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Elli führte von nun an das Leben einer deutschen Studentin vom geistigen Mittelmaß und von bald gehobener, umdrängter und führender Stellung, obschon auf so bescheidenem Gebiet, wie es die weibliche Hörerschaft einer kleinen Universität darstellte, an der das Verbindungswesen blüht, die mit keinen ersten Lichtern der Wissenschaft ausgesteckt ist, die nach allen Seiten in eine schöne Natur hineinreicht; der berittenen Universität, die an allen Tagen von Kavalkaden junger Männer in farbigen Mützen durchzogen ist.
Noch in den Sommerferien suchte sie einen Professor auf, ließ sich ein Thema zur Doktorarbeit geben – über einen französischen Minnesänger – und begann sofort mit den Vorbereitungen dazu in einem jener, von Geschlechtern der Studenten ausgewohnten Zimmer der inneren Stadt, dessen Ausstattung sie ließ, wie sie war, entschlossen, sie nicht mehr anzusehen nach dem für das Mieten entscheidenden Blick. Mit Beginn des Wintersemesters belegte sie Vorlesungen, Übungen und Seminarstunden und fand sich durch die, in jenen inneren Arbeitsbezirken engeren Beziehungen der Teilnehmer untereinander und zum Lehrer bald eingefügt in eine Gemeinschaft.
Elli sah damals nicht eben nach dem aus, was sie war. Auf ihrem Platz in einem öffentlichen Kolleg, das, zumal im Semesteranfang der Testate wegen, auch von den freier gesinnten Adepten des Bieres besucht wurde, fand sie eines Tages die Inschrift:
O – du – exotische.
Narkotische,
O Eva aus Paris!
O bleib nicht die despotische,
Ich bin schon der neurotische.
Der Adam, der böotische.
Der nach dem Apfel fieß!
von welchen Versen ihr nachmals der Name: die narkotische Eva, oder einfach die Eva haften blieb. – Allerdings hatte das an kräftiger Nahrung nicht so wie an täglichen Erregungen reiche Leben mit Benvenuto ihrem leichten Fleisch nichts zugelegt; von der Krankheit abgemagert obendrein, konnte die von der Pariser Atmosphäre nicht unberührte Zierlichkeit ihres Wuchses und ihrer Haltung, in Kleidern nach der damaligen, in Deutschland noch ungebräuchlichen Mode von Paris, schon den Schein des pariserischen für das Tübinger Volk erwecken. Ein Letztes zu diesem Aussehen trug noch ihre Haartracht bei, jene, von Stirn und Schläfen straff zurückgekämmte, die ihre Züge fremdartig erscheinen ließ, die Stirne sehr klar und umrissen, das Ganze schärfer und doch zart mit der betonten Gebogenheit der Nase und der Brauen, brennender die Augen, dunkler sogar das Rot ihrer Lippen. Nicht nur das Haar, das ganze Antlitz schien zurückgestrichen von einem straffen Wind. Schließlich noch hatte der, das Deutsche so wütig hassende Benvenuto, um den Anschein des Französischen zu vollenden, sie mit schöner Beharrlichkeit dazu gebracht, die Weiße ihrer Haut durch Puder zu erhöhen, und zuletzt klebte er ihr eine Mouche unter den linken Mundwinkel. Was ihr damals Vergnügen bereitet hatte, daran hielt sie nun fest, in einer Art müder Eitelkeit für nichts, und wohl auch in dem Verlangen nach äußerlicher Betonung des Abgesondertseins, das ihr Schicksal sie empfinden ließ. Und so, in einer gewissen Unbeweglichkeit der Kopfhaltung, sparsamen, langsamen Blickes teilnahmslos zur Linken und Rechten, ging sie nun unter den schwerer gebauten und sich bewegenden Deutschen umher, anfangs in einer kalten Verdrossenheit, die hinnahm, was sich bot – und was verleitet die Andern mehr zum Geben und Anbieten als Gleichgültigkeit und Kälte? –, später angeregter, aber immer abgewandt von ihrem eigenen Kern, den sie unbeteiligt ließ. All diese Zeit über war in ihr etwas gleich einem verdunkelten Zimmer mit einer verhüllten, unbeweglichen Gestalt – unbekannt, ob Statue oder Mensch –, das nicht betreten werden durfte.
Sie erledigte ihr Tagwerk, tätig aus einem dumpfen Zwange eher denn aus Freiwilligkeit; auch füllte das Studium nicht den größten Teil ihres Daseins aus. Durch die Mitarbeit in der freien Studentenschaft gelangte sie zur Teilnahme an der Begründung eines Vereines gegen den Alkohol, dessen Vorsitz sie übernahm. Fast gleichzeitig, umringt wie von einer über Nacht herbeigeflogenen Schar von Vögeln, fand sie sich im Besitz aller fortschrittlichen und sozialen Ideen der Zeit, ganz als sei ihre Vergangenheit mit nichts anderm gefüllt gewesen als mit dem Aufwerfen und Lösen all jener ›Fragen‹: des Arbeiterschutzes und Mutterschutzes, der Abstinenz, des Achtstundentages, der Anzeigepflicht für Geschlechtskrankheiten, des festern Zusammenschlusses der freien Studentenschaft, des Wanderwesens, des Frauenstimmrechts und der Gesamtzahl der neuen Frauenansprüche, die unter dem Kennwort des Frauenrechtes zusammengefaßt werden. Für all dies war sie tätig, besuchte und hielt selber Vorträge; ihre literarischen Neigungen, nach unten gedrückt im Pariser Jahr, stiegen wieder herauf, sie gab dem Körper sein Recht, tanzte, spielte Tennis, machte Ausflüge, kurzum, sie führte ein bewegliches Leben, das mit dem immer verhaltenen Ernst ihres Ausdrucks, der Seltenheit und Kälte ihres Lächelns einigermaßen in Widerspruch stand. Den Menschen aber genügt der Schein, – so denen um sie her die Maske der Hoffart, die sie zu tragen schien, um den Eindruck tieferer Besonderheit, Selbständigkeit und Durchprüftheit zu erwecken.
Was ihren Körper anbetrifft, so bedurfte es freilich ärztlicher Mahnung zur Aufmerksamkeit und Pflege. Zwar war an ihren, von Natur gesunden und kräftigen Organen die Vergiftung ohne ernste Spur vorübergegangen, aber das ganze Erlebnis zeigte seinen Einfluß im Blut, das verarmte. Neigung zu Ohnmächten, Schwindelanfälle, ein nervöser Magenkrampf, Kopfschmerzen traten nacheinander auf und verschwanden. Der Arzt verordnete seine Stärkungsmittel, freie Luft und Bewegung. Das beste Mittel allerdings, sagte er, könne er nur anzeigen, nicht verordnen – Heiraten.
»Sie meinen Kinder?« fragte sie, entschlossen, wie sie sich damals benahm. Er erwiderte: »Auch.«
Obwohl sie das ›auch‹, eingedenk ihrer Erziehung, unterschlug, ließ sie dem angeschlagenen Gedanken doch einigen Raum zur Entwicklung. Sie fand sich bereit, zu heiraten, sie fühlte die Unzuträglichkeit, die innere Unfähigkeit zum Alleinsein; aber Ludwig und der Knabe hatten beide die goldene Wolke um die Häupter gehabt, und noch hing die Witterung des Unsterblichen in der Luft um sie her, schmeckbar deutlich bei jedem tieferen Atemzug, bei jedem Aufblick zu den alten Bergen, zum Abend, zum Firmament, und nicht umsonst murmelte der ewige Fluß unablässig durch die Jahrhunderte den göttlichen Namen, der seine Wellen geheiligt hatte für seine Zeit.
Nun war sie männlich umdrängt und umworben genug; ihr sehr herbes, gegen Mann und Weib gleichermaßen herablassend kühles, für die Jüngeren freilich allzu ›intellektuelles‹ Wesen – und in der Tat war sie außerstande, an einem Gespräch über andre als geistige Dinge teilzunehmen – ließ es zu zwei Anträgen kommen, deren einen, den ihres Professors, fix ohne Bedenken abwies und einen freundschaftlichen Bund aus ihm ableitete, sie mochte ihn als Menschen wohl leiden, doch war er ihr geistig allzu beschränkt auf sein kleines philologisches Gebiet, das nur ein paar tote und obskure Poeten zweifelhaften Wertes zusammen mit dem, hier gleichfalls lange verstorbenen Goethe bewohnten. Beim zweiten, dem eines jungen Assistenzarztes, der ihr schon sehr gefiel, bat sie um Bedenkzeit. Da gerieten ihr – wie sie meinte, unversehens – jene beiden Briefe Ludwigs in die Hand, die er ihr nach der Trennung geschrieben hatte, und sie las in einem:
»Bleibe mir treu, Mädchen! bleibe es in dem Sinne, wie ich es immer bleiben werde. Frauen sind anders treu als Männer und anders treulos. Ein Mann greift vielleicht nach vielen Gegenständen und bleibt immer treu der einen Form, die sein Wesen zuerst erwählte. Eine Frau, die durch viele Männer ging, bewahrt vielleicht die Herzenstreue zum Ersten, aber sie verrät ihn durch die Formen ihrer Verwandlung. So verstehst Du, was ich meine: vergiß die Dichter nicht! vergiß nicht George, vergiß nicht unser, sein Wort: ›Und sind der Dinge Formen abertausend, Bleibt dir nur eine – meine – sie zu künden‹! Du weißt, daß ich Menschenwert zu erkennen vermag, welche Gestalt ihn auch in sich berge, aber Dich einmal als Frau eines Ingenieurs oder eines Zahnarztes wiederzusehen, das würde mir doch wehtun …«
Beim Lesen nahm eine heilige Empfindung sie plötzlich hin. Im verdunkelten Zimmer bewegte das Verhangene seine Hüllen. Sie glaubte Ludwigs Augen zu sehn, in Wirklichkeit war es wohl ein andres Wesen, das in diesem Augenblick die Gestalt des einst Geliebten annahm und die sie selber bei Namen nannte, unbedacht, indem sie meinte: Ein Wink des Schicksals, daß ich die Briefe fand … Den Antrag lehnte sie ab.
Ein Jahr war in dieser Weise vergangen. Elli unternahm nach Beendigung eines Ferienkurses eine Reise in die Heimat und ins Hochgebirge in Gesellschaft eines guten Kameraden, der soeben gedoktort hatte. Vor dem Scheiden bat er sie, seinen Namen, oder wenigstens, da dieser ausgeschlagen wurde (Elli hatte sich inzwischen eines andern besonnen und entschlossen, ledig zu bleiben), seine Tübinger Wohnung anzunehmen, die Elli kannte und die ihr behagt hatte. Dies nahm die ewig Ahnungslose an.
Die Wohnung bestand aus zwei winzigen Räumen, einander gegenüber an einem kleinen Flur gelegen. Das Haus stand an einer noch spärlich bebauten Straße am oberen Stadtende, hinausblickend auf ansteigend freies Feld, über das ein Heckenpfad rechter Hand emporgewunden in die Wälder führte. Ellis Wohnzimmer enthielt außer einem hübschen alten Sofa unter den Fenstern, einem Tisch davor und einem hochrückigen Sessel eine Sammlung von Silhouetten auf blauer Tapete, einen anmutigen weißen Kachelofen und war im übrigen ausstaffiert mit einem bunten und wertlosen, aber nicht geschmacklosen Putz von japanischen Fächern, einem großen grünen Lampion und dergleichen, genug, um Elli zu bewegen, jetzt wieder ihr Eigentum auszupacken und aufzustellen oder zu legen: ihre Kissen, ihre Tischdecke, Benvenutos Kasten mit seinen und den zwei Briefen Ludwigs, von diesem eine schöne Liebhaberaufnahme, und die nicht wissenschaftlichen unter ihren Büchern, die noch von ihm herstammten, auf ein kleines Gestell, das eine messingne Teemaschine krönte, gleichfalls sein Geschenk.
Ihre Doktorarbeit war damals nahezu fertig, die Hauptfächer verlangten noch eine geringe Vervollkommnung, die Nebenfächer noch die meiste, aber nicht sonderlich viel Arbeit.
Am zehnten Tage nach ihrem Einzug fand Elli auf ihrem Tisch eine Besuchskarte mit dem Namen Adalbert Freiherr von Tautphöus ohne weiteren studentischen Zusatz, aus der sie schloß, daß die beiden Zimmer hinter der Tür am Gangende, die ihr gezeigt waren, einen Mieter bekommen hatten. Ein paar Tage später bekam sie ihn selber zu sehn, indem sie, die Treppe hinabsteigend, ihm begegnete, der von unten heraufkam und auf dem Absatz haltmachte, um sie dort an sich vorüberzulassen: ein großer, hellblonder Mensch, schwer, doch nicht schwerfällig gemacht, in Reitgamaschen und Schoßrock, in der Hand Peitsche, Handschuh und Mütze. Gerade auf ihn zugehend, mußte Elli ihn wohl oder übel ansehen, was sie mit jenem sehr geraden und leeren Augenausdruck tat, den sie an sich hatte. Er dagegen lächelte, als sie vor ihm war, mit recht angenehmer Bewegung des bartlosen Mundes auf sie nieder, und sie sah seine Augen überaus blau, die ganzen Züge licht wie das Haar, gesund rötlich. Er war hübsch, die linke Wange leider entstellt durch eine Art vielarmigen Deltas gewundener roter Narbenlinien, die in den Mundwinkel zusammenliefen. Die damals soziale Elli hatte viel Abneigung gegen Verbindungsstudenten, gleichwohl war der Gesamteindruck von diesem der – was ihr übrigens entging –, daß sie sich auf der Straße wunderte, weil kein Sonnenwetter war, als habe sie das vor dem Weggehen geglaubt.
Wiederum zwei oder drei Tage später, an einem Nachmittag, als Elli ihren Teekessel aus der im Flur befindlichen Wasserleitung füllte, sah sie ihn den Kopf aus seiner Zimmertür stecken, und zehn Minuten darauf wurde an ihre Tür gepocht, worauf sie unwirsch: Herein! sagte, ohne sich umzudrehn. Sie saß mit dem Rücken zur Tür, den Fenstern gegenüber am Tisch, hörte, wie die Tür geöffnet wurde, weiter aber nichts, und erst nach einer Weile die Worte! »Bitte sehr!« – Nun zur Seite blickend, gewahrte sie dicht hinter ihrer Schulter eine aufgebrochene, buntpapierene Schachtel mit Kakes, die eine männliche Hand durch den Türspalt hereinstreckte.
Elli, durchaus der Meinung, dies sei ebenso albern wie langweilig, erhob sich und öffnete die Tür ganz. Da stand er mit einer Knabenmiene. – Ja, sie möchte nur entschuldigen, aber vielleicht fehlte ihr wirklich Kuchen zum Tee.
»Ganz und gar nicht,« sagte sie.
Aber solcher Kuchen dann … Und möglicherweise, setzte er eilfertig hinzu, sei sie nicht ganz überzeugt, daß es vorteilhafter sei, allein Tee zu trinken.
»Kommen Sie herein!« sagte Elli, nicht eben freundlich, immerhin irgendwie entwaffnet.
– – Ja, wenn es wirklich, wie fälschlicherweise allgemein angenommen, einen Inhalt gäbe, der eine Form füllte, so daß also ein und derselbe Inhalt beliebig viele Formen zu füllen vermöchte, so wie man etwa den Inhalt eines Glases Wein in so und so viele andre Gefäße nacheinander schütten kann, – wenn es das gäbe im Bezirk der Handlungen, Werke und der Lebensgeschehnisse, so hätte es Elli vermutlich nicht verborgen bleiben können, daß sie hier einen gewissen alten Inhalt in ein neues Gefäß geschenkt erhalten hatte. Das Wohnen mit ihr auf ein und demselben Flur, das Anpochen, das befremdende oder aufdringliche Erscheinen, die sanfte Entwaffnung – all das war eine Wiederholung des Erlebnisses mit Ludwig – und war es in Wahrheit ganz und gar nicht. Denn es war ein andrer Flur und ein andres Zimmer, ein andres Anklopfen und – vor allem: ein andrer Mensch. Er sowohl wie sie waren andre Menschen, und aus diesem Grunde war da nichts mehr vom alten Inhalt, sondern es war eine neue Lebensform, die ihren eigenen Inhalt hatte; wenn man das Inhalt nennen kann, was aus der Blume aufsteigt als Duft, aus der Frucht fließt als Geschmack und um die Flamme schwebt als Licht und als Wärme.
»Kommen Sie herein«, hatte sie gesagt, und alsbald füllte er das halbe Zimmer – nicht mit seiner Suada, sondern bloß mit seinem Leibe und seiner sehr sachtsamen und sachgemäßen Behandlung des Teekessels und der Tassen und so weiter, da er nämlich darauf bestand, alles selber zu machen. Darauf war er bald über den Brückensteg der Erklärung, er sei die englischen Teesitten gewohnt, in eine muntere Beschreibung dieses Volkes und seiner Lebensart in Städten und auf Landsitzen gelangt, mit kleinen leisen humoristischen Formungen mancher Sätze, die das ernst Scheinende unmerklich ins Komische wandelten, seine Betrachtung der Dinge leicht erhöhend, ohne ihr dabei die Wärme zu nehmen. Er machte sich lustig über das Land, aber er mochte es gern. Der Tonfall seiner Sprache war norddeutsch, ähnlich dem Bogners; daß der Freiherr aus derselben Gegend stammte, erfuhr Elli später.
Obgleich sie im Leben keinen Engländer gesehn und vom ganzen Lande nur durch Hörensagen gewußt hatte, und trotz aller Sachtheit seiner Äußerungen widersprach Elli. Nicht nur, weil sie es sich angewöhnt hatte, sich widerspruchsvoll zu äußern, sondern wohl aus tieferen Ursachen widersprach sie ihm heute, morgen und alle Tage. Sie war derzeit sozialistisch gewissermaßen gar gekocht, war als Neulingin, dazu von Ludwig und Benvenuto her eingestellt auf das Entlegene, nun radikal, und so mußte sich bei jedem seiner Worte Widerstand in ihr regen, denn er – nun, sie lernte sein Wesen späterhin gründlicher kennen und begreifen, aber was er war, zeigte sich bereits in jener ersten Unterhaltung deutlich genug, und es läßt sich mit einem Wort, seinem eigenen Vorzugswort fassen als: der Synthetiker. Seine durchdringende Vorliebe für – wenn nicht Herstellung von Synthese, so doch der wägenden und vergleichenden Vorbereitungen dazu, hat Elli ihn selber zu andrer Zeit folgendermaßen erläutern hören.
Er sei Aristokrat, und das Wesen des Adels bestehe in einer Synthese, oder vielmehr Adels Aufgabe sei Herstellung einer Synthese: er habe zwischen Volk und Fürsten zu stehn und aus beider Neigungen und Aufgaben trennend und verbindend einen synthetischen Zustand zu schaffen, zwischen Neubegier der Massen und der erhaltenden Pflicht des Herrschers die Mitte auszusichten. Das sei vornehm und wahr gehandhabter Konservativismus. Praktische Synthetik, sagte er, sei eine feine Kunst, über die er ein Buch geschrieben hatte, das er Elli gab. (Sein Studium war Nationalökonomie.) Als sie es gelesen hatte, sammelte sie ihren ganzen Widerstand gegen diese, alles wägen wollende, jedes Ding gegen ein andres setzende Art in die Äußerung: das alles sei im Grunde weiter nichts als Ängstlichkeit und Unsicherheit; sei die alte aurea mediocritas, die sich selbst golden genannt habe, ihr aber traurig pflastern vorkomme.
Gewiß! – (Seine Eigenart war, niemals geradezu Widerspruch zu äußern, sondern stets die Richtigkeit des vom Andern Vorgebrachten zu betonen, ja zu erhärten, worauf er dann, wie einen Faden aus unsichtbarem Knäuel durch das Loch im Topfdeckel, den Gegensinn heraushaspelte.) Gewiß; daran sei etwas Wahres. Ängstlichkeit, – nun, das Wort sei wohl etwas übertrieben; er möchte es lieber Umsicht nennen, welche, wofern es sich um menschliche Angelegenheiten handle, sicherlich die höchste Berechtigung habe. Zwar hätte die Masse, sobald sie sich einmal zusammenschlösse, ihre radikalen Wallungen, aber Beginn und Verlauf aller Revolutionen habe bewiesen, daß im Grunde überall das Verlangen nach Mitte wohne, nach Ausgleichung, nach Sicherheit, die nicht auf Gipfeln zu finden sei, sondern innerhalb der Gebirge, – und so auch jeder Einzelne für sich, der das Unwahrscheinliche höchstens anstrebe, um das Mögliche zu erreichen. Zum Beispiel was ihn selber angehe, so fühle er sich, wie gesagt, als Aristokrat, der Geburt nach sowie geistig. Als Aristokrat sei er überzeugter Monarchist. Gleichwohl könne er sich praktisch nicht der Erkenntnis entziehn, daß die Demokratisierung der Völker, nach der sie heut allesamt verlangten, eine Lebensnotwendigkeit für sie sei, weshalb er sich genötigt sehe – praktisch, wie gesagt –, zwischen Absolutismus und Demokratie, oder gar Ochlokratie, die Synthese eines maßvollen Parlamentarismus herzustellen. Ebenso etwa mit den Frauen. Er selber ziehe die Frau vor, die ihm verehrungswürdig schiene als weiblichstes Weib, die keinerlei öffentliche, im weiten wie im engen Sinne politische Tätigkeit ausübe, wogegen er sich doch praktisch nicht den Erfahrungen entziehen könne, welche der Berufszwang der Frau von heute …
So wollte Elli dergleichen höchstens gelten lassen für den Einzelnen im Einschätzen der Andern. Für sich selber verlange sie Entschiedenheit, Freiheit, Hochgespanntheit …
Natürlich! Wie denn nicht? Aber –
Ja, nun komme er wieder mit einem Aber, und es sei doch eben so, daß es kein Aber geben dürfe. Freiheit mit einem Aber, das käme ihr vor wie ein Papagei, der im Zimmer hemmkröche, im Schein der Freiheit ohne Flugschwingen. Und außerdem, sagte sie in der Erinnerung an ein Wort Ludwigs, sei er, der Freiherr, ungerecht. Ja, gerade in seinem vermeintlichen Streben nach Gerechtigkeit, nach Ansehung beider Teile und Abwägung, sei zutiefst Ungerechtigkeit verborgen. Denn das Wesen aller Dinge – Menschen oder Einrichtungen oder Werke – sei nicht gegründet auf ein Gleichgewicht aller Richtungen, auf Gleichwertigkeit derselben, sondern sei ein vielleicht schwankendes, doch aber innerst sicheres Beruhen und Eingestelltsein auf eine dieser Eigenschaften. Die Dinge hätten einen Kern, und den aufzudecken käme es an, nämlich: ihre Zentralität. Ja, schon in seinem Glauben, eines ließe sich gegen ein andres wägen, stecke, wiederholte sie, seine Ungerechtigkeit, denn in seinem ewigen Streben danach habe er jedes Maß verloren, suche, sobald er eine Seite einer Sache sähe, nur eine Gegenseite und sei von vornherein überzeugt, daß sie sich gleich sehen und gleich wiegen ließen, obgleich sie in Wirklichkeit das allerverschiedenste Gewicht hätten. Und da stecke wieder seine Ängstlichkeit, denn unter vielem gleich Scheinenden das Herrschende zu finden, das Zentrale, und sich zu entscheiden, das sei die Aufgabe.
Hier waren sie denn auf dem Punkt, auf den sie immer wieder gelangten, den zu beleuchten und erläutern sie niemals müde wurden, und über den sie nie zu einer Einigung kamen. Denn um soviel nachgiebiger auch – aber warum vorgreifen?
Der Freiherr hatte an jenem Nachmittag das Gespräch von den Engländern abgelenkt auf ihre Pferde und ihre Reitkunst, als welche er zuerst zwar vermaledeit nannte, der er jedoch alsbald so viel persönliche Vorzüge einräumte, daß der Fluch ganz und gar zum Segen gewandelt schien, – worauf er Elli fragte, ob sie keine Lust zum Reiten habe, reiten zu lernen. Er würde ihr freudig Unterricht erteilen. – Von Pferden und Reiten wußte Elli immerhin etwas mehr als von England, das heißt sie hatte Pferde und Reiten oft und nahe genug gesehn, aber ihr Vater hatte gegen Frauen zu Pferd eine Abneigung gehabt. – Warum in aller Welt sie reiten lernen solle? fragte sie.
Ja, warum? das war allerdings die Frage. Und nachdem er ihr alle Gründe aufgezählt hatte, aus denen sie es – an sich! – keineswegs nötig hätte, zu reiten, zählte er alle andern dagegen, weshalb es doch äußerst wünschenswert sei und so weiter, tausend Vorzüge, Gesundheit, Stolz, Freude, Bewegung, das Behagen am Tier, am Beherrschen, am Galopp, kurz, was sich sagen ließ, trug er vor in lückenloser Verknüpfung, um sie zu überreden.
Elli, im Stuhl mit hoher Rückenwand, saß all die Zeit aufrecht angelehnt, den Kopf im Nacken, meist aus dem Fenster, nur selten von oben auf ihn niederblickend, der seinerseits vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, die Tasse oder ein Stück Kuchen bröckelnd in Händen, von unten zu ihr aufblickte, gern lachend, stets heiter, bereitwillig; in seiner lichten Frische und Jugendlichkeit – Ende der Zwanziger alt, war er für Elli gleichaltrig mit ihr – ein Bild der Behaglichkeit, und das einzige, was Elli mißfiel, war jene Bewegung seines Mundes, die sie späterhin oft genug so feindlich reizte: wenn er beim Zuhören, wortlos beipflichtend, den Kopf höflich neigend, doch innerlich schon bereit schien, zu widersprechen, so zogen seine Lippen sich zusammen, die obere verlängerte sich, und es entstand der immer gleich bleibende, die gereizte Elli, je langmütiger sie sich zeigen mußte, um so heftiger verdrießende Ausdruck von Besserwissen, Geduld und Überlegenheit. Immer sah sie darin das kommende »Gewiß!« sich bilden, aus dem danach das Gegenteil sich entfaserte.
Zwischen Tür und Angel beim Scheiden gab es noch einen letzten, minutenlangen Kampf zwischen ihnen, da er die Hoffnung äußerte, sie würden gute Teekameraden werden.
»Ich trinke nicht jeden Tag Tee,« sagte Elli.
Gewiß nicht! – – Aber nun – warum eigentlich nicht? Auch er habe den ganzen Tag zu arbeiten, aber Pausen von der rechten Art seien fast ebenso wichtig wie die Arbeit selbst, – und so fort, hin und her und wieder zurück und von vorn in der Wechselrede, bis Elli auf das höchste entrüstet ihren ganzen angewohnten Hochmut und die studentische Freiheitlichkeit dazu in den Ausruf zusammenfaßte, mit dem sie aus der Defensive vorbrach: »Was wollen Sie eigentlich von mir? Wollen Sie mich heiraten?«
Nun stutzte er doch, und Elli hatte den mächtigen Triumph, ihn für einen Augenblick nicht bei Fassung zu sehn, währenddessen es unterirdisch in seinen Zügen zuckte, überrascht, worauf ein kaum merkliches Blinzeln des Prüfens folgte. Dann lachte er herzlich und meinte: Gewiß! Warum nicht? Er müsse zwar gestehn, daß gerade dies das letzte gewesen sei, woran er zu denken sich erlaubt haben würde, – a–ber – – Elli schlug die Tür zu.
Im Zimmer sah sie plötzlich Benvenutos Kasten dastehn, auf dessen Deckel sie etwas Weißes beim genaueren Hinsehn als die Besuchskarte erkannte: Adalbert Freiherr von Tautphöus. Als sie das Blatt in die Hand nahm, tauchte hinter ihr das Gesicht des Knaben schattenhaft auf wie eines beschworenen Geistes, mit einem gutmütigen Lächeln des Spottes, und im Schwinden glaubte sie ihn sagen zu hören: Der ist aber nicht sehr dämonisch, was? –
Möglich ist es, daß Elli sich in diesem Augenblick aus einer untern, verschütteten Sphäre wieder in eine höhere versetzt fühlte; allein im Äußern dieses neuen Menschen war zuviel Licht gewesen und zuviel des Neuen, das sie auch unter dem studentischen Volk nicht in diesem Maß kennen gelernt hatte: Vornehmheit, Ritterlichkeit, Ehrerbietung –, Dinge, die Benvenuto verachtet und Ludwig ersetzt hatte durch tiefer innerliche Eigenschaften …
Über Ritterlichkeit sprachen sie einmal.
Denn Ritterlichkeit von einer so naturgewachsenen, viel weniger erzogenen als ererbten Art hatte Elli auch als Mädchen im bürgerlichen Offizierskreise des väterlichen Regiments nicht erfahren. Jetzt hielt sie natürlich nichts davon, aber der Wirkung konnte sie sich immerhin so wenig entziehen, daß sie sich eines Tages gegen Adalbert über die abnehmende Höflichkeit des männlichen Geschlechts beklagte. Nun stellte sich zuerst allerdings heraus, daß sie von Höflichkeit eine ganz falsche Auffassung hatte, da sie ihr – im Gemüt, im Herzen, oder wie sie das nennen wolle, zu wurzeln schien. Oh, gewiß, natürlich, er sei von Herzen bereit, einer schwerbeladenen Marktfrau, einer Krankenschwester, einem alten Mütterchen, einem erschöpften Dienstmädchen oder einem Krüppel in der Trambahn seinen Platz anzubieten, aber das habe doch nichts zu tun mit dem ritterlichen Aufschnellen vor dem bloßen Erscheinen einer Dame, wobei überhaupt der Wunsch, ihr zum Sitzen zu verhelfen, weniger in Betracht komme als das angeborene Gefühl, in der Gegenwart einer stehenden Dame nicht sitzen zu können; und was andrerseits reine Höflichkeit anlange, so sei es doch widersinnig, sich dienstbereit gegen eine Person zu verhalten, die – wie etwa das Dienstmädchen – zu andern Zelten für seine Bedienung da sei, obgleich wiederum er persönlich eine Abneigung gegen weibliche Bedienung habe, als welche zum Beispiel in seinen Münchener Semestern ihm immer unangenehm gewesen sei, nämlich die Kellnerinnen. Trotzdem aber – so faßte er sein Urteil zusammen –: gegen die englische Art, die in jeder Frauensperson, gleichviel welchen Standes, der Lady huldige, die aber bei Schiffsuntergängen zum Beispiel, wie er häufig gelesen habe, spurlos verschwunden sei, in Augenblicken nämlich, wo das Anerzogene, das Äußerliche, die Ritterlichkeit keinen Raum habe vor dem einfach Menschlichen, der Todesnot –, verdiene die unhöfliche deutsche Art vielleicht doch den Vorzug, die, im deutschen Nationallaster, der Trägheit und Schwerfälligkeit wurzelnd, unter gewöhnlichen Umständen vielleicht zu lange überlege und sich zu spät entschließe, die aber – siehe Schiffsuntergang – mit augenblicklicher Schnelle sich zu entscheiden wisse, nicht zugunsten der Dame, sondern des hülfloseren Geschlechts. Was also wisse wahre Ritterlichkeit in jedem Augenblick herzustellen? Aus Menschlichkeit und Höflichkeit die Synthese.
Bei der Heimkunft am nächsten, auf den Teenachmittag folgenden Abend fand Elli unter ihre Karte an der Tür einen kleinen Zettel geschoben, auf dem in winzigen Lettern nur das Wort ›Schade!‹ stand, das sie durch den Rest des Abends verfolgte als kleiner, verzichtend abschließender Laut, wie sie es ihn hatte sagen hören. Aber am folgenden Nachmittag saßen sie wieder und von diesem an fünfmal in der Woche zusammen.
Dieser zweite Nachmittag begann mit einem halbstündigen Wortstreit über die alkoholische Enthaltsamkeit, als zu welcher er sich zunächst persönlich bekannte, da ihn Ausschweifungen und Blutverluste im Korpsleben – dem er übrigens jetzt völlig fern stand – verdorben hatten. Während aber sie mit Leidenschaft den Grundsatz vollständiger Enthaltsamkeit verfocht, dieweil ein jeder Mensch unter Menschen, der etwas durchsetzen wolle, auch ein Mindestmaß an Forderungen nur durch Stellung der höchsten erreichen könne, wollte er den ästhetischen Gehalt, zumal des Weines, neben dem giftigen nicht entbehren und verteidigte den maßvollen Genuß, in der Theorie und für Andre, denn er selber war praktisch gänzlich enthaltsam. Nun gab es gleich zwei Angriffe auf einmal. Erstens: wie man theoretisch das eine gutheißen könne und selber das andre tun, – worauf er nachsichtig bemerkte, er hätte eine Menge Meinungen, doch sei bekanntlich das Schönste an ihnen, sie so oft zu wechseln wie – den Anzug etwa; nein, das Hemd ginge zu weit! – Und zweitens sei er unsozial! Denn es sei die Pflicht eines jeden, der eine Erkenntnis erfaßt habe, sie persönlich zu vertreten, und dies besonders an solcher Stelle, wo Beispiel fast alles bedeute. – »Aber,« sagte er, »ich gebe ja das Beispiel und trinke nichts!« – Übrigens zugegeben, er sei nicht unsozial, aber er sei es aus Neigung nicht und weniger aus Pflichtgefühl …
Diese Stelle benutzte er als Brückensteg zu einer, Elli bald genug absichtsvoll scheinenden Darlegung seiner Verhältnisse und seines Lebensganges.
Das Geschlecht der Tautphöus stammte ursprünglich aus Südbayern, war aber schon seit langem im Trassenbergischen, in der Nachbarschaft Holsteins angesessen, schon sein, Adalberts, Vater war von der Mutter her ein halber Friese, und er selber, der wieder eine friesische Mutter gehabt, hielt sich für einen ganzen. Durch diese Mutter würde er im Besitz eines hübschen kleinen Gutes mit ein paar tausend Morgen Wiesenland, Bruch und Wald sein, das größere Familiengut war Majorat und würde erst nach dem Tode seines Vaters in seine Hände kommen, der zurzeit ein kräftiger Fünfziger war. Er hatte zwei Schwestern, eine jünger und verheiratet, eine älter als er. Jetzt war er nach sechs, fast zum Drittel leider vergeudeten Studienjahren der Nationalökonomie und Landwirtschaft dabei, seinen Doktor zu machen, wie er hoffte zu Ostern des kommenden Jahres. Schließlich, nach einigen beiläufigen Andeutungen bei Gelegenheit seiner Zukunft als Majoratsherr, sprach er unumwunden, ernst, aber mit Wärme gegen Elli gewandt, von den Pflichten und gewissen Rücksichten, die ihm dieser Stand auferlege, kurz von der Synthese, die zu schaffen sei zwischen vererbten Gewohnheiten und Aufgaben des Geschlechts und der Pflicht gegen sich selber …
Elli sagte, was sie anginge, so danke sie Gott, daß sie ihre Freiheit hätte, nicht an stumpfe Gesetze gebunden sei oder keine stumpfen Verwandten habe, die ihre individuellen Rechte beeinträchtigen könnten, und übrigens sei ihr Vater als Regimentskommandeur gestorben, wenn das reiche … Er lachte, unterbrach sich dann in einem angefangenen Satz mit der Frage, ob sie eigentlich Eva heiße.
Elli erwiderte ablehnend, ob er meine, daß sie so heißen könne …
Oh gewiß! An sich sei es ein herrlicher Name, an sich könne jede Frau Eva heißen, die nicht – er lachte – »mordshäßlich ist, daß keiner in ihren Apfel beißt«. Was aber sie angehe, sagte er friedlich, so habe er sie anders getauft.
»Ich heiße Elli,« erklärte sie herablassend, obwohl innerlich unsicher, nachdem es ihr ums Haar entfahren war: Schon? –
»Nämlich Madeleine,« sagte er ernsthaft und fast bescheiden und erläuterte den Namen – oder sein Gefühl von ihm – als eine – Synthese gewissermaßen von Pariser Erscheinung und Frömmigkeit, von Leichtheit und Seele, die Kirche La Madeleine spiele da hinein für ihn …
Eines Nachmittags gegen Ende Oktober kam er mit einem Paar Reitstiefel, einem schwarzen Dreispitz in der Hand und einem schwarzen Damenrock über dem Arm, der ein Reitrock war, Besitztümer seiner einen Schwester, die ihn dann und wann zu besuchen pflege. Elli probte einen Stiefel, er paßte leidlich, leidlich genug immerhin für die eine Versuchsstunde, die sie ihm mit einem Seufzer zuwilligte für den nächsten Morgen.
Das Reiten aber – oder besser noch das Pferd – bildete eine Überraschung und ein unverhofftes Erlebnis für Elli. Schon als sie am Vorabend den Kleidrock überstreifte, um seinen Sitz zu versuchen, und dabei die Entdeckung machte, daß es ein geteilter war für Herrensitz, überkam sie unverständlich das Gefühl, irgendetwas vor einer langen Zeit vergessen zu haben, an das sie sich auch jetzt nicht erinnern konnte. Und dies Gefühl kehrte wieder am andern Morgen mit dem Lustempfinden beim Aufsitzen in der Reitbahn, da sie mit Erschrecken und rieselndem Schauder plötzlich den mächtigen, runden Tierkörper von seltsamer, innerer Lebendigkeit umschloß; dazu der ungeahnt hohe Blick von oben in die Umgebung.
Und nun auf einmal die herbstlichen Wälder, Dampf aus modrig duftenden Tälern und farbige Feuer der Höhen, wo am blauen Emailschild des Himmels silberne Arabesken von Wolken übergehaucht waren, und enge Pfade sehr stillen Pflanzenlebens, deren blätterfeuchte, bunte Zweige sich ihnen in den Weg streckten, recht wie Arme, ohne sich zu senken, wie menschliche Arme es getan hätten, und das Schweigen auf solchen Wegen, von nichts unterbrochen als dem dumpfen Schlag der Hufe im weichen Erdboden oder dem Rauschen der schrittweis aufgeworfenen Blätter. – Adalbert hatte ihr das Anfängerpferd des Tattersalls gegeben, ein armes, namenloses Geschöpf mit der Bezeichnung ›braune Stute‹, steif, langhalsig, schwanzlos, hartmäulig und hartleibig, wie es nötig war, um den Anfänger zum deutlichen Ausführen der Hülfen zu zwingen. Im Freien tat sie allein keinen Schritt mehr, ging aber folgsam neben jedem andern Pferd, so heute neben dem Adalberts. Er war so listig, sie am ersten Tage mit keinem Unterricht zu plagen und ihr nur die notdürftigsten Anweisungen zur Zügelhaltung zu geben, so daß alles von selber zu gehn schien, und sie sich ganz dem Genuß der Landschaft und dieser neuen Form des Genießens überlassen konnte, – mit dem Erfolg, daß sie bereit war, Unterricht zu nehmen; hierfür wurde die tägliche Frühmorgenstunde, die er selber zu verreiten pflegte, festgesetzt.
Acht bitter harte Tage für Elli. Denn nun machte er die Sache gründlich, gestattete keine Synthese, setzte sie am ersten Morgen in der Reitbahn nicht auf einen Sattel, sondern auf eine Decke, nahm ihr Sporen und Peitsche, und so vier Tage hintereinander, bis Elli vor Schenkelschmerzen und Kreuzweh zu sterben meinte und in Tränen aufgelöst halbe Tage auf dem Sofa verliegen mußte. Am fünften Morgen war sie entschlossen, daheim zu bleiben und alles aufzugeben, aber als sie dann doch gegangen war, zeigte sich Linderung, sie bekam Sattel und Bügel wieder, die Schmerzen verschwanden, sie lernte den Genuß des ersten Galopps kennen, merkte, daß ihr in jenen vier Tagen des Harttrabens, auf das sie nun verzichten durfte, die Kunst des englischen Trabens angeflogen sein mußte, und die Bekanntschaft mit einem andern ›wirklichen‹ Pferd, den weicheren Gängen, dem lebendigen Willen, der aus dem Tier innen heraushorchte auf jeden Wink von ihr, stets erbötig, ihn zu verstehen und auszuführen, der immer größern Leichtigkeit und Lenksamkeit bis zum allmählichen Verschmelzen des eigenen Leibes mit dem des Tieres, dem Wirken des eigenen Willens im andern ohne bewußte Übertragung, – das alles enthielt Überraschung und Freude genug, um diese Elli mit der vorangegangenen Prüfung zu versöhnen und sie das Ganze für ein Geschenk gewissermaßen ansehn zu lassen.
Gewissermaßen; denn es bewußt für sein, Adalberts Geschenk zu halten, so weit war sie freilich noch nicht. Sie, die auch nicht wußte, daß jene vier Martertage mehr und andres geschmeidig gemacht hatten als ihre Gliedmaßen; daß nämlich in ihnen ihre Kraft, das heißt ihre Widerspruchs- oder Widerstandskraft gebrochen, daß sie im Innersten schon unterlegen war dem Willen, gegen den sich zu wehren sie zwar niemals ganz aufgab, dem sie sich aber später bewußt und mit Entzücken unterwarf. Ebensowenig sagte sie sich, daß alles bisher, seit dem Verlassen von Paris, ein Zwang gewesen war, eine seelische Atemnot, innere Steifheit, Lustlosigkeit und Mangel an Offenheit. Schon begann die neue, die Zurückverwandlung in ihr, obwohl sie zu bleiben meinte, was sie war, erleichtert nur, erhoben nur und frisch durchgeblutet. Wenn er aber ein Geschenk war, dieser neue Zustand, und wenn sie es dem nicht dankte – damals noch nicht –, von dem es kam, so traf sie allerdings das Rechte. Denn jener war ein Mann, als welcher an keine Frau zu verschenken pflegt, was er nicht in andrer Form mit beiden Händen zurückzunehmen trachtet.
Der Zweikampf ging weiter und dauerte den Winter über an. Elli widersprach, widersprach längst nicht mehr aus Meinung, sondern allein aus anhaltender Getriebenheit, nach deren Ursachen sie nicht fragte. Sie widersprach auf die Länge nicht mehr mit dem ersten Feuer, denn zu gleichmäßig blieb, ob er recht behielt oder nicht, das Gefühl seiner Überlegenheit in ihr, deren Gelassenheit unwandelbar schien. Dann reizte das Empfinden Elli um so heftiger, schon bevor er den Mund zur Erwiderung öffnete, den Ton des Besserwissens erwarten zu müssen, und da es in der Tat so war, daß sie Kenntnisse wie Meinungen und Urteile nur aus zweiter Hand empfangen und mit ihrer ganzen weiblichen Hurtigkeit meist aufgenommen hatte, ohne sie umzuwirken in ihren eigenen Stoff, – da alles doch irgendwie ungefähr geblieben war und eine Liebhabersache, so mußte sie wohl seine Gründlichkeit und Ausgeprägtheit als überlegen empfinden, die trotz aller Wägemütigkeit nichts angenommen hatte, was nicht übereinstimmte mit alt angeborenen Neigungen und Grundsätzen. Aber dennoch mußte auch an diesem so ärgerlichen Reiz etwas ihr lieb sein, dennoch war vielleicht er es, der sie geheimnisvoller anzog als seine Erscheinung – was sie seinen Geist nannte –, nämlich der mit Wissenschaft und Klugheit so angenehm gesättigte Glanz seines Auftretens, seiner Haltung, seines Lächelns, seiner Züge. Was übrigens seinen Geist betrifft, so war er im großen ganzen viel mehr in die Breite gerichtet als in Höhe oder Tiefe, doch hinderte die Neuigkeit Elli, im Licht den Schatten, mitten im Reichtum die vielen Mängel zu sehn, denn, wenn er Hintergrund hatte, so nur den seines alten Geschlechts und der Feudalität, und jenseits von Natur und Vernunft war ihm alles unbekannt, selber der Himmel reichte kaum hinein in sein Bild der Natur.
Nun, aber dies war kein Mangel an sich, er war in seiner Art vollendet. Aber wenn er auch für Elli das Gute zuwege brachte, sie von dem öden Zwang frei zu machen und zu ihrer alten Form, der willigen Unterwerfung zurückzuführen, so hat er sie doch recht mit Methode verdorben. Er brach einen Widerstand in ihr, der sie quälte, aber – gebrochen ist gebrochen, man kann auch lösen, und jene beiden Andern, denen sie zuvor glücklich unterlegen gewesen war, hatten wohl die Demut gewollt – demütig waren sie selber einem Größern –, aber nicht die Willenlosigkeit, und die wollte er.
Er wollte auch den Widerspruch, er züchtete ihn ein wenig, denn er bedurfte seiner, der ihm erst Stimme gab und ihn beredt machte. Insofern waren sie einander fast ein wenig gleich: Elli oder Madeleine, die nur denken konnte, wenn sie mit jemand redete, und er, der nur reden konnte, wenn ihm jemand widersprach. Und immer wollte er reden, erklärend ausführen, lehren. In den sehr geordneten Gang seines Tages und seiner Arbeit – täglich fünf Stunden und keine mehr, diese aber gründlich –, der Erholung und des Schlafes gehörten ein bis zwei Stunden leichter geistiger Bewegung im Gespräch.
Ihr Widerspruch nun – sie war im übrigen gar nicht mehr herbe, gar nicht hochmütig, war weich, sehr weich, fast hülflos, schmelzend, ja beinahe schmachtend geworden – ihr Widerspruch hatte nun zwei Formen angenommen. Die eine trat bei den Gesprächen geistiger Art in Erscheinung, wo sie nun ihre Einwände mit einer gewissen Unsicherheit, gewissermaßen versuchsweise, und mit einem Hauch von ›ich sage doch nicht was Dummes?‹ vorbrachte, und stets mit der unterirdischen Bereitwilligkeit, eines Bessern belehrt werden, was ihr dann freundlich und mit einer Ausführlichkeit zuteil wurde, die der Belehrung den Anschein des Herablassenden so gut wie völlig benahm. Dabei hatte er eine wahrhaftige Anmut, auch das Ungeschickteste, was sie hätte vorbringen können, so zu drehen, daß es einen besonders tiefen Sinn gehabt zu haben schien, oder aber ihr zu beweisen, daß sie nicht das, was sie gesagt, sondern etwas ganz andres gemeint hatte, – und merkwürdigerweise vermehrten sich die Fälle, wo sie Torheiten sagte, ungemein. Dies nicht eigentlich aus ihrer Bereitwilligkeit, Dinge vorzubringen, die er wie eine Ente abwürgen, rupfen und allgemach in einen glänzenden und duftenden Braten verwandeln konnte, sondern die Methode war es, die überall und immerwährend umherlastende Schwere seiner geistigen Überlegenheit, die ganz langsam eine sachte Verdummung eintreten ließ, die im Grunde eben nichts weiter war als lahmgelegter Wille. Nun hätte sie Schwäne denken können, und es wäre doch nur Federvieh zum Vorschein gekommen.
Bei allen sonstigen Anlässen zum Widerspruch dagegen, deren es wie in jedem Alltag zweier Menschen Hunderte gab – spazieren gehn oder nicht, den Regenmantel anziehn oder nicht, Schleier vorbinden oder nicht, diesen Menschen zum Abend einladen oder nicht, zu jenem hingehn oder nicht, das Fenster öffnen oder nicht, schließen oder nicht, das verlegte Buch zuletzt in der Hand gehabt haben oder nicht – Anlässen, deren keinen, so gering er auch sein mochte, Adalbert vorüberließ, ohne ihn bis ans Ende durchzufechten: bei ihnen hatte ihre Stimme bald etwas leise Klagendes, um nicht zu sagen Klägliches bekommen unter der steten Bemühung, die Sache ins Scherzhafte zu ziehn, hinter der sie die innerliche Gereiztheit verbergen mußte. Eine andre Möglichkeit, seiner Fechtart zu begegnen, hatte sie nicht ausfindig gemacht, – der seinen, welche die Angelegenheit im Gegenteil immer sachlich zu halten strebte und so, als handle es sich keineswegs darum, daß er recht habe oder bekomme, sondern daß das Rechte zutage gefördert werde oder geschehe, indem er, wie überall, keineswegs nur seine eigene Meinung mit Gründen belegte, sondern auch die ihre, und es kam vor, daß er bewies und bereitwillig einsah: sie hatte recht. Dann strahlte sie und hatte durchaus mehr Erleichterung und Behagen davon, als wenn sie selber bewiesen haben würde, sie hatte – oder vielmehr, die Sache, wie sie ihr erschien, war richtig geschehn. – All das erledigte er dabei mit unwandelbarer Liebenswürdigkeit und dieser innerlich verhärteten, von Satz zu Satz, von Entgegnung zu Entgegnung nur hartnäckiger verknoteten scheinbaren Nachgiebigkeit, die Engel zum Rasen bringen kann.
»Du solltest umsatteln,« sagte er eines Tages zu Elli, nicht lange nach jener Morgenstunde im März, wo sie sich vom Sattel herunter in seine Arme geworfen hatte (»Ah mais quelle belle scène de cinéma!« würde der Knabe Benvenuto gesagt haben), endlich strahlend unterlegen für ewig, gedächtnislos, übermannt im eigentlichen Sinne des Wortes. –
»Jetzt? vor dem Doktor?« fragte sie. »Und was dann?«
»Nationalökonomie studieren.« – –
Allein in der Tat, er konnte diesmal ihren Einwänden nur matt begegnen und kam später niemals auf die Anregung zurück, so daß Elli im unklaren blieb, ob er es ernst gemeint hatte, ob es ein Versuch sein sollte, sie geistig ganz auf seine Seite zu ziehn. Nun hätte sie sich ja liebend gern ziehen lassen, und der Gedanke ging ihr oft und oft wieder durch den Kopf und das Herz. Immer klarer auch im Laufe der Zeit hatte sie die Lückenhaftigkeit ihres gesamten politischen und sozialen Wissens empfunden, deren er um so deutlicher inne sein mußte. Er plante weitere wissenschaftliche Arbeiten. Sollte sie nicht lernen, die ganz zu verstehn, ihm zu helfen vielleicht? Doch war ihr philosophischer Doktor bereits zu weit gediehn; umsatteln ließ sich noch später, arbeitsfroh war sie, sie hatte Lust …
Sie hatte Lust und ahnte nicht, daß er die eigene Anregung vielmehr deshalb aufgegeben hatte, weil ihm eingefallen war, daß er ganz zufrieden war mit der jetzigen Lückenhaftigkeit ihres Wissens. Er hätte ja nichts mehr zum Ausfüllen gehabt. Die geistige Achtung vor ihr, deren er bedurfte, war ihm durch ihr Wissen auf dem eigenen philologischen Gebiete genügend gewährleistet.
In einer Liebesabendstunde fragte er sie zärtlich:
»Und nun – – wann wird geheiratet?« hinzusetzend nach einer Pause, innerhalb derer ein unsichtbarer Pfeil die Richtung wies: »Morgen oder erst übermorgen?« – –
Daß gefragt, daß vorher darüber gesprochen wurde, daß es nicht von selber kam, – das war Elli so ungewohnt, daß sie vielleicht nur dadurch den Antrieb erhielt – an dem sie später festhielt, kaum wissend warum –, zu widerstreben, indem sie gedehnt und ungewiß erwiderte: »Ich weiß nicht …«
»Oder willst du dich erst besinnen?« fragte er sanft. »Ich weiß nicht …«
»Deine Leidenschaft,« äußerte er gewissermaßen neckisch, »scheint doch nicht so groß zu sein, wie ich annahm – Madeleine …«
»Muß Leidenschaft immer gleich Besinnungslosigkeit sein?«
»Oh behüte! Natürlich nicht! Ich bildete mir nur ein, ich sei nicht der erste, den du …«
»Du meinst das Bild auf meinem Tisch?«
Er hatte, was sie seiner Ritterlichkeit stets hoch angerechnet, bisher nie eine Frage nach Ludwigs Konterfei getan. In diesem Augenblick fühlte sie sich von einer heftigen Begierde ergriffen, zu bekennen, ihm alles zu zeigen, was in ihr war, sehnsuchtsvoll, sich einmal zu erleichtern, nicht ohne Stolz, da jene Last doch Reichtum gewesen war und Hoheit, und mit Demut, da sie, wie ihr nun schien, auf all dies hatte verzichten müssen und gern verzichtet hatte, um zu ihm zu gelangen.
Allein er tat weiter keine Frage, und sie fand, in Bilder der Erinnerung verloren, so lange keinen Anfang, bis es zu spät war, seine Küsse sie betäubten, sie sich ganz so blindlings, wie es ihr not war, in der Gegenwart wiederfand und auf die ganz andern Dinge hörte und erwiderte, zu denen er inzwischen gelangt war.
Im übrigen begann in jener Stunde ein sehr reizvoller Zweikampf von einiger Wochen Dauer, während dessen sie glaubte, es sei ihr Verlangen, auch in diesem erst nach äußerster Gegenwehr sich besiegt zu geben. Als sie es tat, war es wirklich eine Erlösung für sie.
Adalbert bestand im April sein Examen. Zu jener Zeit hatten sie ihren letzten, kurzen aber fast erbitterten Streit. Er hatte die Absicht, das kommende Sommersemester sowie die Ferien vorher in dem, von seiner väterlichen Besitzung nur um anderthalbe Bahnstunden entfernten Altenrepen – Bogners Heimatstadt – zu verbringen, um dort noch gewisse Vorlesungen zu hören, gewisse Studien in der besonders vorzüglichen Bibliothek zu machen und gleichzeitig seinen Gütern nahe zu sein. Nun verlangte er, daß sie mit ihm komme, verwundert über ihren außerordentlich heftigen Widerstand, den sie letzten Endes freilich kaum selber begriff. Denn Schwierigkeiten, die es gab, mußten leicht zu überwinden sein. Mit ihrem Professor war sie befreundet; er wieder war es mit einem Amtsbruder in Altenrepen, der Elli auf seine Empfehlung hin mit ihrer, für den einen wie den andern belanglosen kleinen Arbeit sicherlich annehmen würde. Persönliche Vorteile kamen hinzu. Ihre Zusammengehörigkeit in der Kleinstadt war längst festgestellt und eingeordnet worden, das war ihm seit langem peinlich, – wie Elli vermutete – denn er sagte es nicht – im Gedanken an eine Heirat. In der Großstadt würden sie mehr Freiheit haben. So blieb der einzige Nachteil für Elli der, daß sie ihr Examen hinausschieben mußte, wobei sie übrigens nicht auf den Gedanken kam, daß ihm eben daran gelegen sein könnte.
Aber nun, auch dieser Kampf ging zu seinen Gunsten aus. Sie reisten zusammen ab, er über Altenrepen hinaus weiter, um seine Heimat zu erreichen, während sie dort verblieb, und zwar fürs erste im Hause eines Mannes, den sie Onkel nannte: er war der Bruder des verstorbenen ersten Mannes ihrer Mutter, mit dem diese sowohl wie Ellis Vater freundschaftliche Beziehungen beibehalten hatten. Professor Doktor Carl Pasada, einer spanischen Gelehrtenfamilie entstammend, war Lehrer an einem Gymnasium und lebte seit dem frühen Tode seiner Frau zusammen mit seiner Tochter, die fünf oder sechs Jahre älter war als Elli: ein kleiner, feiner Mann, mächtigen Hauptes, der eine lahme Hüfte hatte und den Verlust eines Auges mit einem schwarzen Brillenglase verdeckte, das gesunde andre war von leuchtender Bläue. Die Tochter, eine sanfte Rothaarige von schönen, großen und zarten Zügen, aber ungeschickten Körpers und kindlichen Geistes, studierte Musik, war bedürfnislos, gutherzig und ewig heiter.
Bereits am zweiten Tage nach seiner Abreise erhielt Elli einen Brief von Adalbert, in dem folgendes stand:
Die Frage: heiraten oder nicht heiraten sei nunmehr reif in ihm geworden. Er habe es vorgezogen, alles jetzt noch zu Sagende schriftlich zu sagen, damit sie es geordnet beisammen habe, und weil auch manches mündlich ungut Erklärbare darunter sei. Er habe, wie ihr nicht unbemerkt geblieben sein könne, in der letzten Zeit keinerlei Beeinflussung mehr versucht. Sie selber wisse, was sie aufgebe (was ich aufgebe? dachte Elli) im Heiratsfall, was sie dagegen gewinne: ihre Freiheit des Lebens in den Wissenschaften, alle sonstigen Unternehmungen und Beziehungen sozialer Art und dergleichen mehr. Nun komme es freilich darauf an, sich ernstlich zu prüfen, ob das beiderseitige Gefühl der Zuneigung stark genug sei, um die nicht zu unterschätzende Belastung durch eine Ehe, mit deren ganzem Gehalt an Lebensdingen, zu ertragen.
»Der Mensch,« schrieb er, »ist gewissermaßen impressionistisch gemalt: um ihn richtig zu sehn, muß man ihn aus einer gewissen Ferne sehn. Ich glaube, dies gilt für jeden und für jedes menschliche Verhältnis, und ich möchte deshalb eine Prüfungszeit von, sagen wir, drei Monaten vorschlagen, während der wir getrennt voneinander leben. Das heißt, ich bleibe hier, zumal es gut sein wird, wenn ich jetzt schon anfange, mich praktisch als Landwirt zu betätigen, und komme nur ab und an nach Altenrepen. Wir werden uns schreiben, wir werden uns nicht meiden, sondern hier und da sehn, aber im ganzen müssen wir versuchen, uns ein ganz wenig zu entfremden, um uns besser sehen zu lernen.
»Es ist keine leichte Aufgabe, die ich mir selber hierdurch auferlege. Ich liebe Dich, Madeleine, und doch glaube ich. Dich genügend gut zu kennen, und ich möchte, daß Du wie ich diese Prüfzeit nur als ein Überschüssiges ansiehst, eine freiwillige Kraftleistung gewissermaßen, deren Erfolg vorauszuahnen ist. Denn in der Tat glaube ich, in Dir – lache nicht über das Wort! – die weibliche Synthese gefunden zu haben, deren ich bedarf, und die ich lange suchte. Ich bin ein Mann von gutem Mittelmaß, von ›Fleisch und Blut‹, wie es heißt, und bedarf deshalb körperlich eines Wesens von kräftigen Sinnen und reizvoller Gestalt, wie Du es bist, meine Madeleine, deren holde Zauber wirken, daß ich gesund bin und mich frischen Geistes und arbeitsfroh empfinde. Andrerseits bedarf ich einer Gefährtin, eines Weggenossen im Geist, einer Helferin. Dies beides, was so selten beisammen erscheint, Du, Madeleine, bist es, eine erstaunlich gelungene und schöne Ausgleichung von Trieb und Intellekt, und ich weiß und bin bereit, es mit heiligen Eiden zu erhärten, daß ich nie eine bessere finden könnte.«
Aber, fuhr er fort, zuerst nur für ihn allein eine bessere. Es kämen jedoch andre Rücksichten in Frage, von denen sie ja wisse, von denen sie aber, wie er glaube, sich kaum eine rechte Vorstellung mache. So freien Geistes er selber sich fühle: das Geschlecht, dem er entsprossen, dem er in Liebe und Treue heilig verbunden sei, – es sei – leider müsse er es gestehn – in besonderem Maße versessen auf gewisse Standeseinbildungen. Adel und Adel sei bekanntlich nicht das selbe, und Familien, die dem Laien auf gleicher Rangstufe zu stehen schienen, täten das oft gar nicht in ihrer eigenen Meinung, oder etwa irgendein simpel scheinendes Freiherrngeschlecht könne Gründe haben, sich für mehr zu halten als der oder jener Prinz. So seien auch die Tautphöus von einem Stolz auf Ahnenschaft, auf gewisse Freiheiten und vor allem eine nie getrübte Reinheit des Blutes, den er selber zwar nicht umhin könne zu belächeln, der aber im gegenwärtigen Fall ein nicht zu unterschätzendes Hindernis türme.
Auch deshalb, schloß er, würde die Trennung gut sein. So viel verlange die oberflächlichste Vernunfterwägung, daß jede Gelegenheit, die zu ›Gerede‹, gar zu Klatsch Anlaß bieten könne, streng verpönt werden müsse. Darum sei er froh, sie im Hause ihres Verwandten zu wissen, wo er sie schadlos besuchen könne. Er werde alsbald anfangen, in seinem Kreise zu sondieren, vorzubereiten, und endlich den Überrumpelungsversuch unternehmen, der notwendig sein werde, an dessen Erfolg er übrigens nicht zweifle, denn seine Eltern – und so weiter.
Auf diesen Brief des Geliebten schrieb Elli postwendend und glühender Seele zurück: Es sei nicht in diesem Augenblick erst, daß sie ihr Leben in seine Hände lege. Er habe, wie es natürlich und auch seine Pflicht als Mann sei, alles Sachliche betont, alles Ernste, und sie danke ihm innig hierfür, und daß er so viel Vertrauen zu ihr habe, es ihr nicht leicht zu machen, ihr nicht Hoffnungen vorzuspiegeln, die übertrieben sein könnten. Sie sei ganzen Herzens bereit zum ernsten, schweren Kampf, werde immer zu ihm stehn und nicht ablassen, bis der schöne Sieg errungen sei. Aber sie glaube auch an ihre weibliche Pflicht der ›lieblichen Gefühle‹, zu hoffen, zu glühen, nur zu lieben mit einem Wort, und das heiße in diesem Fall des Wartens und Kämpfens wohl beten, um ihr ganzes Dasein zusammenzuraffen als ein Gebet an das Schicksal, das es nicht unerhört lassen würde. Ja, es sei furchtbar schwer, was er ihnen Beiden auferlege (er hatte geschrieben: was ich mir auferlege), aber sie sei nicht ungewohnt der Lasten, und er dürfe vertrauen, daß sie alles tragen könne, und ihre Liebe würde nur stolzer, edler, tüchtiger aus der Feuerprobe hervorgehn. – Und noch vieles dergleichen mehr, einen langen Brief.
Elli, diese beklagenswerte Seele, hatte in ihrem Leben, außer an Onkel oder Tante zu Geburtstagen und an Weihnachten, wenige Briefe geschrieben oder empfangen, und darunter keinen, aus dem sie für Briefschreiben oder Briefelesen etwas hätte lernen können. Sie hatte keine Übung erworben im Lesen von Schriftstücken wie dem Adalbertschen und daher aus ihm nichts herausgezogen, als das eine Wort: Ich liebe dich, Madeleine, mit dem sie, wie man mit einem einzigen Goldstück eine ganze Reiterstatue durch immer wiederholtes Aufdrücken überziehen kann, jenen ganzen Brief mit einer genügenden Haut Goldes zugedeckt hatte. Was ihren eigenen Brief angeht, so hatte sie freilich nichts zu lernen brauchen, um ihn zu schreiben, denn er war nur ein Gesang aus dem Feuer, und jene Drei in der Ofenglut zu Babel dürften so wenig wie sie bei einem Meister des Gesangs zuvor in die Lehre gegangen sein. Ja, vielleicht war es die größte, die Stunde von bewußter Größe in Ellis Leben, in der sie schrieb; denn, so wenig es wirkende Tat sein mochte, war es für sie doch heiligste Handlung, die sie erhob und mit aufgehobenen Armen dem priesterlichen Beter gleichmachte auf dem Berge über dem Dampf der Amalekiterschlacht.
Aber auch gegen Adalbert sei nichts gesagt. Er handelte nach Vorschrift seiner Anlage, nicht anders sie. Die Mehrzahl der Menschen ist in sich richtig, und nur das ist merkwürdig oder beklagenswert, daß, wenn ihrer Zwei zusammengeraten, deren jeder nichts tut als das seine, nach seiner Vorschrift verfährt und ganz richtig, dennoch für Einen oder auch für Beide etwas Verkehrtes herauskommt. Adalbert und Elli, – tausendmal wiedergeboren würde er wie sie das Leben in gleicher Weise in Angriff genommen haben, so wie Pascoli, der Dichter, von Sohn und Mutter sagt, die ›ein andres Mal zur Erde heraufkamen‹: ›Er Leids zu tun, sie Leids zu tragen.‹
Auch ist nicht ersichtlich, wie sehr seine Handlungsweise nun in der Folge beeinflußt wurde durch äußere Fügung. Diese stellte sich für Elli so dar, daß sie nach drei Wochen als erstes Lebenszeichen von ihm einen schwarzgerandeten Brief bekam, mit der Mitteilung vom jähen Tode seines Vaters – der stämmige, nur zu vollblütige Mann war infolge der Aufregung über einen unehrerbietigen Gutsknecht einem Schlaganfall erlegen – sowie ein paar Zeilen ehrlichen Schmerzes über den Verlust und auch über die nun länger dauernde Trennung von Elli, die seine vielfachen neuen Pflichten als Erbe verursachten. – Elli konnte um so liebender erwidern, als sie sich im Hintergrunde erleichtert fühlte durch diesen Tod, überzeugt, daß damit der gefährlichste Feind ihrer Sache den Kampfplatz geräumt habe. – Von Adalbert kam dann lange Zeit nichts mehr, als hier und da eine Karte, die sein Schweigen mit unglaublicher Arbeitslast entschuldigte.
Eine andre Fügung traf Elli selber in dieser Zeit, sie verlor ihr Vermögen. Der Vetter ihrer Mutter in Venedig, in dessen Bankgeschäft ihr Geld festgelegen hatte, fallierte; plötzlich war sie mittellos. Noch mußte sie es für ein Glück erachten, daß sie im Pasadaschen Hause Unterkommen gefunden hatte, und da sie es somit nun auch als Glücksfall ansehen mußte, daß sie nicht in Tübingen geblieben war, so gelang es ihr fürs erste, auch im Verlust des Geldes ein günstiges Vorzeichen zu sehn, einen Wink des Schicksals vielleicht, das sie dem Geliebten zugesagt und gar bereits insgeheim ausgeliefert hatte. Vor diesem legte sie sich entsprechend ihrer Art Schweigen auf, zu stolz auch, womöglich den Schein eines Druckes auf ihn zu erwecken.
Trotzdem fand sie sich in diesen Wochen einer ihr unbegreiflichen Schwermut ausgesetzt, ähnlich einer Karawane von Wolken über ihr, deren Schatten langfegend durch das Licht ihrer Tage schweiften, mit immer neuen Schaudern der Verdunkelung. Sie führte, freudlos an Sommer und Sonne, ein stilles Leben der Arbeit in der norddeutsch kalt anmutenden Stadt ohne viel Eigenart und in dem sehr friedfertigen kleinen Hause gegenüber einem Waldrand, dessen Haupträume heiter ausgestattet waren mit einer Sammlung von buntgestickten Biedermeier-Klingelzügen, einer Liebhaberei Pasadas. Seine klavierspielende und auch sonst spielerische Tochter, an Unerfahrenheit und an Bewegungen ähnlich einem jungen Hunde oder Kalbe, konnte ihr zwar keine Gefährtin sein, aber eine Ermunterung immerhin; vom studentischen Umgang hielt sie sich fern, in der Erwartung baldigen Endes dieses Zustandes unschlüssig, neue Verbindungen anzuknüpfen.
Seltsam erregend betraf Elli in dieser Zeit die Erscheinung eines Fremden, den Pasadas Tochter ihr eines Abends beim Heimkommen aus der Bibliothek kichernd und flüsternd ankündigte mit den Worten: »Ein Schüler von Papa ist drin! Nun gieb acht, du wirst was erleben! –«
Aber der Mensch, der bei ihrem Eintritt in das Speisezimmer sich vom Eßtisch erhob, wo auch Pasada schon saß, schien alles andre zu sein, nur kein Schüler. So groß, daß er die niedrige Stubendecke fast berührte, und so breit, daß er den ganzen Tisch hinter sich zu verdecken schien, ein riesiger Schatten in dem kleinen, möbelvollen Raum neben der Hängelampe, ließ er sie als erstes zwei Augen sehen, die, dunkel glühend, so weit voneinander lagen, daß es war, als ob jedes einzeln blickte, eine ganz erschreckende Erscheinung. Danach hatte sie, im Winkel rechts vom Hausherrn am Tische sitzend, ihn gegenüber, voll ausgesetzt seinem Blick, seiner Erscheinung, seinem ganzen Wesen, das, fern aller Ungebärdigkeit, durch eine großartige Unbekümmertheit wahrhaft glänzte. Zumindest fünfundzwanzigjährig scheinend – da von einem eben bestandenen Maturum die Rede war, konnte er doch höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre zählen, und später ergab sich's, daß er nicht viel über siebzehn alt war –, hatte er die Gebärde des fertigen Weltmanns, das Auge des Abenteurers und seine wie von fremden Sonnen gedunkelte Haut, den breiten und schönen Mund des Verführers, die fliehend flache Stirn des Denkers, und sein ungeordnet büscheliges und dichtes schwarzes Haar schien ein zauberhaftes Dickicht. Das ganze, sehr große Gesicht schien eine, aus einer unbekannten Bronze gegossene Form, von innen bewegt wie von der nachlässigen Anmut eines Gottes und manchmal von einer innerlich kalten, unerschöpflich schwellenden Beredsamkeit. Dieser Mensch, so schien es Elli, mußte alles wissen, mußte die ganze Welt durchgelebt haben und kennen, oder eine furchtbare Weltkenntnis war ihm angeboren, und was er über sie ausströmte, war mehr als Anziehungskraft, war Unentrinnbarkeit, dergestalt daß, gleichviel ob er sich um sie kümmerte oder nicht, es in seiner Gegenwart keine Gewalt gab als die seine, und darin vor allem die dieser nahezu schielenden Augen, welche auseinandergeschoben schienen, als sie eingesetzt wurden, von den Fingern eines Teufels.
Und noch ein Andres verwirrte Elli außer seiner Erscheinung, nämlich sein Name – von Montfort; Pasadas sanft sonore Stimme nannte ihn Josefo –, den sie einmal gehört zu haben glaubte, ohne daß sie sich gleich erinnern konnte. Dann war es unheimlich für sie, als bei einer Pause im Gespräch sich langsam seine Augen zu den ihren wandten und durchbohrend darin haften blieben mit einem Ausdruck, als ob er etwas von ihr wisse, das auch sie wissen müsse, – und daß jetzt plötzlich, als habe er es ihr eingeflößt, das Erinnern in ihr so jählings und heftig aufstieg, daß sie, ohne sich besonnen zu haben, sagte: »Waren Sie mit dem Maler Benvenuto Bogner befreundet?«
»Nicht ich!« antwortete er hurtig. »Das war mein Bruder Erasmus.«
Obgleich er gar nichts weiter sagte noch fragte, empfand Elli sich getrieben, weiter zu sprechen und zu erzählen, daß sie mit Bogner in Paris bekannt gewesen sei und ihn mehr als einmal eines Freundes Montfort habe erwähnen hören, worauf nun er, den Professor erinnernd, daß Bogner sein Schüler gewesen war, einige Fragen nach ihm tat. Auch Pasada erkundigte sich ironisch, wie er sich gern bezeigte, nach dem genialischen Rüpel, der seinerzeit durch seine fabelhafte Flucht in das Ausland die halbe Schule auf den Kopf gestellt habe, worauf das Gespräch zu Schulerinnerungen überging und Elli nicht mehr zuhörte. In unendlicher Ferne vor Augen die seltsam vergessene Gestalt Benvenutos, der also, wie es schien, noch immer verschollen war, an den auch die kahle Nüchternheit dieser Stadt, als Elli sie betrat, nur schwach erinnert hatte, verblieb sie für die Dauer des Abends in halber Besinnungslosigkeit, an der ihr unkenntlich blieb, ob sie aus der fast körperlichen Berührung mit Benvenuto durch diesen erschreckenden Fremden herrührte oder aus diesem selber allein. Sie saßen nach dem Essen beim Wein in einer Bücherecke von Pasadas halbverdunkeltem Arbeitszimmer, in dem auch der Flügel seiner Tochter stand, Elli die Blicke auf die leuchtende weiße Kuppel der fernstehenden Lampe auf dem Schreibtisch geheftet, in deren nach unten fallendem Schein die unterschiedlichen Dinge, Schreibzeug, Schreibunterlage, ein Stoß blauer Hefte, eine kleine Sphinx aus Messing besonders still erschienen, während aus dem Schatten der Wände da und dort die bunten Farben eines Klingelzuges glänzten. Als der Gast dann mit Plötzlichkeit verschwunden war und Pasadas schönes, aber dürftiges Kind ihren Eindruck von ihm in den Ausruf faßte: – »Nein, er ist doch ein zu komischer Mensch!« hatte Elli ein ganz leibliches Gefühl im Gehör, wie wenn im Gebirge bei einer Biegung des Weges das lange Tosen eines Wasserfalls jählings verstummte.
Wirklich zugehört und auch begriffen hatte sie nur einmal minutenlang gegen Ende des Abends. Da hatte Pasada den Gast aufgefordert, zum Abschied vor seiner Reise noch einmal eine seiner berühmten Reden zu halten, und zwar – natürlich – über die Frauen, von denen er sich bekanntlich mehr Kenntnisse erworben habe als in Thukydides oder Algebra.
»Ja?« erwiderte Montfort, die Brauen hochziehend, und setzte mit leichtfertiger Höflichkeit hinzu: der Gegenstand scheine erlesen, jedoch erschöpft.
»Sie meinen in der Literatur, hoffentlich?« sagte Pasada.
»Gewiß, soweit sie das Wirkliche erst wahrhaft wirklich macht.«
»Gesetzt nun, Sie hätten recht, – woran mag es liegen?«
»An der mangelnden Rätselhaftigkeit vermutlich,« erwiderte Montfort sorglos, worauf ein bedauerndes »O Josefo!« Pasadas folgte und ein seltsames Aufhorchen Ellis, als ob sie schon eine ähnliche Bemerkung gehört hätte, eine Empfindung, die sich im Verlaufe von Josefs Reden verstärkte, ohne daß Ellis Gedächtnis sich zurechtgefunden hätte.
»Denken Sie,« fuhr Montfort fort, »daß die Literatur, die wir kennen, mehrere Jahrtausende um eine männliche Mitte kreiste, bis vor kaum ein paar hundert Jahren aus ihr, wie der Mond aus der Sonne, das weibliche Gestirn sich gebar und aufstieg und jene Mondnacht, wunderbarer als der Tag, um sich wölbte, die nun wieder bläßlich erscheint. O freilich, wir bedürfen der Nacht, aber wenn sie tief ist und erschütternd und voll Geheimnis, so ist sie es kaum wegen des Mondes, sondern wegen der verschwundenen Sonne.«
»Und der Sterne, Josefo! Aber Sie werden doch nicht das Mysterium der weiblichen Natur bestreiten wollen?«
»Der weiblichen Natur?« fragte er, das letzte Wort betonend. »O keineswegs! Es ist so undurchdringlich und so ewig wie das, von dem es nur ein Teil ist, das Rätsel der ganzen Natur. Was aber ein Rätsel ist, ist deshalb noch nicht geheimnisvoll. Ja: geheimnisvoll, das meinte ich eben, als ich vom Rätselhaften sprach. Zu versinken in den Anblick des Firmaments wird für uns immer magischere Schauder enthalten, als der Gedanke rätselhafter Art, daß der Strahl des Sirius Jahre braucht, um uns zu erreichen. Wenn etwas geheimnisvoll ist, so ist es seelisch. Sehen Sie doch, damals, als die Kunst die Frau zuerst entdeckte, was geschah? Auf das Rätsel gepfropft wurde das Rätsel, nämlich im Mittelalter und nämlich auf die Geburt die unbefleckte Empfängnis, und so empfing das weibliche Rätsel seinen Glanz durch wen? Durch den Mann. Empfängnis und Geburt bleiben ewig mysteriöse Dinge, aber was weiß das Weib davon? Hätte sie gewußt, hätte sie so lange geschwiegen? Sie, die nie ein Geheimnis hat bewahren können?«
»Es war so zart, zu schweigen,« sagte Pasada leise.
»O zugegeben, aber auf die Dauer? Und was giebt es Zarteres als schweigen? Zart reden. Der Mann mußte kommen, um das zu tun. Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« wandte, er sich an Elli und Pasadas Tochter, »wenn ich zu zerstören scheine, was ich selber so verehre, aber Sie sehen vielleicht, daß ich mich bemühe, auch zart zu sein bei der Zerstörung.«
»Heut,« meinte Pasada, »reden ja auch die Frauen …«
»Ja, fürchterlich, nicht wahr? Und wovon reden sie? Entweder vom Manne, oder vom Recht der Frau auf Männlichkeit, oder von der Brunst. Ah natürlich, meine Verehrtesten, zehntausend Jahre lang hat die Frau sich damit beschäftigt, sich einzuleben in den Mann; Teufel auch, nun muß sie sich doch endlich mal wieder ausleben dürfen. Aber warum redet sie nicht vom Geheimnis? Zu zart dafür scheint sie doch heut keineswegs. Sie können's nicht abstreiten, Professor: Der Mann war's, und er machte das so: er sah das natürliche Geheimnis – als erstes –, und er sah jenes ewige zweite, das in weiter gar nichts besteht, als daß die Frau genau aussieht wie ein weiblicher Mann und dabei etwas ganz vollständig schlechterdings anderes ist, und zwar etwas süß, zauberhaft, zart, himmelswesenhaft anderes als er, und aus diesen beiden Rätseln zusammen machte er das große eine und nannte sie: die Geheimnisvolle!«
» Arma virumque cano« bemerkte Pasada verzichtend, »also dann lieber vom Manne; Josefo, worin besteht denn sein Geheimnis, wenn ich fragen darf?«
»Ich sagt es ja schon, verehrter Mann, in der Seele!«
»Ach! die Frau hätte keine?«
Montfort lachte. »Sie meinen wohl, ich denke wie die selige Friederike Kempner vom Getier, als sie sang: ›Auch das Tier hat seine Seele, wenn auch 'ne kleinere als wir.‹ Nein, aber was ist denn Seele, Meister? Die Kunst der Geheimnisse, weiter nichts. Geheimnis zu sehn, erstes, letztes und überall, das ist Mannesgeheimnis, das ist seine Seele. Aber was ist das: Geheimnisse sehn? Geheimnisse gestalten, das ist's! Ah, nun sehen Sie ihn: da tritt er hervor aus seiner Urnacht, der nackte, einsame Mann, in der Hand des Werkes schimmernden, neuen Kristall. Er sah das Geheimnis, und er sah es mit solcher Inbrunst, daß es ihn überwältigt hätte, hätte er es nicht bilden können. Und da hatte er das Unendliche an einem Anfang ergriffen, und begriffen hatte er das Geheimnis seiner Seele: die Wandlung. Ach, sehn Sie doch, was ist die Frau, dies himmlische Wesen? Sie ist schön und eine Girlande von Früchten um die Schulter des Mannes, heute noch wie ehedem. Sie blieb ungewandelt im Kern, sie häutete sich immer nur, die zarte Schlange, mit ihm. Er aber, er begriff die Wandlung, und zwar doppelter Art. Die erste, in die Tiefe, in das Gebilde, dem er seine Züge gab, in dem er sich überlebte und die Unsterblichkeit fand – ja, Unsterblichkeit, zu der das Weib bis heute nur in vereinzelten Ausnahmen männischer Art gelangte –, und die Wandlung nach vorn und voraus, die immer neue Verwandlung des eigenen Ich durch die Zelt oder die Ewigkeit, wie Sie wollen, in abertausend Dichterschaften, ob das im einzelnen nun Poeten sind oder Feldherrn, Städtegründer oder Eroberer, Verwüster oder Erwecker, Weltentdecker oder Erfinder, Dombauer oder Steinmetzen und was Sie noch aufzählen mögen. Seine rasende Liebe und seine einzige Treue ward das Gebild. Ja, was fällt uns gleich bei Treue ein? Einfallen uns hurtige Erfinder von heut, welche die Legende von der treulosen, der untreu beschaffenen Frau ersannen, kurzsichtige, deren Augen nicht weiter reichten als über ihr sogenanntes Milieu, jene Bohèmeleute meine ich, die Geltung erhielten wegen ihrer Novität und einer gewissen sumpfigen Biegsamkeit, die ergötzte, und die nichts weiter waren als kleine Schwächlinge: Gabriel Schillings Flucht, der vom Weibe beschnittene und geblendete Simson, aha, und so weiter, kleine Leute, über die das Geheimnis nicht Gewalt hatte, die Seelenlust und Sinnenlust verwechselten, halbe Poeten und Maler, die am Weibe krankten, wie es heißt, weil – salva venia – sie mit den Beinen stärker waren als mit den Armen. Winzig, wie sie waren, mußten sie sich naturgemäß aufblähen mit Pomp, und so erfanden sie, wie gesagt, das Märchen von der Schlange, von der treulosen, boshaften Frau, die den Mann vom Werke abhielt und zum Apfel verführte. Ach, der selige Adam im Paradiesgarten war freilich ein Müßiggänger, wie meist auch jene, er wußte noch nichts vom Werk, er mußte sich erst verführen lassen, um drauf zu kommen; hätte er nur schon einen Spiegel gehabt im Garten, er hätte sich von vornherein in sich selber verliebt, alles wäre anders gekommen, denn bekanntlich ist es so, daß die Frau vielleicht den halben, der Mann jedoch den ganzen Tag vorm Spiegel versteht, freilich: sie fleht sich verschönt, er meist entstellt, und zwei und drei im Jahrtausend, denen es glückt, die sehen im Spiegel den Gott. Aber was ich sagen wollte: ihren wahren Kern hatte auch jene beliebte Legende, denn freilich will sie ihn weg haben von seinem Spiegel vor ihren Spiegel in der tiefen Unschuld ihrer natürlichen Bosheit, da sie verpflichtet ist, Kinder zu haben. Glauben Sie ernstlich, Professor, dem Mann wäre an Kindern vom Weibe gelegen oder vom Leibe? Ihm, der Kinder von seinem Geist haben kann, Riesen, wenn es ihm glückt, Herzöge und Markgrafen, auch wenn er ein Prolet ist, – glauben Sie's nicht, Professor, dies ist ganz allein Pflicht und Auftrag der Frau und reine Zufallssache für ihn, weil sie so eingerichtet ist. Ja, verpflichtet, Kinder zu haben, sagte ich, das heißt schwer zu werden, und diese Schwere ist der Anfang all ihrer Schwere und der Anfang vom Alltag. Festtag ist der Mann, denn er ist Gottes; Alltag das Weib, denn sie ist der Erde. Sie will Brot, sie will Kleider – er kann ja hungern und frieren, das Werk brennt und nährt –, sie will die Sorge – an Stelle seines heiligen Grams, sie will Sässigkeit, während er unstet schweifen möchte unter seinem gewaltigen Fluchsegen. Ja, aha, warum giebt es denn Siedelungen und Dörfer und Städte und die ganze Industrie und all den Krawall? Weil sie nicht mit ihm ziehen konnte, all ihre Kinder an Brust und Rücken aufgeladen, und weil sie alle Augenblick drei Wochen lang Ruhe brauchte, um zu gebären. Aber sehen Sie, darum ist sie auch die Ärmere und die Unselige. Denn er, er hat ja sein Geheimnis, er trägt, die priesterliche Schnecke, die Lade seines Bundes mit Gott, sein Heiligtum und sein Haus naturgewachsen auf dem Rücken, und sagen Sie nicht, teurer Meister, daß der Schuster und der Schneider, bei dem Sie arbeiten lassen, sein Geheimnis nicht hätte, – obwohl ich Ihnen zugebe, daß die verfluchte Maschine das Wunder dieses gordischen Knotens mit einem einzigen Scherenschnitt mitten entzwei getrennt hat. Hinunter von Shakespeare und Rembrandt, über Sie, Professor, bis zum besagten Schuster von gestern, der das Geheimnis seines Handwerks, seiner Gilde bewahrt wie Schneider, Brauer, Bäck: sie alle sind frei durch eben dies Geheimnis, frei von ihren Weibern, von denen sie verachtet oder geschlagen, betrogen, vernachlässigt, entehrt, vergiftet und erdrosselt werden können: das macht ihnen alles nichts, denn in allem Ungemach haben sie ihre Zuflucht, ihr unsterbliches Asyl, ihre Einsamkeit im Bewußtsein des Werkes, des Geheimnisses, von dem sie nichts weiß, in das sie nicht eindringen kann mit keiner Macht, vor dem sie blind und ahnungslos steht, und es ist schon viel, wenn sie verehrt, was sie nicht begreift. Sie dagegen, die beklagenswert geheimnislose, immer ganz sich gebende, allzeit offene, nach außen gewandte, dämmerlich und aufgetan mit ihrem Innersten wie die Auster, wie, wenn ihr Mann ihr das tut, was ich eben von ihr sagte, was hat dann sie? Nichts, Leere, Bridgespiel, Theater, Konzerte, Teenachmittage, Klatsch; die Reichste ihre Kinder, die Ärmste den Betrug aus Rache, aus Betrogenheit. Wenn Sie es mir doch nur glauben wollten, verehrter Meister, daß noch nicht eine einzige Frau einen Mann betrogen hat, sie wäre denn zuvor um etwas von ihm betrogen. So arm ist sie: sie ist immer einsam in jedem Augenblick, wo er sich abwandte. Er ist immer zuzweit.«
So wie es besonders starke Träume giebt, deren schwer oder süß beklemmende Wirkung noch durch einen vollen Tag oder länger anhält, so erwachte Elli am Morgen nach jenem Abend in einer fast zwei Tage andauernden Verliebtheit in den üppigen Fremden, gegen die sie wehrlos war, mit einer so beklemmenden Fruchtsüße erfüllte sie ihre Brust. Von ähnlichen früheren Empfindungen Ellis unterschied sie sich nur durch die klare Bewußtheit, mit der Elli ihrer inne war, ein Grund für sie, das Gefühl für Unsinn zu halten oder jedenfalls für eine Art Gift, das ihren Nerven eingeflößt war und das ihre frei gebliebene Vernunft belächeln konnte. Infolgedessen machte sie sich auch das Herz nicht eben schwer deswegen, sagte: ich kann nichts dafür –, und war überzeugt, daß es bald vorüber sein würde, womit sie freilich recht hatte. Sonderbar, zumal am zweiten dieser beiden Tage, war ihr Empfinden für Adalbert. Nachdem er am ersten hinter diesem großen und drohenden Theseusschatten des Fremden nur zum Vorschein gekommen war wie eine Figur aus weißem Papier mit einer matten Andeutung von Zügen, wurde er am zweiten Tage zwar deutlicher, bekam aber einen merkwürdig feindlichen Ausdruck, so zwar, daß Elli, anstatt ein Untreugefühl gegen ihn zu verspüren, vielmehr etwas Ähnliches aus ihm zu empfinden glaubte. Dies erkennend, begriff sie es zwar durchaus nicht, aber wider alle Vernunftsgründe blieb die sonderliche Einbildung, er habe sich zurückgezogen, sei ihr fern, ihr abgewandt, und sie sah ihm mit leiser Wehmut nach. Im Laufe des Nachmittags und Abends verwandelte sich in Schwermut die Wehmütigkeit, die Brustbeklommenheit der letzten Wochen kehrte wieder, und diese Nacht wurde schlimm.
Ach, wer kennt diese Nächte nicht? sie, die meist arglos beginnen und wie jede: das Licht ist gelöscht, man legt sich zurecht, nah scheint der Schlaf, man vermeint, noch an dies und jenes denken zu wollen, fast zufrieden vielleicht an jenes oder dies sich erinnern zu wollen, und so geht das eine Weile, bis man plötzlich merkt: man schläft nicht. Auf einmal ist auch der Schlaf nirgendmehr, eine Stunde muß schon vergangen sein, auf einmal sind Decke und Kissen heiß, man wird unruhig, – und plötzlich ist alles verwandelt. Das unvermerkt eingeflößte Gift beginnt nun zu wirken, das alle Erscheinungen des Hirns und des Herzens, die nun kommen, verfärbt und entstellt, und alle werden feindlich, und alle treten hinterlistig mit einer gemeinen Enthüllung hervor, die sie zeigen: siehst du, das, glaubtest du, war so, aber es war ganz anders gemeint, und was dir unscheinbar vorkam, das war boshaft und gegen dich gewandt. – Wer kennt die Nächte nicht, in denen – wie in keiner sonst – zu brennender Gegenwart wieder wird, was lange verging, und was die Seele nur erst als ferne Möglichkeit in der Zukunft argwöhnte, das scheint bereits abgetan und erledigt und scheint Vergangenheit, nur wieder gleichfalls zu diesem Schein glühender Gegenwärtigkeit verzaubert.
Schon fühlte Elli sich verlassen von Adalbert, schon drohte ihr wieder wie einst Leere, Armut und Öde, nicht so fürchterlichen Ausdrucks vielleicht wie früher, dafür aber mit jener herzabdrückenden Bitterkeit, die ein Fluidum eben solcher Nächte ist. Augenblicke kamen, wo sie sich selbst beschuldigte, sich ihm gegeben zu haben, wieder einem andern Menschen vertraut, auf ein Schicksal außerhalb ihrer selbst gehofft zu haben, und sie sah auf den Grund ihrer Leidenschaft zu ihm, glaubte den Grund zu sehen und hielt ihn also nicht für tief. Warum hatte sie ihre Sicherheit verlassen, sich wieder hineingeworfen ins Fluten, warum nicht widerstanden? Freilich, es war so gewesen, daß sie an gar keine Zukunft gedacht, sich ihm nur für den Augenblick ausgeliefert hatte, und allmählich hatte sich die festere Bindung ausgebildet, war das leicht geschlungene, farbige Band zur Kette geworden, die lange halten sollte. O mein Gott, klagte sie dann, was habe ich denn getan, an was habe ich es fehlen lassen, daß ich immer nur genommen werde und fortgeschoben? Bin ich nicht immer gut gewesen, zischelte die fast süße Verbitterung in ihrem Herzen, habe ich nicht immer alles hergegeben und habe gedient, und war ich nicht bescheiden und ehrfürchtig und ergeben? Soll all das nichts gelten bei den Menschen?
Und wie es eine andere Eigenschaft solcher Nächte ist, daß sie den ersten Fund der Bitterkeit, des Verlassenheitsgrames magnetisch machen für hundert andre, und daß gleich Steinen, von unsichtbaren Händen geschleudert, die Schar der hundert Unsale herbeigeflogen kommt, der Enttäuschungen, Verwundungen, Schläge; und daß die Vergangenheit lebendig wird, ein schauerliches Gräbertal, das sich öffnet an hundert Stellen mit einmal und zu wimmeln beginnt von einem Teufelsgezücht von Widergängern; und daß aus den einst natürlich geschienenen, unbeargwöhnten Vorgängen nun ein Aussatz schlägt, ein Giftblick äugt und sie alle triumphierend zu erkennen geben: auch ich war krank, auch ich war böse, und: nun weißt du erst, was ich wirklich bedeutete; – so sah Elli sich mit magischer Gewalt wieder in ihr Pariser Lebensjahr mit Benvenuto versetzt, fühlte wieder jeden seiner Stiche, den Gram der Tage, wo er sie allein ließ und nicht sprach, das schmerzhafte Grübeln nach dem unbekannten Grund seines Hasses, ihre Einsamkeit – ach, immer, immer war sie einsam gewesen, jeder hatte sich nur so weit um sie gekümmert, wie es für ihn dienlich war! – und die grauenvollen letzten Stunden der Verzweiflung und des Sterbens. Schließlich klammerte sie sich an Ludwigs Gestalt, die sich ernst und edel aufrichtete, nannte ihn den Guten, den Teilnahmvollen, den wahrhaft Liebenden, den Einzigen, – und fortan blieb seine Erscheinung so unter allen Wechselfällen ihres Lebens. O gewiß, sie gab es zu, auch er hatte sein Geheimnis gehabt, seine Bundeslade und sein Allerheiligstes, das keinen Eingang gehabt hatte für sie, seinen Festtagraum. Aber festlich war er stets zu ihr herausgekommen, weil er edel war und der Aufenthalt drinnen sein ganzes Wesen und Weben festlich machte, und sie war doch ausgenommen in diese Festlichkeit und gesegnet gewesen. So erhöhte ihre Bitterkeit seine Güte, und freilich war er ein Mann gewesen, nicht ein Knabe wie Benvenuto und kein Gefolterter auch von Dämonen. Da war wieder dies: wenn sie zu einem Ausgang in Paris einen andern Kleidrock, eine andre Bluse, einen andren Hut angelegt hatte, als er sich eben eingebildet hatte; wenn sie vergessen hatte, irgendein Werkzeug zu reinigen, von dem er sich einbildete, daß gerade eben dies ihm jetzt nötig sei; wie er dann eingefroren war und keinen Blick noch Laut hatte! Und nun Adalbert, der sich von ihr löste …
Plötzlich war Elli dann entschlafen. Und wie es nach solchen Wachstunden zu geschehen pflegt, daß die des Schlummers danach das Gift wieder aufzehren und solch eine Art Leere wie in der Genesung von einem Fieber erscheint: so erwachte sie, von nichts mehr wissend und für ein paar Tage befreit, – worauf allerdings die alte Schwere und Beklommenheit beklemmender wiederkehrte und sie ihre Tage vertreiben mußte wie widerspenstige Herdetiere mit dem Fackelbrand der Sehnsucht nach einem Ende der festgesetzten Frist.
Und wie wenn ein König einen Ring bekam mit der Weisung, daß ihm nichts fehlschlagen werde, solange der Ring an seiner Hand unzerbrochen sein würde, und der ihn dann lange trug durch glückliche Jahre, bis erst kleine, in der größeren Masse des Segens unbeachtete, dann größere Fehlschläge kamen und er endlich nach dem Reifen sah, der unverändert an seinem Finger schien, und kaum die mehr als haardünne Feinheit des Sprunges im Golde erkennen konnte, der sich durch nichts angezeigt hatte: so brach, als Elli Adalberts endlos langen, labyrinthisch durch unzählbare Für und Wider gewundenen Brief bekam, etwas in ihr; jenes Etwas, das sich nicht äußerlich anzeigt, das sich so wenig bestimmen oder beglaubigen läßt wie das Vorhandensein einer Seele, oder Gottes, oder des Lebens selber (denn wie dieses seinem Eigentümer erst wahrhaft bewußt zu werden pflegt bei den ersten Anzeichen des Todes, so auch jenes eben am Bruch); das Etwas, das freilich keinen Hauch von der Tödlichkeit an sich hat, die eine gewisse Poetengattung ihm verlieh, indem sie es darstellte in der Form des ›gebrochenen Herzens‹, an dem sich so reizvoll sterben ließ; sondern das im Gegenteil über eine Dauerhaftigkeit verfügt ähnlich jenem Geschirr, das einen Sprung bekam, und von dem die verständige Hausfrau sagt: ›So, nun hält's ewig!‹ –
Von dem Brief läßt sich im ganzen sagen, daß er die Beschreibung von Adalberts erstem Versuch einer Synthese enthielt, der vergeblich blieb. Ach, hatte Elli denn ahnen können, wie sehr er einmal seine absonderliche Art des Wägens gegen sie verwenden würde, und wie absonderlich und verkehrt sie überhaupt war, da sich Gefühle niemals wägen lassen wie Steine oder Früchte, und auch die ›objektiven Tatsachen‹, die er zu wägen vorgab, niemals unvermischt waren mit einem Gefühlsmoment, das eben den Ausschlag gab? Hatte er es nicht immer so gemacht: Wir müssen nächstens wieder einmal zu Fehrenbach gehn, Madeleine! – Aber wir können ihn doch alle Beide nicht leiden! – Ja, allerdings, aber es giebt da gewisse Dinge, die ich von ihm besser erfahren könnte, als wenn ich dies oder jenes täte. – Also geh doch allein hin! – Aber du weißt, daß seine Frau dich – – Nun, die Frau war nach Ellis Meinung noch schlimmer als der Mann, aber wenn dies etwa der Tatbestand war, so wurde nun abgewogen, das heißt es wurde von Entgegnung zu Entgegnung die Wichtigkeit, den Mann zu sprechen, für Adalbert größer, und was ist denn dagegen zu machen, wenn Gewicht auf Gewicht in die Schale gelegt wird, gleichviel, ob es immer dasselbe in neuer Form ist? Elli konnte nur immer wieder ihre Abneigung betonen, er aber hatte doch objektive Gründe, denen er nie im Leben angesehn haben würde, daß sie ihr Gewicht nur durch seine ganz subjektive Betonung der Gewichtigkeit bekamen.
Also siegte in diesem Brief über sein Verlangen, Elli heimzuführen, die Pflicht gegen das Geschlecht, die sich darstellte in der Pflicht gegen seine Mutter, als welche, von Natur ahnenfrommer als der Vater, nun in ihrem Sohn den neuen Inhaber der Majoratswürde, dazu den letzten männlichen Sproß an diesem Ast des Geschlechts anbetete; ihre Gefühle mußten zumal jetzt im schwerwunden Zustand der Trauer um so tiefer geehrt werden. Zwar legte er auch in einem langen Satz nachdrücklichen Ton auf seine Pflicht gegen Elli; dieser Ton jedoch blieb einmalig, während der andere wieder und wieder und mit immer ernsterer Gewichtigkeit ausgeprägt wurde. Demnach war der Schluß, daß er sie zwar bitten müsse, in eine Loslösung zu willigen und sie als vollkommen anzusehen, daß er seinerseits für spätere Zeit immerhin … und so weiter.
Wessen dieser Brief ihr vor allem zu mangeln schien, das ist Elli niemals bewußt geworden; ihr, die sich im Augenblick für jeden Gedanken verschloß. In Worten dargestellt aber hätte es folgendermaßen gelautet: Sind wir denn auf einmal, du und ich, nicht mehr da, weil diese unsere Verbindung nicht sein darf? Lieben wir uns denn nicht? Genügt es nicht, zu lieben, und giebt es nicht hundert Wege und Formen der Liebe, wenn nur eine einzige zerstört ist? War ich nicht immer zu allem bereit, und sollte ich es heut nicht mehr sein? Giebt es nicht Briefe, Schmerzen und Sehnsucht, Qual und Tröstung, wenn es nur verbundenes Leben bleibt und Liebe? Bin ich nicht da für dich, bin ich nicht deine Geliebte, kannst du mich nicht haben, wann du willst und wie du willst, heut oder morgen, und wenn es nur der brennende Glanz des täglichen Wartens auf den Briefboten oder Telegraphenboten wäre, der den Zettel bringt mit den Worten: Erwarte mich am …, so wäre es doch Glanz und nicht Erloschensein, Reichtum, nicht Öde, Wärme und nicht Frost, Liebe und nicht Lieblosigkeit! Hatte ich denn etwas gewollt? Ich war's doch nicht, die an Heiraten dachte, ich war doch immer nur arm und elend gewesen und war froh, wieder in der Wärme atmen zu können, nahm nichts voraus, sondern nahm ein jedes, wie es sich einstellte, und war dankbar und fröhlich, erlöst zu sein …
Dies dachte sie nicht. Lautlos schloß sie sich zu, einmal aufschluchzend und in der Nacht zum ersten Male seit ihrer Kindheit leise weinend, der Mutter eingedenk; aber im ganzen weniger schmerzvoll, weniger verzweifelt, weniger sich zerwühlend, als sie es sich zuvor ausgemalt hatte. Auch ahnte sie nicht, was nun kommen würde, und das einzige Anzeichen dafür, daß ihre Verstörtheit in den ihr selber unbekannten Tiefen schwer und sehr ernst war, bestand in einer nervösen Kopfbewegung, die sich bald bemerkbar machte und nicht wieder wich; kaum ein Schütteln, ein kleines Rucken nach links, wie nicht begreifend und aus Verwundrung.
Elli handelte nun so, wie es jeder dritten Frau in einer solchen oder ähnlichen Lage zu handeln natürlich ist, als welche zu einem Verzicht gezwungen, von einer Aussicht abgewandt, sich freiwillig und ganz und gar herumdreht auf die Gegenseite, jählings beherrscht von einer Wollust des tiefsten Entsagens. Und wie etwa ein Mädchen, das ihr schöner und edler Geliebter verließ, spätestens ein halbes Jahr danach die Frau eines häßlichen Zwerges oder halben Idioten sein wird, – so verzichtete Elli, gezwungen, auf das eine zu verzichten, auf alles – das heißt, sie machte keinen Versuch, im Hause des Onkels zu bleiben, sich von ihm unterstützen zu lassen und, wo nicht das kostspielige Doktorexamen, so doch die Oberlehrerprüfung zu bestehen, vielleicht mit den staatlich gebotenen geldlichen Hülfen; sondern sie wandte sich ab von allem, was noch würdig schien, und nur weil ihr der Stand einer Sprachlehrerin in Häusern allzu demütigend vorkam, setzte sie ein Angebot ihrer Kenntnisse in der französischen und italienischen Sprache sowie der Stenographie in die Zeitung und war einige Wochen später in einer Berliner Bank angestellt für den Briefwechsel mit Italien und mit hundertunddreißig Mark Anfangsgehalt, eingerechnet die Beträge für Versicherung und Krankenkasse und das Versprechen, in Kürze auf der Schreibmaschine schreiben zu lernen.
Berlin – der Gedanke zeitigte ein vereinzeltes süßbitteres Flackern in ihrer Brust; Berlin war geheiligter Boden durch die wieder brünstiger erscheinende Erinnerung an Ludwig. So wenig es in seiner Absicht damals gelegen hatte, in Berlin zu bleiben: es bestand doch der dünne Rauchfaden einer Hoffnung vor Ellis Augen, daß er dort war, daß …
Nur die letzte Verzweiflung ist ohne Trost; dort war Elli noch lange nicht angelangt.