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Ehe die Gerichtspersonen den Wagen jedoch besteigen konnten, nahm eine in hastigem Lauf näherkommende Person ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Es ist der junge Herr Gollwitz!« sagte Doktor Thoma.
Man wartete unwillkürlich, bis der schon von weitem mit den Armen winkende junge Mann näher kam.
»Um Vergebung, meine Herren!« rief nun Gollwitz, ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren und von sehr sympathischem Äußern, atemlos. »Soeben verbreitet sich in der Stadt das Gerücht, Frau Fallner, meine teure Tante, wäre tot, ermordet aufgefunden worden. Ich vermag es nicht zu glauben, es ist ja rein unmöglich! Geben Sie mir Auskunft, meine Herren, diese Ungewißheit ist ja entsetzlich! Sie kommen aus dem Haus dort? So ist vielleicht ein Unglück geschehen, aber doch kein Mord?!«
Der Oberamtsrichter sagte halblaut zu dem Kommissar:
»Da scheint meine alte Köchin wieder geplaudert zu haben! Ich sage es ja, diese Weiber! Schade, ich hätte Gollwitz gern selbst mit der Nachricht überrascht, um zu sehen, wie er sich dabei benimmt!«
Während dieser geflüsterten Zwischenrede wendete der Referendar seinen Blick wortlos von einem zum anderen.
Sein vorhin von atemlosem Lauf gerötetes Gesicht wurde plötzlich bleich.
»Sie zögern, Herr Oberamtsrichter, mir zu antworten!« stieß er hervor. »Vergeben Sie mein ungestümes Fragen! Aber meine Angst und Sorge werden erklärlich, wenn ich Ihnen sage, daß Frau Fallner mir eine zweite Mutter war, daß ich sie hoch verehre, ja, mein ganzes Lebensglück hängt von ihr ab!«
»Frau Fallner hatte Sie ja wohl zum Erben eingesetzt, Herr Gollwitz?« sagte der Richter wenig rücksichtsvoll.
Betroffen, befremdet ob dem Ton dieser Worte, antwortete der Referendar:
»Ich verstehe diese Frage nicht, Herr Oberamtsrichter. Vielleicht hegte Frau Fallner diesen Wunsch – aber es handelt sich jetzt, in diesem Augenblick doch nicht um Geld, und ich flehe Sie noch einmal an, mir zu sagen, was in dem Haus meiner Tante geschah!«
Der Oberamtsrichter sah Gollwitz scharf an.
»Frau Fallner ist tatsächlich tot!« sagte er.
»Also – doch!« stammelte der Referendar. »Aber wie kam es denn?«
»Die Dame ist heute nacht ermordet worden!« sprach der Oberamtsrichter kalt.
Gollwitz starrte ihn voller Entsetzen an.
»Ermordet? Ja, träume ich denn? Wer, in aller Welt, konnte denn solch eine Tat ausführen?« stammelte er.
»Frau Fallner ist durch einen wuchtigen Hammerschlag getötet worden; wer der Mörder ist, darüber herrscht zur Zeit noch Dunkel,« erwiderte der Richter. »Hoffentlich gelingt es aber unseren Bemühungen, bald Licht in die Sache zu bringen. Sie, Herr Gollwitz, ersuche ich, diesen Nachmittag in meiner Amtsstube vorzusprechen. Ich habe einige wichtige Fragen an Sie zu stellen.«
Der junge Mann fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er schien ganz betäubt zu sein von dem Vorgefallenen, so daß er sich gegen das Torgitter stützen mußte.
»Ermordet – ermordet!« stöhnte er. »Mein Gott, das ist ja gar nicht faßbar! Wer könnte denn das Furchtbare, Unbegreifliche ausgeführt haben? O, Fluch dem elenden Mörder! Möge er niemals Ruhe mehr finden, solange er lebt!«
Es sprachen so unendlich viel Schmerz und Verzweiflung aus diesen Worten des jungen Mannes, daß sich Doktor Thoma erschüttert abwandte.
Dabei sah er den Oberamtsrichter mit einem Blick an, der etwa sagen wollte:
»Daß Gollwitz an dem Mord beteiligt ist, kann gar nicht sein!«
Aber der Richter, der diesen Blick wohl verstand, zuckte nur die Schultern und sagte:
»Lassen Sie uns zurückfahren, meine Herren!«
Die drei Personen wollten einsteigen. Gollwitz raffte sich gewaltsam auf.
»Ich bitte,« sagte er, »kann ich wenigstens meine unglückliche Tante noch einmal sehen?«
»Bedaure, Herr Gollwitz,« entgegnete der Oberamtsrichter, »nachdem Herr Doktor Thoma den längst eingetretenen Tod der Dame feststellte, sind die Fenster verschlossen, die Tür versiegelt worden bis zum Eintreffen des Staatsanwaltes. Dieser kann schon nachmittags hier sein. Finden Sie sich etwa um vier Uhr in meiner Amtsstube ein. Sie können sodann mit dem Herrn Staatsanwalt hierher kommen.«
Der Richter hatte dabei seine eigenen Gedanken.
Der Referendar nickte mechanisch, worauf die erschienene Gerichtskommission den Wagen bestieg und nach der Stadt zurückfuhr.
Gollwitz aber taumelte durch den Garten, dem Haus der Ermordeten zu.
Er traf dort den alten Diener Balthasar, der ihm in verwirrten Worten berichtete, was die Gerichtskommission feststellte, ohne jedoch eine Silbe davon verlauten zu lassen, daß er durch seine unbedachten Worte Gollwitz in Verdacht brachte.
»Der Wald-Sepp hat es getan!« sagte er zum Schluß. »Es ist gewiß sein Hammer, der im Zimmer meiner armen, unglücklichen Herrin gefunden wurde.«
»Der Wald-Sepp?« fragte Gollwitz. »Ja, was soll denn diesen Menschen dazu getrieben haben, die gute Tante zu ermorden?«
Darauf hatte Balthasar freilich keine Antwort.
»Nachmittags werde ich ihre Leiche ja sehen,« murmelte Gollwitz. »Jetzt will ich hinüber zu Brak und zu Luise. Sie ahnen gewiß das Schreckliche noch gar nicht.«
»Freilich nicht,« versetzte Balthasar, »ich dachte auch schon daran, hinüberzueilen. Herr Brak geht ja fast niemals aus, und auch Fräulein Luise verläßt selten das alleinstehende Haus.«
»Luise!« sprach Gollwitz schmerzlich. »Wie wird sie die entsetzliche Nachricht aufnehmen?«
Er schlug gleich darauf den Weg nach dem etwa zehn Minuten von hier entfernten Haus Braks ein.
Dieses lag ebenfalls in einem Garten, wie die meisten alleinstehenden Gebäude außerhalb der Stadt.
Das ziemlich üppige, starke Buschwerk verdeckte die unteren Fenster fast völlig.
Brak bewohnte den oberen Stock allein mit seiner Tochter Luise und einer alten, halb tauben Magd.
Das Parterre stand völlig leer.
Es war etwa eine halbe Stunde nach Entdeckung des Mordes durch Balthasar, als sich Brak erst vom Lager erhob.
Luise wirtschaftete schon längst in der Küche mit der alten Magd.
Brak empfand im Kopf eine bleierne Schwere, die er sich nicht zu erklären wußte.
Dabei zuckten seine Hände nervös.
»Es liegt etwas in der Luft,« murmelte der alte Mann, mit scheuem Blick sich umsehend. »Ich fühle es, man möchte es greifen, denn es ist vorhanden, das lasse ich mir nicht nehmen. Aber wie es erfassen?«
Brak hüllte sich in einen leichten Schlafrock und ging in seine, direkt an das Schlafzimmer grenzende, sogenannte Arbeitsstube.
Dort sah es wunderlich genug aus.
Überall standen oder lagen Bücher umher, vom großen, in Schweinsleder gebundenen Folianten bis herab zu der modernen Broschüre.
Alle aber hatten so ziemlich denselben verwandten Inhalt, die versuchte Lösung übersinnlicher Probleme und Ereignisse.
Das ganze Geistesleben Braks bestand in den letzten Jahren ausschließlich in der Beschäftigung mit diesen brennenden Fragen. Hypnotismus, Somnambulismus, Seelenwanderung, Magnetismus und wie all die verwandten Wissenschaften und Thesen heißen mögen.
Wer darüber zu reden verstanden hätte, wäre der intimste Freund Braks geworden.
Leider fand sich dazu niemand in dem Städtchen.
Man hieß es verrücktes Zeug, und selbst Luise wollte durchaus nichts davon wissen.
Ebenso verständnislos zeigte sich Heinrich Gollwitz, wenn er hin und wieder von dem »Onkel« rein aus Mitleid zu Tisch geladen wurde und nachdem seine Meinung über ein neues übersinnliches Problem abgeben sollte.
Brak fand es bald gar nicht mehr der Mühe wert, mit Leuten, die ihm nicht das geringste Verständnis entgegenbrachten, über seine Wissenschaft zu sprechen.
Ging es ihm doch bei Frau Fallner und seinem in der Residenz als Polizeiinspektor angestellten Bruder ebenso.
In der Folge grübelte er allein weiter.
Brak ließ sich an dem großen Tisch nieder und brütete eine Weile über einem Buch.
Dann aber sprang er wieder nervös auf und fuhr mit den gespreizten Fingern durch die kurzen, grauen Haare.
»Lauter Ameisen –!« murmelte er. »Es ist zu dumm!«
Er trat an das große Fenster, das in den Garten hinausging.
Draußen lag ein heller, sonniger Frühlingsmorgen.
Brak wollte seinen Kopf in der frischen Luft baden und zog den Fensterflügel auf.
Dieser war gar nicht fest verschlossen, was ihm jedoch nicht weiter auffiel.
Einige Minuten stand Brak an der Fensterbrüstung und schaute unverwandt in die Strahlen der aufgehenden Sonne.
Jedem anderen wäre dies unangenehm gewesen, Brak wandte jedoch lange den Blick nicht ab von dem funkelnden, glitzernden Feuerball.
Erst als der kühle Wind ihm über das Gesicht fuhr, regte er sich, tat einen tiefen Atemzug und wandte das Auge ab.
Er betrachtete nun aufmerksam die Fensterbrüstung und das außerhalb des Hauses herauflaufende Rebgeländer.
»Hm!« sagte er nach einer Pause halblaut. »Das sieht ja beinahe so aus, als wäre hier jemand aus- und eingestiegen! Das ist höchst sonderbar!«
Er schüttelte den Kopf, sah genauer hin, und wirklich zeigte sich die Mauer etwas abgeschürft, wie auch einige Zweige der jungen Reben zerdrückt waren.
Unter Umständen konnte dies wirklich von einem menschlichen Fuß herrühren, der hier auf- und abstieg.
Unmöglich war die Sache nicht.
Brak wandte sich unruhig um und durchforschte sein Zimmer.
»War es ein Dieb?« stieß er kurz über die Lippen und ein Zug der Habsucht trat für Augenblicke in sein Gesicht. Aber es war in der ganzen Stube nichts zu entdecken, was auf eine fremde Hand schließen ließ.
»Alles ist an dem gewohnten Platz – der Geldschrank verschlossen! Ha! Ich möchte auch den sehen, der diesen Schrank öffnen wollte! Trage ich doch selbst die Schlüssel am Leibe und nur ich und Luise wissen das bestimmte Wort, das zusammengestellt werden muß, um das Schloß zu öffnen.«
Es ließ ihn aber doch nicht in Ruhe, bis er sich überzeugt hatte, daß tatsächlich der Inhalt des Kassenschrankes unberührt blieb.
Während er abschloß, sagte er leise, nachdenklich:
»Wenn ich wüßte, daß mein Geld hier nicht mehr sicher liegen würde, ich möchte es lieber vergraben, als der Bank anvertrauen, die mich um alles brächte.«
Vorläufig beschloß er, seiner Tochter nichts von der gemachten, sonderbaren Entdeckung zu sagen, sondern in den nächsten Nächten ein wachsames Auge zu haben. Luise brauchte nicht geängstigt zu werden.
In diesem Augenblick trat die Genannte ein.
Es war ein sehr hübsches Mädchen von etwa achtzehn Jahren.
Seit die Mutter tot war, lebte Luise mit dem Vater in dem einsamen Hause.
Trotz seiner Schrullen wurde Brak von seinem Kind sehr geliebt und Luise hätte nie etwas Ernstliches gegen den Willen des Vaters unternommen, da ihr die väterliche Autorität beinahe über alles ging.
Sie machte sich deshalb auch großen Kummer, weil sie ihren Vetter Gollwitz, seines treuen, freundlichen Wesens wegen, lieben lernte, diese Liebe aber ängstlich vor dem Vater verbarg.
Da Heinrich arm war, durften die beiden nicht daran denken, Braks Einwilligung zu ihrer Verbindung zu erhalten. Dazu kannte Luise ihren Vater zu gut.
Es blieb den beiden nur die Hoffnung, daß ihnen Tante Fallner helfen würde, was diese auch versprochen hatte.
Brak erfuhr aber keine Silbe von all dem.
An ein Liebesverhältnis seiner Tochter mit dem von ihm nur aus Mitleid manchmal zu Tisch gezogenen Vetter dachte er schon gar nicht.
Luise sah diesen Morgen etwas bleich aus, und ihre Augenränder waren leicht gerötet.
»Willst du nicht zum Frühstück kommen, Vater?« fragte sie, nachdem sie Brak einen guten Morgen gewünscht.
»Ich komme gleich, Kind,« erwiderte Brak und folgte Luise in das große Wohnzimmer, wo der Frühstückstisch bereits gedeckt stand.
Als die beiden einander gegenübersaßen, fragte Brak plötzlich: »Was ist dir, Luise? Du siehst nicht gut aus! Hast du schlecht geschlafen?«
Das Mädchen erschrak sichtlich, antwortete dann aber gefaßt:
»Du hast es schon erraten, Vater, ich schlief nicht gut. Ich weiß selbst nicht, woran dies lag.«
»Hm! – Du bist auch jetzt noch unruhig, nervös?«
»Das leugne ich nicht,« stammelte, mehr und mehr verwirrt, Luise. »Aber sorge dich deshalb nicht, es wird ja vorübergehen und hat auch nichts zu bedeuten.«
»Doch! Es hat etwas zu bedeuten!« versetzte Brak erregt und legte seine Hand auf den Arm des erschrockenen Mädchens. Dabei sah er sich wieder geradezu scheu im Zimmer um.
»Ich verstehe dich nicht, Vater,« sprach Luise. »Oder willst du sagen, daß auch du schlecht geschlafen hast und den Grund weißt?«
»Ja – ja; das ist es!« rief Brak hastig. »Es liegt etwas in der Luft, etwas wie Unglück oder Schrecken. Ich möchte darauf wetten, nein, nicht wetten, ich weiß es gewiß. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß etwas geschehen ist, das uns sehr nahe angeht. Vielleicht erfahren wir es bald.«
Luise schüttelte den Kopf.
»Woraus schließest du das denn, Vater?« fragte sie.
»Das kann ich dir gar nicht so recht beschreiben, das liegt einzig im Empfinden, im Gefühl. Aber auf meinem Kopf lastet ein dumpfer, unheimlicher Druck. Ich weiß, daß diese Nacht etwas geschehen ist, aber ich weiß nicht was!«
»Du solltest einen Arzt zu Rate ziehen; dein Kopfleiden –«
Aber Brak fuhr heftig auf.
»Schweige damit, Luise! Ich bin ja nicht krank; wie oft noch soll ich es dir denn sagen? Ich bin vollkommen gesund, nur etwas nervös. Wer ist das nicht heutzutage? Aber gerade der nervöse Mensch hat Empfindungen, Gefühle, die einem anderen völlig fremd sind. Schon Nostradamus, Paracelsus sagen, daß es Geister gibt, die unsichtbar in der Luft ihr Wesen treiben und die Menschen ängstigen.«
Luise wollte eben etwas entgegnen, als die Glocke stark gezogen wurde.
Es war immerhin sonderbar, daß beide zusammenfuhren. Dann sagte Brak:
»Sieh einmal nach, wer kommt, Luise! Vielleicht erfahren wir schon jetzt, daß etwas geschehen ist.«
Luise erhob sich und ging hinaus.
Sie war etwas bleicher geworden. Hatte sie das sonderliche Wesen ihres Vaters angesteckt?
Oder hatte sie irgendeinen Grund, erschrocken zu sein?
Etwas wie eine bange Sorge beschlich sie, daß dieser Tag den Anfang einer Leidenskette bildete.
Sie stieg die Treppe hinab und öffnete die Tür.
»Heinrich!« entfuhr es ihr unwillkürlich, und sie wich in den Flur zurück.
Gollwitz trat rasch ein und zog die Tür hinter sich zu.
»Ich bringe eine erschütternde Nachricht, Luise!« stieß er, atemlos vom raschen Gehen, über die Lippen.
»Das sieht man dir an!« entgegnete Luise bebend. »Was ist denn geschehen?«
»Tante Fallner, unsere gute Tante ist tot!«
»Ach –!«
Luise fuhr mit beiden Händen über ihr bleiches Gesicht.
»Tot? Wie ist das möglich?« stammelte sie.
Noch immer heftig atmend, fuhr Gollwitz fort:
»Aber du weißt noch nicht alles, nicht das Entsetzliche, Grauenvolle. Die arme Tante ist ermordet worden!«
Diesmal schrie Luise nicht auf. Sie blickte starr den jungen Mann an.
»Er–mordet?« hauchte sie nur, als vermöge sie das Schreckliche noch nicht recht zu fassen.
Heinrich Gollwitz sah sich beinahe scheu um. Er fürchtete offenbar einen Lauscher.
»Ja – ermordet,« sagte er darauf hastig. »Was hilft es? Du mußt es ja doch erfahren, das Grauenvolle. Ermordet, erschlagen in dieser Nacht –«
Sie verstand ihn nun ganz.
Ein Schauer ging über ihren Körper.
Sie mußte sich mit der Hand an der Wand stützen, um nicht umzusinken.
»In – dieser Nacht?« kam es voller Entsetzen über ihre Lippen, und es mußte für Gollwitz etwas in dem Ton ihrer Worte liegen, das ihm plötzlich auffiel.
Von einem jähen Schrecken durchzuckt, faßte er Luise bei der Hand und fragte, mit gedämpfter Stimme:
»Woran denkst du, Luise? Sage mir um Gottes willen –«
»Ich muß an die Nacht denken,« keuchte zitternd das Mädchen.
In demselben Augenblick fuhr sie dann auch heftig zusammen. Oben war eine Tür gegangen.
»Der Vater!« rief Luise.
Gollwitz preßte ihre Hand.
»Weiß jemand, daß –«
»Nein, nein!« schüttelte sie heftig den Kopf.
»Und niemand darf es erfahren, Luise!« fuhr er beinahe keuchend fort. »Ein entsetzlicher Gedanke ist mir eben gekommen!«
»Ich – schweige!« stammelte Luise. Aber dabei fröstelte sie.
»Was gibt es denn, Luise?« rief ihr Vater von oben herab. »Wer ist da?«
Die beiden jungen Leute mußten sich der Treppe zuwenden. Auf deren oberster Stufe stand Brak in seinem Schlafrock und sah herab.
»Ah – Sie sind es, Gollwitz?« rief er einigermaßen verwundert. »Kommen Sie herauf. Was führt Sie denn zu so früher Stunde hierher?«
Er bekam nicht sogleich eine Antwort.
Langsam kamen die beiden jungen Leute nach oben. Brak bemerkte nun auch deren verstörte Mienen.
»Holla!« fuhr er auf, und es flackerte beinahe triumphierend in seinen tiefliegenden Augen auf, triumphierend, weil er mit seiner Weissagung allem Anschein nach recht hatte. »Da hat es etwas gegeben! In der Stadt – oder wo sonst? Sagte ich es nicht, daß etwas in der Luft liegt? Ich konnte es nur nicht recht greifen, aber es ist da, es ist da! Ich kann mich ganz bestimmt auf mein Gefühl verlassen!«
Wie eine Art wilde Freude klang es aus den Worten des sonderbaren Mannes.
Händereibend trat er in das Wohnzimmer, gefolgt von Luise und Gollwitz.
»Nehmen Sie Platz, Gollwitz,« rief er, »und dann schießen Sie los. Was hat sich ereignet? Sie sehen ja aus wie eine Leiche! Und du, Luise, liegst wie gebrochen im Stuhl!«
»O, es ist entsetzlich!« stöhnte das Mädchen.
»Entsetzlich? So! Was ist entsetzlich? Spannt mich nicht länger auf die Folter!« rief Brak und seine Finger zuckten nervös.
»Lieber Onkel,« antwortete Gollwitz mühsam; »nehmen Sie all Ihren Mut zusammen. Ein Mord ist geschehen!«
»Ein Mord?« fragte Brak kalt. Man sah ihm jedoch das Gezwungene an. »In dieser Nacht? Wann war es?«
»Die Zeit, wo das Gräßliche geschah, weiß ich nicht!«
»So! Es wäre mir aber interessant gewesen. Mir träumte in dieser Nacht von Blut – und Totschlag – aber alles wirr, undeutlich; ich weiß gar nichts mehr!«
Gollwitz, der in seiner Aufregung diese Worte Braks gar nicht dem Sinn nach beachtete, fuhr hastig fort:
»Was das Entsetzlichste ist, wir alle werden durch die Bluttat eines elenden Mörders auf das Furchtbarste betroffen, denn das Opfer ist –«
Brak war plötzlich aufgefahren.
Es flammte geradezu unheimlich in seinen dunklen Augen auf.
»Meine Schwester!« schrie er in jähem, leidenschaftlichem Ausbruch.
Einen Moment trat Stille ein. Gollwitz und Luise blickten voller Bestürzung den Sonderling an.
Brak hatte erraten, daß Gollwitz eben den Namen seiner Schwester nennen wollte.
Unmöglich konnte er das Gespräch vorhin im Flur unten belauscht haben. Er wäre nicht der Mann gewesen, sich daraufhin so zurückzuhalten.
Aber ebensowenig gab es den geringsten Anhalt, woraus Brak von sich selbst hätte schließen können, daß gerade seine Schwester dem Mordanschlag zum Opfer fiel, ja, niemand in der ganzen Gegend hätte dies vermuten können, denn Frau Fallner war allgemein beliebt und besaß, wie erwähnt, keinen Feind weit und breit.
Seinen unheimlichen Blick auf Gollwitz gerichtet, den einen hageren, aber sehnigen Arm starr vor sich haltend, als versuche er, etwas festzuhalten, das doch nicht zu sehen war, erwartete er die Antwort.
»Es ist so,« sprach Gollwitz endlich, nachdem er sich von seiner Bestürzung erholt hatte. »Die arme Tante ist es, die ihren Tod durch die Hand eines verruchten Mörders fand. Aber wie ist es nur möglich, daß Sie von selbst das Schreckliche erraten?«
Brak ließ sich in den Stuhl am Tisch gleiten und streifte sich mit beiden Händen über die Stirn, auf der ein leichter Schweiß stand.
Dabei zitterte er.
»Ich kann das nicht so erklären,« antwortete er halblaut, sichtlich erschüttert. »Es ist eben etwas in mir, das mich aufregte, ängstigte, das in der Luft schwebte und nicht gefaßt werden konnte. Und jetzt gerade, in diesem Augenblick, hatte ich es vor mir – Mord – und meine Schwester ist das Opfer! Ich sehe sie wie durch einen Schleier vor mir in den Kissen liegend. Die Nachtlampe brennt und ein Mann hebt die Hand zum Schlag –«
Er brach plötzlich ab, ein Ächzen drang aus seiner Kehle. Der Frost schüttelte ihn.
»Es war ein Traum; ich weiß es jetzt, ein wilder Traum, der mich derart ängstigte, daß meine Nerven diesen Morgen sich in höchster Erregung befanden und auf meinem Kopf eine Last wie von tausend Zentnern lag. Auf Genaues kann ich mich aber nicht besinnen; es ist wie ein wirrer Knäuel roter Fäden.«
»Seltsam!« sagte mit angehaltenem Atem Gollwitz. »Ich habe in meinem Leben nie etwas auf Träume oder Vorahnungen gegeben, ich gestehe es nun offen ein, jetzt aber bin ich bekehrt. Alles stimmt ja in schrecklich überraschender Weise. Frau Fallner wurde tatsächlich im Bett ermordet, und zwar erschlagen mit einem Hammer.«
Brak hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Nun war er kaum merklich zusammengezuckt.
»Mit einem – Hammer?« murmelte er.
»Ja, mit einem schweren Steinhammer, wie ihn die Arbeiter in den Steinbrüchen benützen,« sagte Gollwitz. »Der Mörder ist durch das Fenster eingestiegen, so wurde festgestellt.«
Wieder war Brak bei den letzten Worten zusammengezuckt, war es aus Schmerz, Erschütterung oder sonstiger Veranlassung.
»Sie haben gehört, was festgestellt wurde, Gollwitz,« sagte er dann, indem er die Hände von dem krankhaft bleichen Gesicht sinken ließ, »berichten Sie über das, was Sie wissen. Ich muß alles erfahren.«
Er nahm sich augenscheinlich gewaltsam zusammen.
Gollwitz erzählte, was er wußte, in hastigen Worten. Als er zu Ende war, seufzte Brak schwer.
»Arme Schwester!« sagte er.
Sein Blick hatte den starren, sonderbaren Ausdruck verloren und schimmerte feucht.
Darauf wendete er sich rasch dem Referendar zu.
»Sagten Sie nicht, daß der Wald-Sepp der Mörder sei, Gollwitz?« fragte Brak.
»Es wird wenigstens angenommen. Der Mensch besitzt einen schlechten Ruf, arbeitet hin und wieder in einem Steinbruch, und da auf dem Hammerstiel seine Namenszeichen stehen –«
»Er ist es!« fiel Brak ein. »Ich habe den Menschen nur einmal von weitem gesehen, aber er machte auf mich den schlechtesten Eindruck. Natürlich hat er es auf das Geld abgesehen? Er hat meine Schwester beraubt und wahrscheinlich das Geld schon irgendwo vergraben!«
Nun war es wieder die Habsucht, die Angst um das Vermögen der kaum toten Schwester, die aus Braks Worten sprachen.
Frau Fallners Vermögen mußte ja ihm und dem Bruder in der Residenz zufallen, wenn die Ermordete es nicht anders in einem zurückgelassenen Testament bestimmt hatte. Dies war nicht anzunehmen, wenigstens für Brak nicht, da er nicht das geringste von Frau Fallners Plänen in bezug auf Gollwitz und seine Tochter Luise ahnte.
»Sie irren sich, Onkel,« antwortete der Referendar, »obwohl der Schrank offen stand und die Gelder in größeren Beträgen frei dalagen, fehlt doch nicht das geringste davon.«
»Dann begreife ich die Sache nicht,« murmelte Brak. »Die Zimmer sind polizeilich verschlossen, sagen Sie? Da muß ich also warten, bis der Staatsanwalt am Nachmittag eintrifft, um meine arme Schwester sehen zu können. Lassen Sie mich nun allein, Gollwitz; ich brauche Ruhe, um mich bis zum Nachmittag erholen zu können von der furchtbaren Aufregung. Noch eines! Depeschieren Sie doch die schreckliche Mitteilung an meinen Bruder, den Polizeiinspektor. Wenn er nicht bereits vom Gericht aus benachrichtigt ist, wird er sicher diesen Nachmittag mit dem Staatsanwalt hierher fahren.«
Gollwitz hatte sich erhoben, versprach, sofort das Nötige zu veranlassen und verließ mit unsicheren, hastigen Schritten das Haus, nachdem er Luise noch vorher einen flehenden stummen Blick zugeworfen hatte.
Brak kam an dem Stuhl seiner Tochter vorüber.
Er blieb davor stehen und nahm das Mädchen bei beiden Händen.
»Wir haben einen schweren Verlust erlitten, Luise,« sprach er bewegt. »Ich weiß ja, wie sehr du die Tante liebtest, und auch ich hatte niemals einen Zwist mit ihr. Uns bleibt nur die Hoffnung, daß das Gericht recht bald den heimtückischen, verruchten Mörder finde und ihn der auf ihn wartenden Strafe zuführe.«
Und als Luise, aufschluchzend, die Hände vor das Gesicht schlug, streifte der Sonderling wie tröstend über den glänzenden Scheitel des Mädchens.
»Du mußt ruhig werden, Kind; was geschehen ist, das ist ja leider nicht mehr zu ändern. Ich will nun etwas ruhen, ich vermag mich ja kaum mehr auf den Füßen zu halten.«
Damit verließ Brak das Wohnzimmer.
Eine geraume Zeit blieb Luise ohne Bewegung in dem Stuhl liegen.
Der Schrecken und die Angst schüttelten sie.
»Und gerade in dieser Nacht!« stöhnte sie leise, als scheue sie sich, von einem menschlichen Ohr gehört zu werden. »Aber nein, der Gedanke ist ja wahnsinnig. Wie komme ich nur darauf! Aber Heinrichs Worte! Ich bringe sie nicht aus dem Kopf. Es war zwölf Uhr, als er ging. Ich weiß es genau, denn die Glocke vom Martinsturm schlug an – wann ist die arme Tante getötet worden?«
Luise machte plötzlich mit beiden Händen eine heftige Bewegung der Abwehr, als dringe eine giftige Fliege auf sie ein.
Dann erhob sie sich und verließ ebenfalls das Zimmer mit wankenden Knien.
»Ich bin ja toll – toll!« murmelte sie.
Peter Brak mußte, wenn er nach seinem Schlafzimmer ging, durch die sogenannte Arbeitsstube.
Er blieb eine Weile vor dem Tisch stehen. Mit den hageren Fingern rieb er sich die Stirn.
»Sonderbar, höchst sonderbar, daß ich davon träumte,« murmelte er. »Und alles stimmt, wenigstens in der Hauptsache, wenn ich auch keinen rechten Zusammenhang in meine Gedanken bringen kann! Sie springen und schießen alle wirr durcheinander. – Und nun soll mir noch ein Mensch behaupten, daß es nicht Dinge im Geistesleben des Menschen gibt, die unerklärlich, rätselhaft sind.«
Er legte wie liebkosend seine Hand auf die Bücher, die er gerade in letzter Zeit durchgelesen hatte und studierte.
»Ich glaube an euch und die geheimen Satzungen, die ihr aufstellt,« sagte er.
Darauf wandte er sich wieder dem Fenster zu und beugte sich über die Brüstung.
Über das dichte Buschwerk seines Gartens hinweg hatte er eine Fernsicht auf den sich stundenweit hinziehenden Forst.
»Da drüben, kaum eine halbe Stunde von da entfernt, soll der Wald-Sepp mit einem Weib in der Hütte beim gelben Steinbruch hausen. Hat mir nicht vor ein paar Tagen unsere Magd erzählt, daß der Pfarrer von der Kanzel herab gegen den sittenlosen, verwahrlosten Menschen donnerte, der keine Kirche besuche und da draußen im Wald mit dem gleichgesinnten Weibe hause, der Busch-Kathrin, wie sie genannt wird?
Ich hätte die Wirtschaft dieser Auswürflinge gern einmal im Geheimen betrachtet, so etwas interessiert mich immer, das hat seinen eigenen Reiz. Aber daraus kann nichts werden, das Ding ist zu gefährlich, wir haben ja den Beweis. Der Sepp ist zum Mörder geworden, warum, das weiß ich zwar nicht, das wird sich aber ja finden.«
Brak schwieg einen Moment, um alsdann desto eifriger fortzufahren.
»Der Mörder stieg durch das Fenster in die Schlafstube – hm – wenn Sepp auch hier bei mir eingestiegen wäre?«
Brak bückte sich und machte sich an eine Untersuchung des Bodenteppichs.
»Da sind ja schwache Fußspuren – gelber Sand, wie er im Forst und um die Steinbrüche herum zu finden ist. Es ist kein Zweifel mehr, der Mörder war auch bei mir. Er konnte ja verhältnismäßig leicht an der Mauer heraufklettern. Aber was wollte er denn hier? Mich etwa auch ermorden, berauben?!
Mein Schlafzimmer liegt hier nebenan, und die Tür ist stets offen. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, mich so gut im Schlaf zu erschlagen, wie er es mit meiner unglücklichen Schwester tat. Aber ich hörte nichts, ich bin gar nicht aufgewacht. Vielleicht ist er wieder fort, nachdem er eingesehen, daß der Schrank hier nicht so ohne weiteres zu öffnen ist, und für die Zukunft will ich vorsichtiger sein, alles verschließen, Tür und Fenster zur Nachtzeit, und die Schrankschlüssel an meinem eigenen Körper aufbewahren. Denn eingestiegen ist ein Mensch – durchs Fenster – mit dem Hammer –«
Die Logik seiner Gedanken schien hier eine Unterbrechung zu erleiden.
Brak schwankte, sich mit den Händen an den Möbeln stützend, nach seiner Schlafstube und ließ sich auf sein Bett fallen.
Eine lähmende Müdigkeit schien ihn befallen zu haben.
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