Paul Scheerbart
Die wilde Jagd
Paul Scheerbart

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LUST!

Geister, die sich lange nicht bewegen konnten, bewegen sich wieder.

Und jetzt wollen sie wieder selbständig werden, um noch anders die Welt genießen zu können; nicht hoffen sie mehr, Götter zu werden – doch sie hoffen immer noch, was andres zu werden.

Und wenn sie was andres geworden sind, dann wollen sie erst mal wieder genießen – anders genießen – anders – eine andre Welt.

Alles Göttliche wird im fernen Hintergrunde auch immer wieder anders – bald größer und bald kleiner.

Und während sich die Geister recken und drehen und den Kopf nach allen Seiten biegen, sehen sie, wie im weiten gelben Himmel unzählige blutrote Sterne aufleuchten. Doch die blutroten Sterne stehen nicht still; sie fliegen herum, wie Fliegen im Sonnenschein hin und her zucken – und nur zuweilen fest bleiben in der Luft, um noch heftiger hin und her zu zucken.

Beim Anblick der zuckenden Sterne glauben die Geister, daß sie fühlen, wie ihre Selbständigkeit langsam aufkeimt, und ihnen wird so stolz zu Mute, als wenn sie flott in die Unsterblichkeit segeln dürften.

Die Geister gruppieren sich kegelförmig, so daß sie zusammen eine runde nach unten offene Tüte bilden. Hoch oben auf der Spitze steht Knipo.

Mattgrau sind die Geister, ihre Gewänder werden steif und kriegen grade regelmäßige Falten; die Köpfe heben sich höher, so daß die Hälse länger werden. Die Hälse werden sehr beweglich, und auf den Köpfen bilden sich glänzende Opalaugen, so daß die Geister viel mehr seher als bisher.

Die Geistertüte dreht sich – ganz langsam.

Und am gelben Himmel, in dem die blutroten Sterne immerzu hin und her zucken wie Fliegen im Sonnen schein, entwickelt sich ein buntes Lampenfest, was sehr seltsam wirkt, da's ganz hell bleibt.

Zunächst entstehen weiter unten ringsum in der Runde große hellblau leuchtende Pyramiden; sie bilden einen weit abstehenden Pyramidenkranz um den runden hohlen Fuß der Geistertüte.

Und über den hellblauen Pyramiden entstehen dunkelblaue Riesenoktaeder; diese bilden einen noch weiter abstehenden Kranz, der sich noch tiefer in den gelben Welthimmel hineinschiebt.

Und aus diesen unteren hellblau und dunkelblau leuchtenden Lampenkränzen schießen hellgrüne und dunkelgrüne Raketen hoch in die gelbe Himmelshöhe und bleiben und vereinen sich in einem dicken Punkte hoch, hoch über Knipos Kopf, daß die Geister die Empfindung haben, sich inmitten einer Kranzkrone zu befinden.

Und die hellblauen Pyramiden und die dunkelblauen Oktaeder drehen sich unten, und mit ihnen drehen sich die hellgrünen und dunkelgrünen Raketen. Die Raketen bestehen aber aus lauter leuchtenden kleinen Kugeln, die sich auch drehen und wie hellgrüne und dunkelgrün Perlen schimmern und spiegeln.

Zwischen den grünen Raketen zucken noch wie anfangs auf dem gelben Himmelsgrunde die blutroten Sterne wie Fliegen im Sonnenschein hin und her.

Und dieser sich drehende Raketenkorb verwirrt die Geister, die mit ihren Opalaugen in der Mitte stehen wie eine schlanke Kirchturmspitze.

Es ist aber sehr still im weiten All.

Und Knipos Stimme erschallt und sagt laut von oben herunter: »Wohl dem, der sich niemals wundert über die Wunder der Weltbewegung. Wohl dem, der ruhig alles hinnimmt wie ein Geschenk – und nicht mehr haben will. Und ich weiß, daß es Geister gibt, die so viel haben, daß sie gar nichts damit anzufangen wissen – und dennoch immer mehr haben wollen. Ich weiß das und wundre mich auch darüber nicht.«

Knipos Stimme hallt weithin – wie die Stimme eines Predigers in der Wüste.

Die Pyramiden, die Oktaeder und die Raketen bleiben wohl an ihrer Stelle – aber sie drehen sich ohne Unterlaß vor dem gelben von roten Sternen durchzuckten Himmel um sich selbst.

Und helle weiße Sporen, die Sicheln ähneln, springen überall aus den hellgrünen und dunkelgrünen Raketen heraus.

Und die weißen Lichtsicheln machen alles so furchtbar hell, daß die gelben, roten, blauen und grünen Farben fast dunkel erscheinen – und daß wieder die Spinngewebefäden, mit denen die Geister an ihre Sterne gebunden sind, sichtbar werden.

Die Fäden glitzern im hellen Licht und gehen nach allen Seiten durcheinander; sie gehen auch nach oben und nach unten – kreuz und quer.

Und die Fäden glitzern so perlmutterbunt im hellen weißen Sichellicht.

Und die Raketen recken sich höher und höher empor, daß sie auch zusammen einen runden Kegel bilden, dessen auch schlanke Spitze eine unermeßliche Höhe erreicht.

Und nun dreht sich dieser ganze Raketenkegel wie die Geistertüte langsam um sich selbst. Und dabei drehen sich auch noch die einzelnen Raketen um sich selbst, daß die weißen Lichtsicheln nur so blitzen.

Die blauen Pyramiden und Oktaeder drehen sich mit dem Raketenkegel mit und auch noch um sich selbst – um sich selbst drehen sie sich noch schneller als bisher.

Und alles dreht sich allmählich immer schneller, daß die Geister den gelben Himmel mit den roten Sternen bald nur noch als zuckende Streifen empfinden.

Und die Geister können dieses sich drehende Lichtspiel nicht verfolgen – trotzdem sie so viele Opalaugen haben.

Und sie wollen doch das farbige Lichtspiel – dieses himmlische Lampenfest – genießen – und sie können's doch nicht fassen – es geht ihnen alles um und um.

Und trotzdem erfüllt das Lampenfest die ganze Geistertüte mit wundersprühender Lust.

Und Knipos Stimme wird nochmals oben hörbar- sie sagt jetzt etwas hastig: »Grade das Verwirrende erzeugt doch den Gipfel aller Lebenslust. Grade dort, wo wir nicht mehr folgen können, fängt der große Rausch an, der uns ganz und gar durchglüht.«

Da fragt eine kleine wispernde Stimme aus der Geistertüte: »O Knipo, sage bloß, wo hast Du alle Deine Weisheit her?«

Knipo erwidert nach einer Pause melancholisch: »Das weiß ich nicht.«

Und dabei erinnert er sich an leuchtende Nixen und an ein Bahnwagenverdeck, an rasselnde Schienen und lachende Kugelsterne – aber seine frühere Zeit erscheint ihm ganz voller Nebel.

Leise fragt er: »Was war ich, als man von der großen Wettfahrt noch nichts wußte?«

Und wieder wispert's aus der Geistertüte heraus und spricht kichernd: »O Knipo, Du wirst wohl geölt haben – die Maschinen.«

»Nein«, tönt's von oben zurück, »ein schwarzer Diener war ich nicht. Ich glaube jetzt aber zu wissen, woher wir alle unsre Weisheit her haben: von den Sternen, an die wir immer noch gefesselt sind, müssen wir unsre Weisheit her haben.

»Haben wir«, fragt da wieder unten eine kichernde Stimme,» auch unsre Dummheit von den Sternen her?«

Und Knipo entgegnet zum zweiten Male melancholisch: »Das weiß ich nicht.«

Die Raketentüte dreht sich langsamer und wird wieder durchsichtig – und goldene und silberne Schlangen ringeln sich um die grünen Raketen und lassen sich herunter und schnappen nach den dunkelblauen Oktaedern und nach den hellblauen Pyramiden.

Und die Geister der Tüte erinnern sich an lauter verworrene Geschichten, die sie früher mal erlebt zu haben glauben – und die Geschichten ringeln sich wie Schlangen um ihren Hals – und die Luft wird ihnen verwirrend.

Und sie wollen das Verwirrende abschütteln und darum wieder selbständig werden, da sie glauben, daß die Selbständigkeit alles klar und übersichtlich machen müsse.

Und die Geister verfluchen die unzähligen Spinngewebefäden, die sie nicht zerreißen können – die so dehnbar sind – und die sich jetzt teilweise um die goldenen und silbernen Schlangen wickeln; währenddem fühlen die Geister, daß ihr Hals wieder frei wird und die Luft besser.

Doch Knipo wird höhnisch und ruft hart durch die stille Luft: »Wenn ich nicht irre, sind selbständige Leute gar nicht fähig, zu genießen. Jedenfalls kann die Selbständigkeit den Genuß nicht erhöhen. Der eigentliche Genuß beginnt immer erst da, wo die Klarheit aufhört – das ist nun mal meine Meinung. Wo aber die Klarheit aufhört kann von Selbständigkeit nicht mehr viel die Rede sein. Demnach bin ich wohl im Recht, wenn ich behaupte, daß die selbständige Herrlichkeit eine wenig erbauliche Sache ist.«

Da werden die Geister so wütend wie alte Hetären und reden alle übereinander weg wie Kinder, die aus der Schule kommen.

Schließlich bringt eine rauhe Stimme den Lärm zun Schweigen und sagt zornspritzend: »Knipo, Du erlaubs Dir da oben, lauter dummes Zeug zu reden und das für Weisheit zu erklären. Deine alte Manier! Aber wenn wir diese Lichteindrücke nicht in uns aufnehmen können werden wir sie nicht genießen. Was sollen wir mit der Verworrenheit anfangen? Was nützt es uns, wenn uns die ganze Welt ewig und immer als ein großes sinnloses Lichtspektakel erscheint?«

»Hoho!« ruft da Knipo hoch oben, »nur die Gebrechlichkeit unsrer Aufnahmefähigkeit ist der Grund aller Weltverworrenheit. An unsern Sinnen liegt es, daß uns die Welt so verworren erscheint – die Welt selbst ist es gar nicht.«

»Aha!« wispert da wieder eine kleine Stimme in der Geistertüte, »also haben wir doch Ursache zu wünschen, daß sich unsre Sinne verändern. Es muß wahrhaftig alles anders werden – vergöttlichen müssen sich unsre Sinne! Ich werde schon zufrieden sein, wenn bloß meine Sinne göttlich werden – ich selbst will schon ruhig bleiben, was ich bin.«

Das Lichtfest ist so still, obgleich sich die Raketentüte mit den Schlangen, Pyramiden und Oktaedern allmählich wieder schneller dreht.

Und Knipo sagt langsam: »Vielleicht sind unsre Sinne bloß deswegen so unvollkommen, damit wir nicht alles auf einmal aufnehmen. Wir müssen uns doch was für spätere Zeiten aufbewahren. Vielleicht werden unsre Sinne immer vollkommener. Die Weltbilder sollen uns wahrscheinlich erst allmählich in ihrer ganzen Großartigkeit zugänglich werden.«

Da lachen sehr viele Geister in der Tüte laut auf und schreien: »Das ist ja grade unsre Meinung schon seit Olims Zeiten! Deshalb wollen wir doch Götter werden!«

Und alle rufen zusammen mit ihrer ganzen Lunge: »Wenn wir doch erst Götter wären!«

»Wenn wir doch erst Götter wären!«

Knipo aber spricht ärgerlich: »Ihr scheint den Wert der Gegensätze nicht zu begreifen. Die besten Sinne sind für uns so gut wie wertlos, wenn wir nicht die weniger guten kennengelernt haben. Ihr wollt, daß alles gleich vollendet da sei – während doch die langsame Entwicklung zum immer Besseren viel köstlicher ist als das Beste ohne Gegensatz und ohne Entwicklungsfähigkeit.«

Die Geistertüte steht still – und die Raketentüte steht auch still.

Und die kleine wispernde Stimme ruft so laut, daß es energisch klingt: »Wir sind auf der wilden Jagd nach dem großen Diadem der Gottheit, und Knipo soll uns nicht in die Zügel fallen.«

Die weißen Lichtsicheln werden von den silbernen und goldenen Schlangen verschlungen.

Und es wird den Geistern vor ihren Opalaugen alles sehr dunkel.

Die Fäden verschwinden in ein paar Augenblicken.

Und die Raketentüte steigt mit den Schlangen, Oktaedern und Pyramiden hoch empor und wird bald unsichtbar oben in der dunkleren Höhe.

Der Himmel wird ganz schwarz in ein paar Augenblicken.

Jetzt aber leuchten die Geister selber und erschrecken, wie sie sich so leuchten sehen.


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