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Hoch oben auf dem Mittelturm der Sternwarte schaut der Sterndeuter Abu Maschar durch ein dreieckiges Blechrohr zum schwarzen Saturn.
In seinem weißen Beduinengewande steht Abu Maschar da oben unter den Sternen wie ein Gespenst. Ein pechschwarzer Vollbart wallt ihm bis auf den ledernen Leibgurt hinab. Zur Rechten und zur Linken des Sterndeuters stehen hohe wunderliche Meßgeräte. Auf dem alten sehr breiten Holzgeländer sind lange Papierstreifen – mit Bleistücken beschwert – ausgebreitet. Und uralte vergilbte Bücherrollen liegen am Boden.
Abu Maschar murmelt was in seinen schwarzen Bart, er murmelt in einer unverständlichen Sprache, die wohl nur die Bürger Alt-Babylons verstanden hätten. Er schreibt dabei Zahlen auf einen der langen Papierstreifen und blickt dann stolz nach allen Seiten umher – in die große funkelnde Sternenwelt. In seinem braunen Antlitz leuchten die großen schwarzen Augen unheimlich auf, sie starren in das tiefe Himmelsblau, als wenn sie Geister sähen... Abu Maschar steht still – gebannt – wie eine Bildsäule.
Die Sternwarte war eigentlich eine Ruine.
Bald nach Mamuns Tode hatten sich Räuber der Sternwarte bemächtigt, da nach Mamuns Tode fast Niemand mehr Geld für die Himmelskunde erübrigen wollte.
Als man nun später dahinterkam, daß sich in den fünf Türmen, auf denen sonst nur gelehrte Männer emsig arbeiteten, Räuber verborgen hielten, ward das prächtige Bauwerk von den Soldaten eines arabischen Hauptmanns gestürmt. Und bei diesem Sturm stürzten zwei Türme um und begruben viele Räuber und Soldaten unter ihren Trümmern. Auf dem Schutt wächst jetzt Gras mit wilden Blumen.
Die Türme hatten einen Halbkreis gebildet und waren durch vier schwere Holzbrücken miteinander verbunden; von diesen überlebten nur zwei den Sturm des Hauptmanns.
Vom Mittelpunkte der durch die fünf Türme gegebenen Kreislinie aus hatte eine mit Backsteinen erbaute feste Treppe fast bis zur Spitze des Mittelturmes geführt. Diese Treppe war bei dem Kampf mit den Räubern auch über den Haufen geworfen worden.
Über den Trümmern der Treppe wächst nun gleichfalls Gras.
Nur das oberste Stück der Treppe hängt noch wie ein Widerhaken oben am Mittelturm, auf dem Abu Maschar wie eine Bildsäule dasteht.
Die beiden andern Türme erreichen nicht dieselbe Höhe wie der, welcher einst der mittlere gewesen; der diesem zunächst gelegene sieht sogar recht niedrig aus – dafür geht er allerdings mehr in die Breite, befindet sich doch in seiner Spitze der große Empfangssaal, in dem die Astronomen einst von Mamun die fürstlichen Geschenke empfingen.
Auf dem großen fünfeckigen Altan, der vor dem Empfangssaal hoch über den Palmen in den Garten hinausragt, spricht der berühmte Astronom Al Battany mit Jakuby, dem großen Weltreisenden, über die Wissenschaft...
Al Battany hat die Sternwarte wieder bewohnbar gemacht. Mit seinen wissenschaftlichen Instrumenten sitzt er oft im dritten der drei noch übrig gebliebenen Türme. Im Empfangssaal pflegt er seine Freunde zu empfangen, die dort gern aus- und eingehen und besonders gern auf dem fünfeckigen Altane weilen, der sich auf der Außenseite des durch die drei Türme beschriebenen Kreisabschnittes befindet.
Der Empfangssaal mit dem Altan wird von den bedeutendsten Männern Bagdads besucht. Die Freunde des reichen Battany, der sich, wenn er allein sein will, in sein nicht weitab am Tigris gelegenes Landhaus begibt, sind zum größten Teil nicht sehr wohlhabend – das aber beeinträchtigt ihre Bedeutung nicht im Geringsten. ...
In der Tiefe des Gartens unterm Altan und zwischen den Trümmern reiten zwei Mongolen mit langen Lanzen auf schäumenden Rossen langsam fast schleichend auf und ab. Die gelben Mongolen mit ihren blanken Helmen wachen in jeder Nacht, aufdaß kein Unberufener feindselig nahe. Die Mongolen stehen im Solde des reichen Al Battany, der auch ein Dutzend schwarzer Sklaven in den unteren Gelassen der Türme verteilte. Hunde sind aber nicht da.
Tiefernst ist das Gespräch zwischen dem großen Astronomen und dem großen Weltreisenden, der Jakuby heißt. Die Beiden ergründen oben auf dem fünfeckigen Altan die Bedeutung der arabischen Literatur.
Der Battany schließt eine längere Auseinandersetzung über Bagdads Gelehrtenwelt mit den folgenden heftigen Worten:
»Überhaupt – was weißt Du von unsren wissenschaftlichen Bestrebungen? Du pilgerst durch alle Länder und schreibst Dir Alles auf, was Du hörst und was Dir grade zufällig dicht vor die Nase geführt wird. Was verstehst Du von Bagdader Zuständen und Verhältnissen? Garnichts – mehr als Garnichts, denn Du pflegst Alles falsch aufzufassen. Der berühmte Geograph Jakuby denkt natürlich garnicht daran, daß er sich jemals irren könnte – ih, wo wird er denn! Du bist beneidenswert!«
Und bei diesen Worten hob der Astronom bald den rechten bald den linken Arm bald beide Arme zugleich höchst malerisch – wenn auch etwas zu schnell – in die Höhe. Malerisch sah das aus, weil bei dieser Armbewegung eine dunkelblaue Sammettoga mit dicker Goldstickerei prächtige weit aufschweifende Falten warf. Der Astronom verehrte sehr die alten Griechen; er hatte sich ganz abenteuerliche Vorstellungen von dem wissenschaftlichen Geist des Aristoteles gebildet, sodaß er schließlich nicht umhin konnte, eine dunkelblaue Sammettoga mit dicker Goldstickerei zu tragen. Den Aristoteles kannte der Gelehrte natürlich nur vom Hörensagen – er verstand nicht einmal so viel syrisch, um den alten Griechen in syrischen Übersetzungen zu lesen – geschweige denn im Urtext...
Daher durfte man sich auch nicht wundern, daß der berühmteste Astronom Bagdads gleichzeitig eine indische ganz mit Gold überstickte Kappe, die so rund und klein wie ein flacher Suppentopf war, auf dem Kopfe trug.
Battanys Kopf – ja – der hatte so was vom Neger und was vom Inder; sehr fein sah er nicht aus, aber trotzig straff – die Nase dick und klein, die Augen heftig und nicht groß, der Mund voll und die Ohren abstehend... neben der dicken braunen Nase gingen tiefe Falten zu den Backenknochen hinunter, die dunkelbraune Stirn schien sehr hoch, da die indische Kappe fast im Nacken saß.
Viel freundlicher schaute dagegen der Jakuby in die Welt. Dessen Gesicht lächelte unter einem hellila Seidenturban. Spitz ragte die braune Nase unter diesem Turban hervor. Ein kleines graues Spitzbärtchen zierte das Kinn. Der Bart auf der Oberlippe und auf den Backen war sorgfältig abrasiert, sodaß die braune schon vielfaltige Gesichtshaut eigentümlich zur Geltung gelangte.
Jakuby hatte was Eigenes, das durch seinen sauberen schwarzen Seidenkaftan noch erhöht wurde.
Der kleine zierlich gebaute Gelehrte erwiderte nach sehr langer Pause mit feiner heller Stimme in jener überlegenen Art, die in den Moscheen beim gelehrten Gespräch üblich zu sein pflegte:
»Oh mein lieber Freund! Deinem heftigen persönlichen Angriffe will ich aus dem Wege gehen. Doch hör nur dieses: Wir Araber haben nun bald die ganze Welt erobert, erobert mit der scharfen Damaszenerklinge. Jetzt, dünkt mich, ist es an der Zeit, die Welt auch in andrer Weise zu erobern. Nicht dürfen wir mehr mit den Augen des Kriegers, die Alles nur besitzen wollen, die Welt durchstreifen. Wir müssen mit wissensdurstigen Augen durch die Länder wandeln und Alles kennen lernen – Alles, was da kreucht und fleucht. Auch der gelehrte Mann kann erobern – erobern, indem er sein Wissen bereichert. Deshalb habe ich mit meinen schwächlichen Gliedern meine großen Reisen unternommen – einerseits durch Ägypten und Afrika bis nach Spanien, andererseits durch Persien und Indien bis nach China. Und Jedermann weiß, daß mein Buch der Länder, das ich im vorigen Jahre herausgab, wirklich ein Werk wurde, das auch den, der niemals über die Mauern Bagdads hinauskam, mit allen Ländern der Erde bekannt machen muß. Das »Buch der Länder« weist ja noch viele Lücken auf, aber es ist doch in diesem Werke eine unvergleichliche Sammlung von Wissensschätzen angehäuft...«
Nun aber kann sich der heftige Astronom nicht mehr halten, er unterbricht den redseligen Freund mit hocherhobenen Armen: »Sammlung?« schreit er, »hab ich's nicht gleich gesagt, daß Du keine Ahnung von unsren wissenschaftlichen Bestrebungen hast? Ja wohl – sehr richtig! Unsre Zeit leistet was in Sammelwerken. Wir sammeln alle unsre Kenntnisse, als hätten wir nichts Andres zu tun. Und ein einziges Buch soll immer Alles umfassen – natürlich! An Selbstbewußtsein fehlt es unsern gelehrten Sammlern nicht. Wir tun so, als hätten wir garnicht mehr nötig – noch fürderhin zu forschen, zu ergründen oder klarzustellen – ih wo! Jeder Gelehrte glaubt, wir hätten bereits Alles begriffen und vollkommen erklärt – – – und es wäre heute nichts Anderes nötig als Sammeln – Sammeln – Sammeln!«
»Laß nur den Spott!« gibt da Jakuby lächelnd zurück, »hör nur dieses: Sind nicht die Geographen und Astronomen die Hauptgelehrten unsrer Zeit? Die Einen erforschen die Erde, die Andern den Himmel. Ist es nicht so?«
Battany nickt und wird milder.
Jakuby aber fährt jetzt mit stolz erhobener Nase fort: »So, mein Freund! Wer hat nun Recht? Wenn somit die Geographen und Astronomen die ganze Welt kennen lernen wollen – müssen sie da nicht sammeln? Müssen sie nicht? Müssen wir nicht Sammelwerke schreiben? Mein ›Buch der Länder‹ nenne ich mit Stolz ein Buch, das alles Wissenswerte der Erde zusammenfaßt.«
Battany wird unwillig; es kommt ihm so vor, als sei er plötzlich in die Enge getrieben. Er hustet verlegen, stützt sich mit dem rechten Unterarm auf das Geländer des Altans, blickt in den Garten hinunter, in dem die Mongolen langsam herumreiten, hustet wieder, um den Jakuby am Weitersprechen zu hindern, sammelt sich und sagt dann hastig:
»Nein – so ist es nicht. Umgekehrt ist es. Weil die Araber eigentlich überhaupt nur Sammelwerke schreiben, deswegen spielen die Geographen und Astronomen, deren Tätigkeit am meisten zum Sammeln verleitet, eine so große Rolle unter uns. Aber wir haben noch gar kein Recht zum Sammeln. Ans Sammeln darf man erst denken, wenn man eine Unmenge erforscht, entdeckt und begriffen hat. Wir haben aber noch lange nicht so viel wissenschaftlich feststehende Tatsachen erkannt, um die jetzt schon sammeln zu können. Du fragtest mich vorhin nach der Mondfinsternis. Siehst Du sie schon? Sie müßte nach meinen Berechnungen da sein – und sie ist noch nicht da. Ich habe genau gerechnet – und die Mondfinsternis ist doch nicht da. Ich stehe als Astronom immer vor unzähligen Fragen, die ich nicht beantworten kann – und trotzdem soll ich sammeln? Was denn? Etwa meine Fragen?«
Und unter den kräftigen Armbewegungen zitterte der ganze Leib des Astronomen.
Der Halbmond stand unglaublich ruhig da, ohne sich zu verfinstern. Nur der große Al Battany verfinsterte sich.
Jakuby allerdings glich eher in seiner Ruhe dem Halbmonde, wenn auch sein spitzes Gesicht durchaus nichts Mondartiges an sich hatte. Mit dem Gleichmut eines unüberwindlichen Siegers bemerkte er mit seiner hellen Fistelstimme so von oben herab:
»Du magst sagen, was Du willst! Die Geographen und Astronomen sind dennoch die größten Gelehrten, die man sich denken kann. Wir wollen eine ganze Welt kennen lernen, eine ganze Welt wissenschaftlich in uns aufnehmen. Wir stehen vor der größten Aufgabe, die man sich denken kann. Und wir werden diese Aufgabe überwältigen – wir haben sie bereits zum größten Teil überwältigt. Ich erinnere Dich nur an mein Buch der Länder...«
»Hör auf!« schreit Battany dazwischen, »Du bist und bleibst beneidenswert. Aber Du bist auch ein Kind. Du weißt garnicht, was in der Welt vorgeht. Du hast von der Welt keine Ahnung. Du willst eine Welt begreifen? Lächerlich! Albern! Was man nicht Alles wollen kann! Ein Prahlhans bist Du mit Deinem Wollen. Du erinnerst mich an einen Vielfraß, den unser Dichter Safur sehr schöne Verse sprechen ließ. Paß mal auf! Der Vielfraß sagt, als er hungrig zwar doch so prahlerisch wie ein echter arabischer Gelehrter in eine große Gesellschaft kommt, die mit der Mahlzeit beinahe fertig ist, also:
Weiß Allah, wann Ich mich mal verschnauf!
Ich aß heut schon hundert Hammel auf,
Verdaute sie gleich im Dauerlauf
Und löschte den Durst mit dem ganzen Nil;
Mir stak mang den Zähnen manch Krokodil;
Ihr nennt das doch hoffentlich nicht zu viel –
Mehr kann ich trotzdem noch essen.«
Und der Astronom steht breitbeinig da und brummt.
Jakuby macht ein verblüfftes Gesicht und versteht nicht, was Battany sagen will. Der indessen erklärt gleich, indem er fortfährt: »Du mußt eben nicht vergessen, daß unserm Können denn doch so manche Grenzen gezogen sind. Daß wir uns oft verrechnen – das ist noch nicht das Schlimmste. Du willst die ganze Welt kennen lernen. Nun sag' aber mal – ganz leise – unter uns! Ist Dir das auch von unserm Kalifen ausdrücklich erlaubt? Darfst Du das? Wir hier in Bagdad wissen sehr genau, daß der Kalif uns gar nicht erlauben will, der Wissenschaft so obzuliegen, wie wir möchten; denken und schreiben sollen wir eigentlich nicht. Wenn wir aber das nicht mal sollen, sind wir dann noch die ›größten‹ Gelehrten?«
Und nun streiten die Beiden nicht mehr über Sammeln und Forschen – sie flüstern nur noch ganz leise, zischeln sich immer wieder was ins Ohr – was von der Kalifenburg, von der Verfolgung der freien Wissenschaft und ähnlichen halb heiteren halb traurigen Dingen.