: Venezianerin, und nun wars eitel Zauberei, denn sofort hörte sie aus der Gegenrede die erweichten Laute der mütterlichen Mundart so natürlich, daß sie die Stimme der Toten nahe glaubte.
Jetzt wiederholte sich ungefähr der Vorgang in Ellis Zimmer. Da er gefragt hatte, ob sie Venedig kenne, und sie erwidert: nur flüchtig, – so begann er, immer in italienischer Sprache, eine Beschreibung der Stadt mit einer Lebensdeutlichkeit, in einer Leucht- und Erscheinungskraft und in einem Fließen, einer schmelzenden Süße des Tonfalles, daß es unerhört war für Elli. Plötzlich sah sie ihn zu ihren Füßen sitzen, auf einem untergelegten Kissen nach Türkenart mit gekreuzten Beinen, und nun wieder war sein Gesicht etwas ungemein Erstaunliches. Es war ganz weiß, nur klein, aber übergroß die schwere, fast felsig hängende Stirn; er hielt, während der kleine, bläßliche Mund unaufhaltsam den Strom der Rede entließ, die schwarzbewimperten Lider gesenkt, und um so mehr erschrak Elli, als aus dem weißen Antlitz jetzt die Augen zu ihr aufsahen, so schwarz wie der Tod, fast ohne sichtbares Weiß der Augäpfel. Aber er senkte sie gleich, als wüßte er um ihre Wirkung. Wieder lauschte Elli auf das magische Spiel seiner Lippen – gar nicht merkend, daß sie jetzt die fremde Sprache so gut verstand, wie zuvor die eigene aus dem Munde des Andern ihr unverständlich geblieben war, – und langsam verlor das wiederkehrende Schwarz der Augen das Traurige und zeigte ein mehr freundliches Geheimnis.
Wie lange dies gedauert haben mochte, wußte sie nicht, als sie das Stimmengetöse im Zimmer bemerkte, das sie schon eine Weile lang veranlaßt hatte, sich näher zu dem, mit immer gleichmäßig gedämpfter Stimme Sprechenden niederzubeugen. Nun schwieg die Stimme, Elli sah sich um und erkannte für Augenblicke das für sie Fremdartige dieser nur männlichen Gesellschaft, bei der sie nichts weiter war als zugelassen.
Mitten im Zimmer stand einer der Fremden, eine massige und derbe Gestalt auf kurzen, runden Beinen, in heftigem Wortwechsel mit Ludwig, der an der Bücherwand lehnte. Merkwürdig erschien ihr dessen, jetzt in den Augenhöhlen und eingefallenen Wangen noch tiefer verschattetes Gesicht ohne Brille, denn ganz deutlich erkannte sie die Linien eines Dreiecks, das in sein Gesicht gelegt war, so daß die obere Seite sich durch die Augen zog und das vorgebogene Kinn in seiner Spitze saß. – Der Andre zeigte ihr, als er sich umwandte, ein breites, kräftiges Gesicht, in dem ein Monokel aufglühte, mit überaus buschigen, schwarzen Brauen und starken Bartstreifen, die sich aus dem Schläfenhaar vor den Ohren herabzogen. Dieser bezeigte Neigung zum Humor, sprach berlinisch, lachte gern schallend und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. So Ludwig nicht lief, lief er im Zimmer auf und nieder, behäbig auf den kurzen Beinsäulen, oder lehnte sich schwerleibig irgendwo an. Der Dritte, den Elli nun sah, der sich schweigsam verhielt, im Diwan saß vor einem niedrigen, ganz mit Flaschen, Gläsern, Aschenschalen, Zigarren- und Zigarettenkisten verstellten Tisch, und häufiger sein Likörglas aus einer verdächtig aussehenden Kruke füllte, hatte ein gelbes Gesicht, das auf eigentümliche Weise schief war, oder ein Stück schien zu fehlen, und infolgedessen war es so schmal und saßen die Augen – eines höher als das andre – so nahe aufeinander. Aus aller Händen stiegen die feinen, bläulichen Rauchfäden auf.
Wieder aber, wie in ihrem Zimmer, konnte Elli trotz angestrengten Aufpassens den Sinn keines einzigen Wortes oder Satzes begreifen. Sie verstand nicht, daß die Redenden sich verstanden, und übrigens rissen sie sich zumeist die Worte vom Munde ab wie Bänder, dann schwelgte wieder ein Einzelner in langer Rede. Elli hörte die Worte, sie kannte sie, allein jedes – solche wie: Gestalt, Form, Mythos, das Heroische, leibhaft, Blut, originär, Gebilde – entfremdete sich im Zusammenhang augenblicks samt dem Zusammenhang selber, es waren lauter Rätsel, Hieroglyphen des Ohrs, eine Geheimsprache. Sie ermüdete endlich und gab das Zuhören auf, zumal es ihr schien, als würde ihr Wesen nach oben gezogen und verdreht von etwas, das – in der Höhe der Zimmerdecke etwa – über ihr vorging, und wo Gezeiten der gedanklichsten Abgezogenheit gleich ziehendem Gewölk wechselten mit leuchtenden Hervorschnellungen leibhaftester Bilder, wie sie etwa einmal Ludwig mit einer prachtvollen Geste sagen hörte: »Auf das Datum genau läßt er sich feststellen, der Augenblick bei Hofmannsthal: wo der Adler des Zeus – plötzlich – wegflog!« so daß Elli fast erschreckend das mächtige Aufrauschen und Wegstieben des Vogels zu sehn glaubte. Aber doch blieben diese Bilder zumeist zerstückt, klobige Torsen mit schreckhaft lebendigen Augen. Und es nahm kein Ende.
Elli griff nach dem vor ihr stehenden Römer und nahm einen Schluck. Dieses Schluckes entsann sie sich später mit sonderlicher Deutlichkeit und schob es bei den mannigfachen Rätseln des Abends auf ihn, daß sie unvermutet plötzlich von dem neuen Gespräch der Männer, das sich nun entspann – in Wirklichkeit Fortsetzung des alten, allein Elli schien es so –, jedes Wort verstand. Jenen Blick Ludwig Studassohns dagegen, den langen, mit dem seine Augen und die völlig vergeßlichen ihren zusammenhingen, so daß in ihrer Brust etwas flatterte und sich spannte, ihn vergaß sie wohl aus dem Grunde völlig, weil sie sich hinterher zu ihrer Beruhigung sagte: Er kann mich ja gar nicht sehn!
Der am Tische Sitzende sagte sehr deutlich, langsam, nur mit fremdartiger Aussprache: »Das geheimnisvollste Ding ist jedenfalls – der Wein.«
Obgleich er ernsthaft um sich her sah, lächelten die Andern, der Behäbige klatschte sich auf den Schenkel und rief: »Donnerwetter! Ist es die Möglichkeit! Ludwig, er meint, es wäre der Wein!« und lachte mit Schallen.
Ludwig stammelte eine Weile und meinte endlich, das einzige Geheimnis wäre ohne Zweifel das Weibliche.
»Das Gebilde!« schrie der Andre, »das Gebild ists und nichts andres!«
Das verstand Elli wieder nicht, aber nun bat sie, erschreckend vor ihrer eigenen schwachen Stimme, ihr zu erklären, wovon die Rede sei.
Der Schwarzäugige zu ihren Füßen sagte:
»Es war die Rede davon, daß jene Dinge der Welt, von denen wir ergriffen werden, die wir darum meist einfach ›schön‹ nennen, menschliche, natürliche, vor allem Dinge der Kunst, einen gewissen Zauber an sich haben müssen, in dem ihr Erschütterndes beruht, dessen Ursprung nicht ergründbar und eben: das Geheimnis ist. Denken Sie gleich einmal an Gott. Was wäre er ohne Geheimnis, geschweige daß er vermutlich mehrere hat. Nun meint unser Freund Józsi, unter den irdischen Dingen sei das Geheimnisvollste der Wein, Studassohn meint, das Weibliche sei es, und Valerius das Gebilde, das Kunstwerk. Sie können es ja nun jeder beweisen.«
Da alle sich dem Józsi Genannten zuwandten, fing der nach einer Weile an:
»Das Geheimnis eines Gegenstandes beruht auf seiner Wirkung. Eine Inkongruenz, eine Nichtübereinstimmung seiner Wirkung mit seinem Wesen, oder ein Übermaß an Wirkung bei geringer Erscheinung. Was ist gering? Was uns bekannt ist.« Er hob und zeigte, ruhig und trocken weitersprechend, sein Likörglas, während Elli nicht recht begriff, warum die Andern sich beständig zu freuen schienen. »Hier sind drei Tropfen, von denen ich ungefähr weiß, woraus sie bestehen oder gewonnen sind, aus Pflanzen, gekeltert, gekocht, gegoren, zu Klarem destilliert. Nun fällt ein Tropfen in mein Gehirn, und es brennt, aber es macht mich zufrieden. Die Welt wird ganz schön, sie wird farbig, sie erhält gute Kontur, alles kommt in Ordnung. Sehr schön. Ich empfinde mich Ihnen sehr zugetan, und daß Sie mir auch wohlwollen. So der ganzen Welt. Nun ein zweiter Tropfen, und er macht mich glücklich. Mir darf nichts geschehn, ich nehme es gleich auf mit jedermann, alles ist ein Spiel, Fahnen und Standarten, Musik und Tänze. Alles der Sliwowitz. Und ein dritter Tropfen macht mich gleich Gott. Ich fülle meinen Leib, fülle mein Wesen, ich erreiche all mein Maß, ich verliere aber mein Gewicht, ich mache mir Flügel unter Gliedern, ich bin wohlriechender Dampf, meine Seele darin in seinen Windungen gleitet hin und her wie ein reizendes Farbenspiel, und ich habe keine Vergangenheit mehr, meine – téremtette!« sagte er plötzlich, so daß Elli erleichtert merkte, es war alles nur Scherz – »meine Schultern heben sich wie Fittiche, ich strahle an alle, und sie strahlen mir wieder. Aber der vierte Tropfen, da werde ich ganz wirr. Ich rede plötzlich eine fremde Sprache, – meine Muttersprache, ich verstehe sie nicht mehr schön, ich muß ganz laut reden, ich muß mir überschrein, denn in mir sind verstopft alle Organe dick mit Wachs, nun – und so weiter. Wirkungen und Wandlungen,« schloß er, »un–ge–heu–er.«
»Was für ein fürchterlicher Unsinn!« erklärte Valerius und, Wirkung, rief er, wäre überhaupt das Letzte, wovon zu reden sei, die Ursache sitze viel tiefer, sitze im –
»Im Stoff,« sagte Ludwig. Stammelnd und rennend strudelte er hervor, nur der Stoff, aus dem ein Ding gemacht sei, könne auch sein süßestes Geheimnis enthalten, aber – Józsi hätte ganz recht – alle Stoffe seien bekannt. Das eben sei's: das Unbekannte des bekannten Stoffs. Das Weib, die Frauen! Augenscheinlich sei da alles bekannt, sei sie aus gleichem Stoff und zur ähnlichen Form gemacht wie der Mann, gleich an Fleisch und Haut, Haar und Nägeln, Zähnen, Augen, Mund und allen Gliedern. Aber die ungeheure Fremdheit! Aber das grenzenlose Anderssein!
»Haar, das ganze, hier meins!« rief er, sich hineingreifend, »das ist Haar, das – das – das – ich begreife, Haar aus Haaren, männ– männ– männlich und natürlich wie – wie – wie Pflanzen, wie Fell! Aber dort! Im unbekannten Stoff ein – ein We– ein We– ein Wesen, eine Lelebensform, ein Odem, eine un– eine un– eine, eine, eine, eine un– unrettbare Süßigkeit, die nie zu begreifen ist, weil man nie darin sein kann, weil alle Organe fehlen, alle Zusammenhänge, weil alles anders ist, und sie sind – wie – wie – wie Figuren aus Sternen, die Dinge scheinen und klar und un– untrüglich am Himmel, aber in Wahrheit un– un– unsäglich fern und einsam und unerforschlich, eine – eine – eine – eine andre Welt. Die die die – Demut eines Scheitels, ein An– ein Ansatz an der Stirn, am Nacken, und die Lichter und – und – und das Rieseln, eine ga–ga–ganze Nacht voller Geheimnisse im Ga– Ganzen, und jedes einzelne eine – eine – eine – eine – eine Lernäerin, eine Hydra, eine ungeheure Schlange an Wirkung!«
»Wirkung,« wiederholte Valerius. »Genau wie Józsi. Überhaupt,« fragte er auflachend, »woher wissen Sie das alles? Haben Sie das mit oder ohne Brille entdeckt?«
»Das seh ich nicht, dazu brauch ich keine Brille, keine Augen, keine Organe, das fühl, fühl, fühl ich nicht, das weiß ich, das ist mir eingeboren! Das ist eben das Geheimnis! Das ist das Geheimnis des F–f–feuers, der Luft, der Elemente, das ich seit Ewigkeit erfahren habe und nie begreife, das Geheimnis der Erde, das sich in ihr verkörpert, das ist die – der – der – der göttliche Sperber, der un– der un– unsichtbar auf ihren Sch– Schultern sitzt und mich anglüht mit unsterblichem Auge über der irdischen Erscheinung.«
Nun fing Valerius in überlegender Ruhigkeit seine Rede an. Er, Studassohn, hätte all das bewiesen, was er selber nachzuweisen gehabt hätte. Das Geheimnis ruhe nicht im Stoff und nicht in der Wirkung, obwohl es sich auch in diesen kundgebe. Das Tiefste aber ruhe im Gebilde, nämlich in der Gestaltung, im Gewordensein, in der Form. Aus dem bekannten Stoff die ewig unbekannt bleibende Form. Denn was heiße: unbekannt? Ein Portemonnaie, jeder kennt es, weiß von seinem Leder, seinen Taschen, Klappen, Bügeln und Verschlüssen, und wenn mans geschenkt bekomme, sei es fast so geheimnisvoll wie die Jahrmarktsuhr für den Zehnjährigen. »Der Junge,« sagte er, »weiß nicht, wie das zustande kam, ich weiß es, ich weiß vor allem, daß es nur Arbeiter-, nur Menschenhand war, die es machte, und schon deshalb gilt es mir nichts. Und doch würde es mir gelten, es giebt ja auch andre Dinge als Portemonnaies, Vasen, oder Uhren, oder Maschinen, und da scheint euch auch schon mehr Geheimnis, bloß weil ihr weniger davon versteht. Aber warum ist da kein wirkliches Geheimnis? Aus zwei Gründen. Nämlich erstens.
»Sie dienen einem Zweck. Ihr Anfang wie ihr Ende liegt in der menschlichen Hand beschlossen, sie machte sie, und sie dienen ihr. Scheint das einmal nicht so, dann ist das für Augenblicke und wie das Aus-der-Hand-schnellen einer Rute, deren Ende sich gleich wieder einfangen läßt. Aber das Gebilde, das Gedicht, die Statue, das Gemälde: diese haben ein Ende, das sich nicht in meiner Hand fangen läßt und halten, sondern sie reichen über sich hinaus, über alles irdische Eingereihtsein in die Zwecke und Bräuche hoch hinaus und hinein in das Nutzlose, in das Ewige. Das Weib – tut das nicht. Es tut es nicht! Tut es in einem hohen Grade nicht, in einem fast geheimnisvollen Grade nicht, weil sie es ist, die das irdische Dasein besorgt, Kinder hat, Geschlechter und die gemeine Dauer verbürgt. Sie ist eine Brücke, sie hat das Geheimnis der schönen Brücke, über die mit Lasten und Zügen, mit Heerbannen, Karawanen und Waren die Menschheit verkehrt, aber unter ihr ergießt sich der Strom der Unsterblichkeit, und sie verschüttet sich selber die Sterne, die da widerscheinen.
»Und der andre Grund ist der des Nichtdauerns, des Abgebraucht- und Verbrauchtwerdens.«
»Darüber will ich reden!« sagte der vor Elli Sitzende mit seiner sanften, aber klingenden Stimme. »Ich will reden von der Marktware, der alterslosen. Erst ist sie so schön, so glatt, so glänzend, so fremd und so neu; geheimnisvoll. Am zweiten Tag ist sie schon blind, und wir sehen sie nicht mehr, sie muß ihr dürftiges Leben in sich ziehn und einwärts leben, nur sich heben und bewegen lassend, wie die Schnecke in ihrem Haus, und wie diese ist sie ein einfältig duldsames Lasttier, das nie etwas andres tragen kann als seinen eigenen Zweck. So wird sie verbraucht, so geht sie zugrunde, wird zerschlagen, verschleudert und haucht ihre sterbliche Seele irgendwo unterm Kehricht aus. Beklagenswerte Geheimnislosigkeit. Und doch hatte auch sie ihr kleines Geheimnis an einer Stelle, da, wo sie ihr ›Patent‹ hat, ihren Seelestempel, ihre besondre Eigenart, die kleine Erfindung, die sie erst lebensfähig machte, heut vielleicht nur ein Knopf, eine Feder, ein Bügel, aber einmal war doch das ganze Ding eine glückliche Erfindung, eine holde Eingebung, ein blitzender Gedanke, und wenn es auch nur ein Henkel war – der erste! – ein Bastgeflecht, ein Griff am Steinmesser, der es zum Beil verwandelte, so war es eine kleine ursprüngliche Pallas, die dem Haupte, ach keines Gottes, aber doch des Menschen entsprang immerhin, in dessen Macht freilich die gewaltigste Eigenschaft Gottes nicht zu geben stand: Ewigkeit, unbegrenzte Lebensdauer und dazu Schönheit, das ist Unverletzlichkeit. Aber einmal war es doch reine Geburt, ein kleiner Triumph der Phantasie, ein Sieg des Menschen über den Menschen, des findigeren Sohnes über den Vater, ein Erzeugnis aus Nichts, eine liebliche Erschaffenhelt.
»Nun aber heben wir an das Licht und zeigen es in der unfaßbaren Glorie seiner ewigen Verschleierung: das wahre Geheimnis, das Werk, das Gebilde. Er wollte das Ewige, der Mensch, das zeitlich Unbegrenzte, und das alterslos Schöne, und so fand ers im Nutzlosen, in jenem Ding, das er machte, nur: damit es sei. Ja, damit es sei und ihm bezeuge, daß er selber war! Oh die Hymnen und die Dome, die Statuen und die Kleinode, die Tragödien und die Messen, die Bilder von Heiligen und Madonnen, das ganze himmlische Volk allmächtig strahlender, und niemals vergehender, und niemals entschleierter Gestalten. Ja, war nicht die Rede vom weiblichen Stoff und seiner berauschenden Rätselhaftigkeit? So laßt uns nun die süßeste aller Rätselhaftigkeiten erkennen im alltäglichsten Stoff, in der menschlichen Sprache. Die armen Worte, die im Alltag darben, die vielgebrauchten, vergriffenen, die tausendmal versuchten und verschwendeten, da doch keines so neu, so erlesen, so erhaben wäre, daß nicht der Menge Stempel auf ihm fleckte: sie alle, alle, – wenn nicht meine Hand, sondern durch mich hindurch eine andre Hand, jene unbekannte, jene des Willens zur Unsterblichkeit sie ergreift, so beginnt ihre Verwandlung, beginnt ihre mystische Lebendigkeit, sie werden zu Gliedern, zu Augen, die blicken, zu Lippen gesangreich, sie bewegen und erheben sich, und so wie jene indischen Tänzerinnen ihre Leiber verschränken und aufbauen zur Gestalt eines heiligen Tiers, so schmiegen sie und schmelzen sich zusammen zur neuen, zur heiligen Form. Woran aber erkennen wir deren Adel, deren Göttlichkeit woran? Daran daß sie nicht altert. Ach, auch die zärtlichste Geliebte, daß sie einmal welken muß und wie alles andre werden, eingereiht in den Kreislauf unsrer verjährenden Ebene, unschön, alternd von Jahr zu Jahr, endlich entstellt, keinem mehr wert als dem Tode! Aber ich, seht, ich habe als ganz kleiner Mensch, als Knabe von sechs, nein von vier Jahren eine winzige Sache geschenkt bekommen, ein Gedicht, ihr kennt es alle, es fängt damit an, daß der Mond aufgegangen ist, und es heißt darin!
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Was fiel davon in mein Herz, da es doch kein Feuer war, und brannte ihm die magische Narbe, die immerwährende, und machte, daß sie wieder brennen wird und immer wieder, wann nur von einstmals der zaubrische Klang an die Wandung meines Daseins rührt? Zwanzig Jahre seitdem sind dahin, hundertmal seitdem bin ich Mensch geworden, immer ein andrer, jene Verse trug ich all die Zelt mit mir – wahrend alles in mir sich wandelte, unwandelbar, mit mir in einer Tasche, wie einen Schlüssel, wie die ererbte Uhr, habe jahrelang ihrer nicht gedacht, aber gestern und heute, wann immer ich will und so oft ich es will, und sie mir vor Augen kommen, so bin ich getroffen, so brennt mir das Herz, so bin ich mir versüßt durch ihre Süße, die stückweis zusammengeheftet ist aus alltäglichsten Worten, so öffnet jenes ›wunderbar‹ alle Länder des Wunderbaren, Himmel der Kindheit und die Abendschwermut des Alters über meinem nachdenklichen Haupt. Und so immer im Ewigsein bewahren sie ihre Schönheit, altern allein niemals, und ob sie vor mir durch Legionen von Leben zogen, und nach mir durch Legionen von Leben ziehen werden: von keinem dieser Wege bleibt ihnen geringste Spur, sie sind heilig, sind unverletzlich, sind unberührbar, ja sie sind so tief in Magie, so urtief im Rätsel und so voll Lebenskraft in ihrer Reinheit, daß sie nur edler, strahlender, tüchtiger werden vom Gebrauch, denn so ist es bestellt mit dem Reinen, daß der Gebrauch der Zeit es nicht angreifen kann, sondern daß es auch von ihm eine himmlische Patina zu bilden vermag. Das Heilige bleibt vom Unheiligen unberührt, aber es nimmt das Fromme, das Ergebene, das Liebende allzeit an und nährt sich daraus, kleidet sich daraus, und wo alles, alles sich verliert und vergreist, da verjüngt es sich vielmehr, und seht, nun ist es schon tausendmal jugendlicher geworden als sein Erzeuger, der lange zu Staub zerfiel. Aber freilich – er war es nicht.«
Wie sie in ihr Zimmer zurückgekommen war, wußte Elli kaum. Sie saß in ihrem Sofa am Tisch, verwirrt von etwas irgendwie Nieerlebtem, das sie gelähmt hatte, nach dem sie noch jetzt wie angewurzelt zurückgedreht war wie Lots Weib zum Brande der Städte. Der Tisch, an dem sie saß, war er wie zuvor? Äußerst entfremdet, – und im Schoße hatte sie das kostbare Buch, und wenn nicht das Buch gewesen wäre, so hätte sie das Ganze für einen Traum halten mögen. Sie entsann sich noch des allgemeinen Aufbruches, und wie die Drei sich von ihr verabschiedet hatten und plötzlich mit Ludwig verschwunden waren, im Zimmer war sie in einer wirren Beglücktheit allein, die sie, die Hände im Rücken gefaltet, leise summend hin und her gehen ließ, wobei sie auf dem Diwan das weiße Buch entdeckte und es zum Licht hintrug. Bevor sie jedoch auf dem Deckel die, in goldenen, ineinander verschränkten Lettern schwer leserliche Aufschrift entziffert hatte, waren ihre Augen wieder auf die Photographie gefallen, die sie schon vorher bemerkt hatte, Kopf und Brust eines Mannes, der die Stirn in die Hand gestützt hatte – eine seltsam bäurische Hand –, und nie glaubte sie ein so streng und fremdes, so abgeschlossenes, so außerweltliches Gesicht gesehen zu haben wie dieses, von dessen breit ausgemeißelter Stirn wie eine Korngarbe das dunkle Haar aufstieg und auseinanderfiel, dessen Augen, klein, Elli an ein unbekanntes Tier erinnernd, ähnlich denen Ludwigs im Schatten der großen Höhlen lagen, und dessen schmal gepreßter Mund und vorgestelltes Kinn an – an wen erinnerten? An einen Heiligen, meinte sie, erst später erkennend, daß sie Dante meinte.
Nun las sie auf dem Buchdeckel: Stefan George: der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, – aber bevor sie das Buch aufgeschlagen hatte, kam Studassohn zurück, sie fand es unpassend, noch da zu sein, stand auf, fragte ihn aber noch, auf das Bild deutend, wer das sei?
»Das wissen Sie nicht?« gegenfragte er, nachdem er die Augen ganz nahe an das Bild gebracht hatte, als hätte er es noch nie gesehn, lächelte und antwortete nun nach einer kleinen Pause, die jedoch, so gering sie war, einen Hauch von Geheimnis, oder Besonderheit, auch von Ehrfurcht dem Namen vorausschickte: »Stefan George.«
»Ach! Von dem das Buch hier ist?«
»Ja. Wollen Sie es mitnehmen?«
Sie hatte es mitgenommen und schlug es nun auf, aber es gab eine Enttäuschung, denn womit sie die gelblichen Blätter sparsam bedruckt sah, das waren seltsam entfremdete Lettern, das war alles so wie die Gespräche der Freunde, nur machten es hier, wie sie erkennen mußte, die großen Anfangsbuchstaben, indem sie nämlich fehlten, und desgleichen die Satzzeichen, denn sie fand nur Punkte. Vieles schien ihr sehr feierlich, sehr fremd, sehr ernst und gestrenge, sehr selten und – nicht ganz eingestandenermaßen – eigentlich furchtbar merkwürdig. Und was konnte das heißen?
Sie grüßen dich laut zur schönern geburt
Den dunkel umfing verherrlicht ein schein …
Hierüber grübelte sie eine Weile, blätterte da und dort, fing auch wohl einen fernen Klang, ein seltsam klarfarbenes, durchsichtiges Bild auf, aber die Enttäuschung, nicht mit geschwellten Segeln über einen vollen, glockentönigen Strom, wie sie erwartet, dahinfliegen zu können, war schwer genug, um sie bald mutlos zu machen.
Plötzlich traf ihr Blick auf die Zeile:
Zu wem als dir soll sie die blicke wenden ..
Sie stockte, fand sich persönlich getroffen und las weiter. Siehe da, jetzt war wiederum alles leise geöffnet, sie las langsam, sorgsam, überall die entfremdeten Worte sich in die bekannten der eigenen Sprache zurückverwandelnd, wo sie jedoch sehr hoheitsvoll, starkäugig und fast hochmütig erschienen, die fehlenden Satzzeichen einfügend, und Wort zu Wort tastend, fand sie volleren Klang, farbigeres Leuchten, süßeren Aufblick, und nun las sie, langsam, das Ganze noch einmal, nun kaum den inneren Jubel verhaltend über das Unerhörte, über das rätselhaft, wie etwas ganz andres als ein Gedicht Wundervolle, das unter ihr aufblühte wie ein Garten:
Zu wem als dir soll sie die Blicke wenden,
Die glühend Suchende, der du zuerst
Die Höhen wiesest und das Glück bescherst,
Das diese bunten Tage nimmer senden?
Du gibst den Rausch – sie schwebt zum ewigen Tore,
Erhoffter Strahlen jauchzendem Gemisch,
Sie gleitet durch den Saal zum Göttertisch,
Erfüllung leuchtet – Lösung schallt im Chore.
Die unerreichte Flur scheint ihr gewonnen,
Sie überfliegt die Klüfte mit dem Aar,
Sie schaltet mit der kleinen Sterne Schar
Und stürzt entgegen väterlichen Sonnen.
Nun mußt du sie im irren Hasten zügeln,
Du beugest dich aus deiner Wolkenstatt
Und hüllst, die zitternd ist und freudesatt
Getreuer Geist, mit schweren Traumesflügeln.
Das war sie! Mein Gott, das war ja sie selber, Wort für Wort, und Zeile für Zeile! Elli empfand fast etwas wie Scham, aber so war ihr zumute, in solch einem blendenden Rausch schwebte sie über sich selbst, und wie war das schön, über alle Maßen schön, dies: ›erhoffter Strahlen jauchzendem Gemisch!‹ und dies: ›die unerreichte Flur!‹ ›Sie gleitet durch den Saal‹ … und die ›väterlichen Sonnen,‹ ›stürzt entgegen,‹ ein Wort magischer, glorreicher als das andre, und nun erst das ›die zitternd ist und freudesatt‹ … ›Getreuer Geist!‹ murmelte sie bebend selber, ›getreuer Geist!‹ und da war jenes kleine, weiße Gesicht mit den mehr als schwarzen Augen, – allein – es verzog sich, fast mit einem Lächeln, und statt seiner erschien jenes dunkle Dreieck …
Elli stand auf, legte das Buch geöffnet hin und lernte das Gedicht während des Auskleidens auswendig. Im Bett liegend, im Dunkel, wiederholte sie es noch mehrere Male, allein im dritten unterbrach sie der plötzliche Gedanke: Er ist ja ganz blind! mit überwältigendem und sehr wohltuendem Mitleid.
Lud – wig – Studassohn – sagte sie langsam halblaut in das Dunkel, horchte in das Verhallen der Silben und war schon entschlafen.
Mit jenem Abend in Ellis Leben begann die Zeit ununterbrochenen Beseligtseins, die ohne Schwanken und nur mit einer einmaligen leisen Steigerung nahezu anderthalb Jahre währte.
Es bestand, dies Beseligtsein, zunächst in drei oder vier Tagen, die für Elli vergingen wie die früheren in Berlin, außer vielleicht, daß sie sich hier und da einmal über einem grundlosen Lächeln ertappte, wenn sie mit jemandem sprach – worüber der sich wunderte –, oder auch wenn sie ganz allein war; ebenfalls über einer minutenlangen Abwesenheit von sich selber, während der sie über den Rand ihres Buches, ihrer Kollegabschrift, oder was es nun war, hinwegstarrte, ohne etwas zu denken oder zu hören.
Es bestand ferner darin, daß Ludwig Studassohn bei ihr erschien und ihr vorschlug, ihm Unterricht in italienischer Sprache zu erteilen. Aus ihren Ausflüchten – zu wenig Zeit, und sein Freund spreche gewiß ein besseres Italienisch – entspann sich ein mehrstündiges Gespräch über seine Freunde, den Ungarn Józsi, einen Dichter, der sich mit nichts beschäftigte, als die Gedichte Georges in seine Sprache zu übertragen, und den jungen Jason al Manach, wie er hieß, der nicht eigentlich ein Mensch sei, sondern eine Art Waldgeist, der sich auf keine Weise in Häusern zwingen und binden lasse – also schon gar nicht durch regelmäßige Lehrstunden –, komme und gehe, wie es ihm beliebe, und dessen geistige Fähigkeiten übrigens unbegrenzt seien, so daß er zum Beispiel vermöge einer unnatürlichen Gedächtniskraft, die alles Gelesene in ihm festhalte, alle nur denkbaren Sprachen des Erdballs verstehe und unzählbare davon auch rede. Von persönlichen Schicksalen des absonderlichen Menschen war weder Ludwig noch seinen Freunden etwas bekannt.
Es bestand – das Beseligtsein – nun vor allem in den Unterrichtsstunden, die freilich in Ellis Tagesablauf nicht unbedeutende Veränderungen bewirkten. Angesetzt für die Abendstunde von acht bis neun Uhr, dauerten sie in der Regel bis elf Uhr und länger, in welchem Zeitraum allerdings das Italienische den geringsten Raum einnahm, und wobei Elli doppelt und dreifach soviel lernte wie ihr Schüler, nur auf andern Gebieten. Kein Wort, dessen Erläuterung nicht die Möglichkeit zu Abschweifungen in fernste Kreise geboten hätte, und Elli, bald zutraulich geworden, fragte nach allem. Er, zuerst genötigt, sich ihrer beschränkteren Denkweise und ihrer Sprache anzubequemen, konnte schon nach kürzester Frist zur eigenen zurückkehren. Wahrscheinlich waltete hier Magie, denn Ellis Verstand, oder eigentlich nur ihr Verständnis für die ›Geheimsprache‹ wuchs mit der Geschwindigkeit einer Bohnenranke und stand unversehens, zierlich von seinen Spalieren hangend, in farbig luftiger Blüte. Und schon war der ganze Tag ihr nicht mehr als ein grüner Stiel, die große und leuchtende Blume des Abends zu halten, – aber freilich: hatte sie zuerst gemeint, die ausfallende Stunde von ihrem Nachtschlaf wegnehmen und ersetzen zu können, so fand sich für ihrer drei und viere kein Ersatz, und einige Kollegstunden mußten daran glauben.
Und es bestand nunmehr, das Beglücktsein, in der uneingeschränkten, ihr ganzes Dasein bis zum Rande, bis zur völligen Unwahrnehmbarkeit für sie selber erfüllenden Hingabe an den Geist dieses Menschen. Elli wäre kein junges Mädchen gewesen, wenn sich niemals Widersprüche in ihr geregt hätten, aus keinem andern Grunde, als weil feindselige Stellung gegen das Männliche vererbte Prägung an ihrer Seele war, und gewiß hätte wenigstens ein Ansatz zu Widerstand sich nicht unterdrücken lassen, wenn – sie nicht erstens überrumpelt worden wäre durch jenen Abend –, und wenn zweitens die geistige Sphäre, in der Ludwig zu Hause war, der ihren nur um ein wenig näher gelegen hätte, da es sich gemeinhin mit den Menschen so verhält, daß ein Jeder das Anderssein des Andern nicht als Entferntheit in gleicher Ebene, sondern als ein Höher oder Tiefer empfindet. So hätte auch Elli eine Höhe über ihr und also infolge des Gefühles der eigenen Niedrigkeit Widerstand empfinden müssen; die geistige Atmosphäre des Mannes aber, der sie sich näherte, hatte so gar nichts gemein mit der ihren; seine Forderungen und Satzungen, sein Ethos, seine Gedanken über Kunst, sein Gefühl für die Natur, sein Verhältnis zur übrigen Menschenheit lagen schlechterdings in so himmelweiter Ferne vom ihr Gemäßen, daß sie nur das völlige Andersgeartetsein wahrnahm, als für welches die geistige Form von Menschen ihrer früheren Kreise schlechterdings gar nicht vorhanden war; daß sie also von vornherein zum entscheidenden Entweder-Oder sich bekennen mußte, das heißt stehen zu bleiben, wo sie stand, oder überzutreten. Da aber im Kern ihres liebend entbrannten Wesens die Entscheidung gefallen war, bevor sie dessen bewußt wurde, so stand sie auch schon drüben, ehe sie es recht gewahr wurde; so war es kein schwindelnder Aufstieg, sondern ein Entrücktsein wie vom Flügel eines Ifrits, nur daß sie jetzt, neben dem Mann stehend, auf ihre frühere Form etwa mit jenen, aus Erstaunen und Bemitleiden sehr leise gemischten Empfindungen hinabsehn konnte, mit denen die, in reinere Bezirke aufgestiegene Seele auf ihre verbliebene leibliche Hülle hinabsehen mag.
Für Elli war nun alles natürlich geworden, nur daß es allezeit den Glanz des Wunderbaren behielt oder des Feenhaften, – aber nie des Unwahrscheinlichen, eben weil es natürlich und weil so leibhaft der Mensch war, in dessen vielen, funkelnden Häusern sie aus und ein ging als wie im Eigentum. Vor drei Tagen noch das mädchenhafteste Mädchen – je vollkommener eine Verwandlung, um so geringer für uns ihre Wahrnehmbarkeit –, vermeinte sie nun, ganz und gar verwachsen und eingehärtet zu sein in diese männlichste Form. Ein Dichter –, in früheren Jahren war das für sie eine unglaubhafte, eine wenig irdische Erscheinung von etwas weichem, schwärmerisch aufgebogenem Charakter gewesen. Ludwig, stets ein Begeisterter, war doch jedem Überschwang fern und fremd aller Weichheit: fest, wie er sich selber gebildet hatte an der Form jenes mannhaftesten aller Geister, dessen Jünger er sich nannte, ohne ihn jemals von Angesicht gesehen zu haben, Geist allein von seinem Geist. Von Natur vereinsamt, abgesondert von der gemeinen Art, war er groß genug, um ihre bekannte Ärmlichkeit, ihre Festtaglosigkeit, all ihre Unentschiedenheiten, Schwächlichkeiten, Halbheiten und Leeren an ihrer Stelle sein zu lassen, ohne sich zum Verurteilen, zur Verachtung, überhaupt zu einer Gegenregung reizen zu lassen; doch war es in der Hauptsache wohl angeborene Gütigkeit, die sein Empfinden einer herzlichen und ganz warmen Verwunderung bewirkte. Was ihn im übrigen, sowie es sich um menschlich für ihn einigermaßen Angreifbares handelte, so verständnisvoll machte, was seinen Augen diesen Blick warmer Freundlichkeit, seinen Lippen das herzliche Lächeln verlieh, das hätte Elli rätselhaft scheinen können, wenn nicht der feine Weiser in ihrem Herzen sich ohne ihr Zutun auf die rechte Lösung eingestellt hätte, anfänglich ohne ihr bewußtes Wissen, dessen sie in solchem Fall kaum bedurfte, bis dann die Lektüre von Nietzsche und in ihr das Wort vom schnellsten Tier, das da trägt zur Vollkommenheit, ihr die, an keiner Stelle seiner Züge sichtbar erschienene, doch aber deutliche Spur durchlittenen Leides offenbar machte. Sie war zu zart, etwas zu erfragen; den tatsächlichen Grund erfuhr sie erst viel später.
Ludwig Studassohn stand im Anfang der dreißiger Jahre, war mit einem umfänglichen Studium der Geschichtswissenschaft und Philosophie vor kurzem zu Ende gekommen, und seine Hauptarbeit bestand in einer, auf mehrere Bände berechneten Darstellung der Gestalt Alexanders des Großen, deren Kern nicht die zeitgeschichtliche oder philologische Form Alexanders, sondern die kosmische Erscheinung des Helden, das aus Seele und Schicksal verdichtete und verleiblichte Bild und die Notwendigkeit des Heldenhaften in der Welt war. – Seine Gedichte, deren er nur wenige, und erst in gereiften Jahren damit beginnend, geschrieben hatte, waren zumeist Gebilde von strengster, hymnisch gestalteter Form um den gleichen Kern heroischen Daseins, aufwärts gerichtet, ohne schweben zu wollen, aufgemauert in spärlich scheinenden Worten von gepreßtester Lichtkraft, ohne das Geläut der Reime alle Musik in ihren Rhythmus versammelnd, für Elli schlackenloses Kristall.
Ganz uneingestandenermaßen jedoch blieb für sie vielleicht ein Fehlendes an diesen Gebilden, die tiefer ihre Bewunderung erregten und ihre Ehrfurcht, als sie zu treffen und herzlich zu erschüttern; und freilich ist es keine Frage, daß sie, wie jede Frau, sich niemals um sie gekümmert haben würde, wenn sie nicht eben von Ludwig gewesen wären, und welche Frau wäre wohl imstande, eine Sache zu lieben, es sei denn durch einen Menschen. – Dies Fehlende war das, was einfachen Gemütern an Gebilden Hölderlins, des gealterten Goethe, oder Georges zu fehlen scheint, und was diese bei Mörike, beim jungen Goethe oder bei Eichendorff finden; es war, daß bei jenen Blut, Herz, Seele, Gewissen, Menschlichkeit, Schicksal, alle Verwandlungen, die Glut jeder Augenblicklichkeit – ganz Leib geworden war, ganz Form; ganz Sprache also, ganz Wort, kurz: ganz Kunst. Es war das Höchste, nicht Gebilde des Augenblicks, im Feuer, im süßen Prall und Hall des Augenblicks, nicht Wimpernzucken und geballte Hand und aufwallendes Herz, sondern – zutage gefördert freilich durch all dieses – Denkbilder immer, geplante, errichtete, geprägte Form, deren mächtiges Herz im Innern des Marmors warm und schlagend zu spüren, Ellis ganze Inbrunst für ihren Schöpfer aufgeboten werden mußte. Oh, aber sie würde bestritten haben, daß ihr etwas fehle, sie würde ihn nicht anders gemocht haben, denn nur so stand er erhöht und umfremdet, nur so anbetungswürdig, wie sie ihn brauchte.
Ihn, der seinerseits immer mitten im Bewußtsein stand, daß er das Größte war, wozu ein Mensch geboren werden konnte, Träger des höchsten irdischen Kleinods, der kristallenen Phiole mit dem ewigen Elixir, von dem ein Tropfen genügt, um selig zu machen: des Dichtertumes. Und ganz wie von einem schönen Ding in einem Zimmer, einem Gemälde, einer Vase, einer Blume, einem blauen Schmetterling, immer der Glanz im ganzen Zimmer ist, so gewohnt er Eigentümer und Gästen sein mag: so war auch in ihm und in seiner Umgebung und in seinem Werktag immer jener Glanz offenbar, und es herrschte da Festlichkeit.
Und er war maßvoll. Voll des attischen Maßes. Fern aller Mittelmäßigkeit war sein Maßwille: Erfülltsein mit Blut und Kräften des Blutes bis nahe zur Sprengung der Kräfte, und nicht darüber, Erfülltsein mit Form und Seele der Form bis nahe ans Überströmen der Seele, und nicht darüber, – verbürgend so im irdischen Gebiet die edle Dauerhaftigkeit, die in himmlischen Bezirken als Unvergänglichkeit und Ewigkeit erscheint.
Dann fand sich Elli, in Augenblicken, wo dies ganz erstrahlte, winzig klein im Eingang des Säulenwaldes, der sein Tempel war; aufblickend nach oben, wo um die schweren Häupter der weiß und grauen Riesen das ernste Geheimnis dunkelte und herabzublicken schien mit goldenen Augen dort nistender Vögel oder Genien; hineinblickend durch die Gewaltigkeit der Stämme in die dämmrige Lichtung, wo unirdischer Gesang und verhallende Chöre die Begehung delphischer Mysterien verrieten, oder auch sich wendend und über den Absturz der flimmernden Treppen hinausspähend über Ebenen von atmendem Grün, Hügeln zu und der weißen Stadt und des Birkenhains weißen, grün umflatterten Säulchen, wo Gestalten den Reigen von Linos schlangen und die knossischen Lieder erschollen.
Kehrst du noch einmal, süße Beängstigung,
Der Brust zurück und neigest ans Fenster dein,
Erschreckend, dein verwirrtes Antlitz,
Lächelaug', trunkenes Munds, schwerträumlich?
Oh der Betäubung! Sag, wie geriet dirs denn,
Wie ging das zu, daß Auge getaucht in Aug –
Goldener Lanzen Gitter paarweis
Sanken zusamm, sich vergreifend zärtlich?
Und daß aus scheidend gelöster Hand herein
In meine zuckt ein Schlüpfen, und vogelweich
Durch Arm und Achsel, – bis im Innern
Drossellaut, lieblicher, sacht aufflötet …
Und daß mich nun auf abendlich dunklem Pfad,
Gerichtet aufwärts, es überfällt: Nur jetzt
Nicht hier zu sein! – Wo dann? – Ach – nirgend!
Nur fern sein und nicht hier!
Mit der vorrückenden sommerlichen Zelt hatten Elli und Ludwig begonnen, die abendliche Unterrichtsstunde ins Freie zu verlegen, sich auf Italienisch verständigend so schlecht und recht es bereits anging, Elli ihm die Vokabeln aller Dinge umher beibringend, dann auf einer entlegenen Bank km Tiergarten oder auch auf der Uferböschung eines der Grunewaldseen zusammen den Dichter lesend, Dante, den einzigen italienischen, den es für Ludwig gab; später, nach Eintritt der Dunkelheit in die still gewordene, immer ernste Natur des Landes, und wenn droben die heilige Brust des Abends sich öffnete und das Unermeßliche offen zeigte in farbigen Verwandlungen des Goldes, verstummt oder in immer leiser tropfenden Gesprächen.
Ihre Beziehung war längst schon so innig geworden, daß an ihr für Elli schon nichts mehr fehlte, daß sie nichts vermißt und gern jahrelang so weiter gelebt hätte mit ihm, nur durch die gesteigerte Wärme ihres Verbundenseins mit ihm eins, und ohne Liebkosung, da doch seine Nähe ganz, fein Dasein ganz und allezeit Zärtlichkeit für sie war, Süße, Festlichkeit und unendliche Freude, – Liebe, ihres körperlichen Daseins noch unbewußt. Daß dies lange so blieb, dafür wirkte in Elli auch das Wissen – oder die Einbildung – um die Ohnmacht seiner Augen, da sie es sich unbewußt eingeprägt hatte, daß er von ihr niemals mehr wahrzunehmen vermöge als einen undeutlichen Schein hinter Schleiern, weshalb sie den Blick seiner Augen zu ertragen und zu erwidern vermochte, ohne Beängstigung. Als aber dann eines Tages jenes Gedicht auf ihrem Tische lag (an dem sie über der Freude an der Zartheit dieses Geständnisses, dem Erschrecken und allen persönlichen Erregungen, nichts so glücklich machte wie die Erweichtheit und ganz vom Augenblick durchhauchte Warmheit seiner Form, die es von den ihr bekannten Gebilden seiner Hand so sichtlich unterschied): da war es mit ihrer Sicherheit freilich vorbei, da mußte ihre Meinung von seinem Sehvermögen wohl doch ein Irrtum gewesen sein, da regten sich auch in ihr die zarten Wunder, die seine Verse beschrieben, jene dumpfe Bangigkeit, jene verworrene Süchtigkeit, jenes Hinausverlangen aus Gegenwart und Gebundenheit nach irgendwohin, nur in eine Ferne; kam das Schwanken der Augenlider unterm Einblick der andern Augen, als ob der in selber unbekannte Tiefen eindringen wollte, schon eingedrungen war und Verwirrung stiftete und die Qual eines zärtlichen Krampfes. Kam endlich die Zeit, wo sie sich nicht mehr anblicken konnten, ohne lächeln zu müssen, welches Lächeln dann durch ein Lachen bemäntelt werden mußte, und sie wurden aus dem beständigen Zwang zum Lachen und Lächerlichen stundenweis zu Kindern an Albernheit.
Eines Nachts, als sie im Tiergarten auf die Brücke des Wehrs zwischen den Stadtbahnhöfen geraten waren, zusammen, über das Geländer gebeugt, auf die weiß schimmernde schräge Ebene von Schaum hinunterblickend, fühlte Elli im Tosen der talwärts schießenden Wasser, daß er den Arm um ihre Schulter legte, und dachte: Jetzt! glühend zu allem bereit. Allein sie hörte nach einer Weile nur seine Stimme durch den Lärm, der sie anzuhören glaubte, daß er lächelte.
»Wissen Sie wohl,« fragte er, »was das Köstlichste ist? – Das ist: eine Macht zu haben und – sie nicht auszunützen!« sagte er mit gemachter Prahlerei.
Dies in der Tat schien Elli eine wunderbare Liebeserklärung. Ja, wissen, haben können und doch nicht nehmen, nur zitternd sein im Schauder der Verkündigung, und warten, noch warten …
Zwei Tage vergingen so, die Last war für Elli schwer erträglich bereits, da kam noch etwas. Am Abend beim Gutenachtsagen – nur das Wetter verhinderte, daß sie nicht schon in dieser Nacht wieder auf der Brücke standen – nahm er auf einmal ihr Gesicht in die Hände, küßte es nicht, sondern drehte es nur zu sich empor und fragte, wie sie eigentlich heiße. Darauf sie, erstaunt, leise: »Das wissen Sie nicht? Ich heiße Elli.« – »Elli,« wiederholte er, »nun, das ist aber nicht sehr weltbewegend. Ich denke, wir lassen uns umtaufen.« »Ja, wie denn?« »Ignis,« sagte er mit Dankbarkeit. »Ignis sollen Sie mir heißen, stilles Feuer, warmes, herzliches, kleines Feuer, und vielleicht können wir es zu Inge verdrehen, obgleich das eine fürchterliche Sprachverwirrung ist.«
Und nun standen sie wieder auf der Brücke, sahen die rote und die grüne Signallampe im Nachtdunkel über dem Bahndamm schweben, einen Zug langsam den dunklen Wurmleib mit vielen erleuchteten Fenstern vorüberführen, und als sein Gedonner verstummt, nur das Brausen der Gewässer noch hörbar war, fragte er, ob sie noch wisse, was er vorgestern hier gesagt habe. Sie nickte, plötzlich fühlte sie sich umschlungen und aufgehoben, er hielt sie auf den Armen überm Geländer, sie sah, erschreckt nach oben blickend, in der schwarzen Höhe überm Bahndamm ein Sternbild groß und erstaunlich, den goldenen Wagen, dastehend wie auf einem einsamen Berge, und sie hörte Ludwig sagen: »Und da ich die Macht habe, dich jetzt hier hinunterfallen zu lassen, so würdest du dich nicht wehren?«
»Nein!« sagte sie mit aller Inbrunst und schmolz an seinen Lippen mit Nacht und Wagen und allem.
Wiederum einige Tage nach diesem, als sie in der Nacht, schon ausgekleidet, im langen Nachthemd vor dem Spiegel stand, den Kopf gesenkt, ihr Haar bürstend, hörte sie ein leises Pochen an der Tür, ohne Schritte vernommen zu haben. Sie hielt den Atem an und besann sich fürs erste darauf, daß die Vermieterin und ihr Mann im vorderen Teil der Wohnung hinter dem Laden schliefen, so gut wie in einer andern Straße (was sie übrigens ihrer Meinung nach keineswegs dachte). Eine Weile stand sie so, hörte ihr lautes Herz, warf einmal den Kopf zurück, damit die Haare von vorn nach hinten fielen, trat dann lautlos aus den Pantoffeln, schlich zur Tür und drehte unhörbar den Riegel zurück. Dann, mit dem Rücken gegen die Schranktür gelehnt, wartete sie, die brennenden Augen auf die Klinke geheftet. Es klopfte noch einmal, dann bewegte sich die Klinke gespensterhaft nach unten, die Tür ging auf, sie griff haltlos nach seinem Gesicht, bekam seine Hand und zog ihn gleichsam nach innen.
Vielleicht daß nun erst die Beglücktheit ihre Höhe erreicht hatte, um einen ungeahnten Gipfel ergänzt, so wie die Tage um tiefe Stücke der Nächte. Vielleicht, daß sie hin und wieder einmal sich fragen konnte, ob sie in früheren Jahren jemals solche Möglichkeiten des Rausches in der Zukunft vorausgeahnt habe. Aber in Wahrheit hatte sie auch das Letzte schon in den ersten Anfängen zu sehr voraus empfunden, um Steigerung sehen zu können; auch – was liegt daran? und sicherlich war Elli der übrigen Menschenheit darin gleich, daß sie den jeweiligen Gegenwartszustand, solange er reicher schien als der zuvor, für den gegebenen und naturgemäßen hielt, zumal es uns immer tiefer beglückt, zu steigen, als oben zu stehn, mehr die erreichbare Höhe über uns brennen macht, als die überstiegene Tiefe zu Füßen.
Nur dies merkte sie zuweilen, daß sie ihr eigentliches Dasein verlassen hatte; mußte es wohl merken, da die äußeren Verwandlungen allzu ersichtlich waren. Es kam auch vor, daß, da sie von Alexander dem Großen in einer Gesellschaft gesprochen hatte, an der auch die Freunde teilnahmen, Valerius mit Humor auf sie einstach: »Wenn Sie schon etwas auswendig lernen, liebe Inge, dann lernen Sie es doch wenigstens richtig auswendig!« so sehr sprach sie nun Ludwigs Mundart. Denn es hatte für sie genügt, ihn einmal bei seiner Arbeit zu sehn, dicht am Fenster, das linke Auge nahe über der Seite des emporgehaltenen Buches, um sich ihm zum Vorlesen anzubieten, woran sich alsbald, da sie stenographieren konnte, das Diktieren anschloß, und sie war gefangen in seiner Arbeit, und die ihre schrumpfte auf zwei Kollegstunden am Tag zusammen, an denen sie bewußtlos, und doch als sei der Rest ihres eigenen Lebens in ihnen enthalten, festhielt. Sie hatte es leicht, sich und Ludwig damit zu trösten, daß es ja ihr erstes Semester sei, und daß sie unendliche Zeit vor sich habe, das heute Versäumte nachzuholen. – Ja, schiene das Leben nicht unendlich bei neunzehn Jahren, wer wollte sich sonst anheischig machen, es anzufangen? Es tut wahrhaftig not, sich wenigstens eine Eigenschaft des Göttlichen – die unendliche Dauer – im Anfang vorzuspiegeln, um zu ertragen, daß man ein Mensch ist. –
Eingeteilt hatten sie es nun so, daß am Vormittage er selber schrieb, was nur er allein schreiben konnte, die eigentliche Arbeit; die Nachmittage, auch die Abende nicht selten, schafften sie zusammen. Die Außenwelt bekam Elli wenig zu sehn, außer auf Spaziergängen und Ausflügen. Musik war Ludwig eine Angelegenheit andrer Leute, die er kaum begriff, und Theater – das Theater jedenfalls, das die Zeit bot, Bühne wie dramatische Werke – war ungefähr die einzige Sache, die er mit Haß verfolgte, das heißt mit verächtlichem Sarkasmus in den Gesprächen mit den Freunden, sooft die Rede darauf kam, und Valerius, der eine satirische Neigung für alle Verdrehtheiten, Albernheiten und die prunkhaften Dürftigkeiten der Großstadt hatte, liebte es sehr, den Andern zu reizen, indem er ihm Kritiken und Auszüge aus den Zeitungen vorlas oder sie selber verfertigte. Denn aus purem Behagen am Jammervollen und an der eigenen Wütigkeit und Rachsucht saß er alle paar Abende in einem Theater und schleppte die Freunde in Lichtspiele und literarische Vorträge, wo er durch schallendes Gelächter, Zwischenrufe und falsche Bravos glänzte.
Dies war Ellis Leben, die nun Inge hieß. Inge nannten sie auch die Freunde, als Inge wurde sie Fremden vorgestellt, und mit Inge trug sie sich in ihrem zweiten und dritten Semester in die Listen der Universität und ihr Testierheft ein.
In den zweiten Sommerferien hatte Ludwig sein Alexanderbuch vollendet und eine Niederschrift zum endgültigen Abschreiben für einen Verleger fortgegeben. Danach reisten sie zusammen, zuerst nach Paris und von dort durch alle die Städte Frankreichs, in denen es Kathedralen zu sehen gab – die ›große Kathedralenreise‹, wie sie schon vorher und nachher hieß –, wobei Ludwig sich Ellis Augen zum Sehen, das heißt zum Auffinden des Sehenswürdigen bediente; seine Fähigkeit, trotz der Dreiviertelsblindheit Werke der Kunst zu überschauen und zu gliedern, das unsichtbar Bleibende zu ergänzen, schien Elli erstaunlich.
Damals, bevor sie die Reise antraten, hatte er angefangen, vom Heiraten zu sprechen. Denn nach ihrer Rückkehr gedachte er Berlin bald zu verlassen und irgendwo in Mittel- oder Süddeutschland auf das Land zu ziehn, in der Natur zu wohnen, deren er nach der langen Enthaltsamkeit der Studienjahre heftig bedurfte, – für Elli eine kaum mehr überzeugende Sache als ihre eigene Bedürftigkeit nach Natur. So lag der Gedanke an die Umgebung einer kleinen Universitätsstadt nahe. Nun stimmten sie zwar darin überein, daß sie das Heiraten so gut unternehmen wie unterlassen konnten, daß es für sie nichts bedeute als einen äußerlichen Schritt, daß also kein Grund vorlag, die jetzige Form der Gemeinsamkeit aufzugeben, bevor nicht eine äußere Notwendigkeit es gebot, – aber Ludwig hatte eine Abneigung dagegen, bürgerliches Aufsehn zu erregen, und jedenfalls den Wunsch, ihr Unannehmlichkeiten zu ersparen, daher die gemeinsame Landwohnung die Ehe so gut wie bedingte. Und dann freilich wollte er Kinder haben, einen Knaben, den er nach großen Bildern formen konnte …
Plötzlich war für Elli alles zu Ende, und sie war allein.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr von der Reise geschah es, daß Ludwig ihr Zimmer betrat, so ernst, daß sie erschrak und fast alles schon ahnte. – Ob sie glaube, es ertragen zu können, jemals ohne ihn zu sein, fragte er traurig.
Sie fragte wieder: Was ist? – aber er beharrte auf der seinen, bis sie schließlich, schon in tödlicher Betäubung, sich die Antwort abrang, sie könne ertragen, was er über sie verhängen müsse. Obgleich auch diese Erklärung ihn kaum zufriedenstellte, begann er nun doch, mit der Einleitung: Wir müssen es gemeinsam entscheiden! – zu berichten, was vorlag.
Es hatte vor fünf Jahren eine Leidenschaft bestanden zwischen ihm und einer Frau, die, älter als er, damals bereits verheiratet und Mutter von Kindern war. Sie hatten nach monatelanger Mühsal eines elenden Kampfes um ihre Freiheit jede Möglichkeit einer Vereinigung und jede Beziehung zueinander aufgeben müssen, und er hatte, wie er aufrichtig versichern zu können glaubte, selbst die Erinnerung an sie aus seinem Dasein getilgt, – eine wahrscheinliche Sache bei der Härtung seines Wesens, das nur das Ganze kannte, nur ein Alles oder ein Nichts. Ja, auch jetzt, wo er nun Nachricht vom Tode ihres Mannes durch ihre eigene Hand, wenn auch ohne jeden Zusatz erhalten hatte, war er noch unschlüssig. Er liebte Elli, Inge, sein Geschöpf, das war ernste Wahrheit. Aber –
Im ersten Augenblick atmete Elli auf. Zu sehr in der eigenen Glut mit ihm gemeinsam gefangen, schien diese Andre ihr fern, unbekannt, unfaßlich als Wirklichkeit. Sie kamen – da auch Ludwig seiner nicht sicher war über die jetzigen Gefühle der Andern –, so kamen sie zu dem Entschluß, daß er zu ihr reisen müsse, um zu sehn. Sie machten aus, daß er schreiben werde, im Falle daß er fernbliebe; sonst würde er in zwei Tagen zurück sein.
Noch schien Elli in schwerer, weiter Hoffnung das Opfer dieser zwei Tage leicht. Schon am zweiten kam sein Brief.
Geblendet und taub, gefühllos an Leib und Seele, wahrhaftig gespalten vom Feuerstrahl durch und durch in zwei glühend verkohlende Hälften, schlich Elli durch die ersten Tage. Immer wiederkehrend das einzige Empfinden: Leere, Leere, ein unsäglicher und unermeßlicher Reichtum ganz fort, hin, unwiederbringlich, sie allein, für immer und ewig allein, ohne ihn, ohne ihn, abgeschnitten vom Leben, des Atems beraubt, – es zerschnitt sie mit blendenden Messern körperlich, sie schrie in den Nächten, bei Tage zu Stummheit verurteilt, mit sich allein in diesem Stück der fremden Wohnung, das leer war, das ein Zimmer enthielt, wo nichts mehr war, und das doch da war, entsetzlich immerfort da und sinnlos und leer, – und dann dies: hundert und hundertmal, bei Tage und bei Nacht, das Aufhorchen, das Wissen: es ist nicht möglich! das Zucken: nun geht die Tür! nun ein Schritt! oder die entsetzliche Frau kam in ihren weichen Schuhen unerträglich langsam und brachte keinen Brief, keine Depesche … ah, es ist wohl betrüblich eingerichtet, daß wir Denken, Fühlen, Gebrauchen aller Sinne und vieles sonst eingeboren besitzen von Eltern und Ahnen, daß aber der Schmerz, der von Milliarden der Menschheit milliardenhaft gelittene und gekannte, wenn er uns trifft, unser Schmerz ist, von keinem gekannt, von niemand empfunden, unser einziges Eigentum, wie kein Haus und kein Hund, kein Garten, kein Freund und kein Kind uns Eigentum waren.
Im Dezember erschienen Packer und Träger, die aus Ludwigs Zimmer die Bücher räumten und fortschafften. Irgendwie gab dies Elli einen Stoß, sie fand sich unfähig, das Leben der Verlassenheit in diesem Zimmer, dieser Gegend, dieser Stadt länger zu ertragen, erkannte, daß die Ruine eines Lebens, nicht wie die eines Schlosses, leicht zu befördern ist und so auf irgendeine Weise sich doch aus den Augen zu schaffen, packte ihre Koffer und fuhr nach Paris.
Dorthin fuhr sie, weil aus ihrem früheren Leben der Plan dazu noch vorlag und sich in ihre Hand fügte; denn ihr war es gleich, wohin sie kam.
Auch glaubte sie, in einer Stadt wie Paris am ehesten in Verborgenheit unterkriechen zu können, und schließlich gefiel es ihr, wenigstens eine Kleinigkeit eigenhändig zu zerstören, und so zerstörte sie dies Berliner Semester.
Alles wäre leichter gewesen für Elli, wenn es für sie nur die Trennung von einem Menschen und einer Liebe gewesen wäre. Sie aber war rundum eingekapselt gewesen in ein Dasein und war herausgeschnitten gewaltsam, sie mußte sich zerteilt fühlen an allen Organen, und es war so, daß sie lange Zeit sich körperlich bluten, sich leiblich frieren fühlte in der Entbehrung der lange gewohnten Wärme, in der sie gelegen hatte wie in der natürlichen Glut eines mütterlichen Schoßes. Sie fror entsetzlich in diesem kalten Pariser Winter, an der dürftigen Flamme des winzigen Pariser Öfchens, auf dessen Kuppel sie mit verzerrtem Lachen das einfältige Wort ›Ignis‹ in eisengepreßten Lettern entziffern mußte. Sie hauste im ersten besten Zimmer, das sie in nächster Nähe der Sorbonne gefunden hatte, um ja zu keinem Weg genötigt zu sein als diesem zu und von den Vorlesungen, eingegraben in ihr Studium, ohne Willen dazu, nur mit Zwang, ihren Umgang mit Menschen beschränkend auf ihre Zimmernachbarin, ein gutherziges, blondes, bäurisches Mädchen, Bretonin, deren Zunge nicht einen Augenblick stillstand, – und das – nämlich das Hören der Sprache – war für Elli der Grund der Kameradschaft.
Der Zustand dumpfer Blendung in allen Sinnen dauerte bis in den April folgenden Jahres hinein. Dann, mit dem schmelzenden Eis auf den Flüssen der deutschen Natur, nach der sie sich schmerzhaft sehnte, kam auch für sie die Loslösung. Die natürliche Lebenswärme kehrte zurück, sie empfand sich wieder lebend, empfand sich bedürftig, und die grauenvolle Hoffnungslosigkeit, der sie sich ausgesetzt glaubte, schien ihr nicht mehr so verbürgt.
Übrigens empfing sie in dieser Zeit zwei Briefe von Ludwig, die sie las, ohne sie zu verstehn und zu beantworten, und im März den ersten Band seines Werkes, der als ungeöffnetes Paket einige Zeit in der Fensterbank, dann auf dem Kleiderschrank verstaubte. Doch kam der Tag, wo sie es fand und öffnete. Da aber verstand sie den Inhalt nicht mehr.