Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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22. »Dich, Hekate, nun ruf' ich an!«.

Alle Anstalten zur Flucht waren getroffen.

Robert hatte zu diesem Zwecke viel mit Twerenbold verkehrt und war dadurch zu diesem in ein Verhältnis geraten, welches er noch vor kurzem für ganz undenkbar gehalten hätte.

Es ging auch hier, wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, wenn der Mensch die Kreise einmal überschritten, in welchen die Zauberformeln der sozialen Institutionen ihn gebannt hielten. Da reiht sich denn Außerordentliches an Außerordentliches, was unmöglich geschienen, wird wirklich, ein Ausnahmefall zieht zehn andere nach sich, und zuletzt wird das ganze Dasein exzeptionell und abenteuerlich. Seit im Glurital die Runs gegangen, war an die Stelle des Abscheus, womit der junge Mann Twerenbold zuvor betrachtet hatte, eine Art Sympathie getreten, welche der Abenteurer geschickt zu nähren wußte, besonders dadurch, daß er, wo immer sich Gelegenheit bot, für Thekla die tiefste Ehrerbietung an den Tag legte. Auch bestach er durch seine auf genauester Anschauung beruhenden und mit einer gewissen humoristischen Sorglosigkeit vorgetragenen Schilderungen transatlantischer Natur und Lebensweise.

So konnte er sich denn begründete Hoffnung machen, daß sich die beiden seine Begleitung auf ihrer Reise übers Meer gefallen lassen würden. Und daran lag ihm viel, alles vielleicht, denn er hatte bald bemerkt, daß er sich in das eintönige Leben in der Heimat schlechterdings nicht mehr finden konnte und daß ihm rascher Wechsel der Szenen, ein abenteuerliches Hin- und Hergeworfenwerden auf den Wogen des Lebens zum Bedürfnisse geworden. Robert ging um Theklas willen bei seinen Vorbereitungen mit großer Umsicht und Sorgfalt zu Werke. Er wollte der Geliebten jeden schroffen Übergang aus ihrem bisherigen vornehm bequemen Leben in eine neue Existenz nach Möglichkeit ersparen.

Der alte Andres war aus der Hauptstadt zurückgekehrt, nachdem er sein dortiges Geschäft zur völligen Zufriedenheit seines Herrn abgemacht. Robert hatte es für das Klügste gehalten, dem treuen Alten sich anzuvertrauen, um so mehr, da demselben doch nicht entgehen konnte, wie die Sachen standen. Andres entsetzte sich zwar im ersten Augenblick über die Absicht seines Herrn und entwickelte eine mehr als wachtmeisterliche Beredsamkeit, um jenen von dem Unerhörten abzubringen. Natürlich ohne irgendwelchen Erfolg, und nun erwies er sich wirklich als einen Diener, welcher seinem Herrn mit Leib und Seele ergeben ist. Er beachtete nur noch das eine, daß sein Herr seiner bedurfte und in einer Lage sich befand, aus welcher er herausgerissen werden mußte. So ließ er sich denn ohne weiteres mit einer zweiten Sendung betrauen und stellte nur die Bedingung, daß Robert nie von ihm sich trennen möge. Sobald Robert sein Nie! gesprochen, war Andres nach dem Seehafen abgereist, wo er das Nötige besorgen sollte, um es den Liebenden zu ermöglichen, unmittelbar nach ihrer Ankunft daselbst sich einzuschiffen.

Morgen abend wollten sie fort.

Robert ging, um noch manches zu bestellen und zu ordnen.

Der Himmel hatte sich grau überzogen und drohte mit Regen. Bevor dieser kam, wollte Thekla, von der Schwüle gedrückt, zu dem Badhäuschen im Garten hinabgehen, um ein Seebad zu nehmen. Sie griff zur Klingelschnur, um die nötigen Befehle an Gertrud zu geben, aber schon trat diese in das Turmgemach und meldete mit verstörter Miene:

»Gnädige Frau, Se. Erlaucht, Ihr Herr Gemahl.«

Das war ein Keulenschlag.

Als daher der Graf der Zofe auf dem Fuße folgte und diese hinwegwinkte, taumelte Thekla vor dem Eingetretenen ordentlich ein paar Schritte zurück, und, das Blut schoß ihr ins Gesicht, als wollte es seine Gefäße sprengen.

Graf Nepomuk seinerseits war in der ruhigsten Haltung von der Welt. Er gab sich um keine Haarbreite anders als so, wie er stets gewohnt war, wenn er kam, der Gräfin eine seiner spärlichen Anstandsvisiten zu machen. Sie kostete ihn auch nicht viel, diese diplomatische Selbstbeherrschung. Wo das Herz aus dem Spiele bleibt, hat der Verstand leicht spielen. Ja, er war ganz ruhig; nur ein häßliches Lächeln umzog für einen Augenblick seine Mundwinkel, als er das Entsetzen bemerkte, womit sein unerwartetes Erscheinen die Gräfin erfüllte.

Aber gerade dieses momentane Hohnlächeln war ein Glück für Thekla. Es traf sie wie kalter Stahl, es durchbohrte ihr Innerstes, allein es stachelte auch ihre Energie auf.

Ein Augenblick und sie stand wieder fest auf den Füßen; die Purpurröte ihres edlen Antlitzes wich einer Marmorblässe, und ihre schönen Augen funkelten von heroischem Mut.

»Ich würde es lebhaft bedauern, Madame,« nahm der Graf mit einer zeremoniösen Verbeugung das Wort, »wenn mein plötzliches Kommen eine unangenehme Überraschung für Sie wäre. Die Dringlichkeit der Sache jedoch, die mich hierher führt, wird mich entschuldigen, wenn ich es unterließ, erst anzufragen, ob Madame disponiert wäre, mich zu empfangen.«

»Mein Herr,« erwiderte Thekla, die Hand auf die Brust drückend, um das gewaltsame Pochen ihres Herzens zu mäßigen, »es bedarf der zeremoniellen Umschweife nicht. Sie haben mir etwas zu sagen, und Ihre Stellung gibt Ihnen das Recht, Gehör zu verlangen. Wohlan, reden Sie, ich höre.«

»Es freut mich, Sie so gefaßt und verständig zu finden, Madame. Sie wissen, ich hasse die affektvollen Szenen, und ich hoffe, wir werden das, um was es sich handelt, im Tone des ruhigsten Anstandes zwischen uns abmachen.«

Er rückte einen Stuhl für die Gräfin zurecht und setzte sich ihr gegenüber.

Sie nahm mechanisch Platz, er legte gemächlich ein Bein über das andere und begann:

»Ich war zuletzt in Karlsbad, und die ausgewählte Gesellschaft, mit welcher ich dort zu Verkehren das Vergnügen hatte, erregte in mir den Gedanken, daß ich doch wohl unrecht tat, zuzugeben, daß Sie, Madame, und mein Sohn Robert in dieser Bergeinsamkeit sich langweilten. Die Langeweile ist ein stillschleichendes, aber tiefes Wasser und lockt besonders gern junge Leute in seine tückischen Tiefen. Fingerzeige, die ich von bewährter Hand erhielt, bedeuteten mich, daß wirklich auch an Ihnen, Madame, und an Robert die Langeweile diese ihre wunderliche Wirkung zu üben begonnen habe.«

Er schwieg und heftete einen fragenden Blick auf sie.

Sie senkte die Augen.

Er wußte alles!

Das war klar, aber es war der Gräfin schon bei seinem plötzlichen Erscheinen klar gewesen. Es konnte sie daher nicht mehr erschrecken.

Sie schlug die Augen auf und sagte fest:

»Fahren Sie fort.«

»Madame, Sie sind eine halbe – was sage ich? – eine ganze Gelehrte, und Ihre literarischen Kenntnisse haben einen erstaunlichen Umfang. Sie kennen daher ohne Zweifel die Geschichte der Phädra, der Gemahlin des Theseus, und ihres Stiefsohns Hippolyt. Zwei berühmte Poeten, ein antiker, Euripides, glaub' ich, und ein moderner, Racine, haben rührende Tragödien daraus gemacht. Nun begreife ich vollkommen, daß eine junge Frau, welche die Poesie leidenschaftlich liebt, in ihrem romantischen Sinne leicht auf den Einfall kommen kann, die Fiktion gelegentlich in Wirklichkeit zu übersetzen, aber, Madame, Sie können nicht übersehen haben, daß die Geschichte der Phädra sehr tragisch endigte.«

»Weiter, Herr Graf.«

»Sie werden zugeben, Madame, daß ich mich mit möglichster Schonung Ihrer Gefühle ausdrücke. Das Resultat meiner Andeutungen ist, daß Langeweile und Romantik in verderblichem Bunde Sie und Robert in eine Lage gebracht, der ich ein Ende machen muß und werde, um Roberts willen, um der Ehre des Hauses Wippoltstein willen. Wäre ich nicht ein Mann von Welt, so würde ich eine andere Sprache führen. Wenn je ein Mensch zu Zorn und Wut berechtigt war, so bin ich es. Oder wollen Sie leugnen?«

»Leugnen? Ich verachte eine solche Infamie.«

»Sie prahlen wohl mit Ihrer Schande?«

»Schande? Dies Wort beleidigt bloß dann, wann es aus dem Munde eines Mannes von Ehre kommt.«

»Das ist sublim, bei allen Göttern! Ich, der ich das Recht zum strengsten Gericht habe, muß mir Beleidigungen ins Gesicht werfen lassen! Wissen Sie, Madame, daß ich vollauf berechtigt bin, Ihnen gegenüber zu sprechen, wie es einem beleidigten Ehemann gegenüber einer treulosen Frau zusteht?«

»Sie wagen es, mir meine Untreue vorzuwerfen? Sie, der mir schon in den ersten Wochen dieser unseligen Verbindung meine Mägde vorzog! Erinnern Sie sich, mein Herr, jener Szene drunten im Park, wo sich mir das unglückliche Mädchen, die von Ihnen zugrunde gerichtete Ottilie, zu Füßen warf? Von jener Stunde an war ich nicht mehr Ihre Frau!«

»Romantische Phantasien! – Aber da Sie mich fragen, will auch ich Sie fragen. Wissen Sie, daß Ihre Situation die ist, welche der Kriminalkodex mit dem garstigen Wort Inzest bezeichnet? Dieses Verbrechens sind Sie schuldig, Madame, Sie, die mit schnödem Undank die Schonung belohnt, daß ich Sie nicht mit einem Titel niederschmettere, welcher in guter Gesellschaft nicht ausgesprochen und in Schriften nur mit dem Anfangsbuchstaben und drei Sternchen dahinter genannt wird.«

»Sie, mein Herr, wollen mich zur Verbrecherin stempeln? Mag die Welt es tun, Sie haben kein Recht dazu. Nein, Sie nicht, der Sie mit herzlosester Bosheit alles Heiligste in den Kot traten, wo es sich um die Befriedigung Ihrer ekelhaften Begierden handelte! Nein, Sie nicht, mein Herr, der Sie getan, was zum Himmel schreit, Unerhörtes, Grauenhaftestes – Sie, der Mörder Ihres Neffen und Mündels!«

Der Graf fuhr, wie von einem elektrischem Schlage getroffen, halb von seinem Sessel auf.

Diese Anklage aus diesem Munde zu vernehmen, darauf war er doch nicht gefaßt.

Er mußte sich recht gewaltsam zusammennehmen. Er fühlte den triumphierenden Blick der Gräfin auf seinen gesenkten Wimpern.

»Madame,« sagte er nach einer Pause, »wir wollen bei gelegener Zeit untersuchen, wer Ihnen dies alberne Märchen aufgeheftet.«

»Das Märchen? Jämmerliche Heuchelei! – Nein, es ist kein Märchen, es ist die brutalste Tatsache unseres Jahrhunderts, und diese Tatsache hat jedes Band zwischen Robert und Ihnen gelöst, für immer.«

»Alberne Sophisterei! – Doch ich bemerke zu meinem Bedauern, daß wir in Affekt geraten sind. Ich liebe das nicht. – Mäßigen Sie sich, Madame, wie ich es tue. – Ich habe nur noch wenig zu sagen. Gewohnt, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten, lasse ich das Geschehene geschehen sein. Es war töricht, insipid, einen jungen feurigen Mann mit einer jungen leidenschaftlichen Frau in dieser ländlichen Einsamkeit allein zu lassen. Damit genug, was die Vergangenheit betrifft. Ich bin kein König Philipp von Spanien, der sich rächen zu müssen glaubt. Aber ich will nicht, daß der Stammhalter des Hauses Wippoltstein einer tollen Liebelei zum Opfer falle; verstehen Sie mich, Madame? Er wird sich mit der reizenden Erbin vermählen, mit deren Eltern ich auf meiner Reise eine in jeder Beziehung passende Verbindung eingeleitet habe, und Sie, Madame, werden nicht das Hindernis seiner Zukunft und seines Glückes sein wollen. Wollten Sie es dennoch sein, müßte es mit meiner Schonung ein Ende haben, und Sie müßten dann erfahren, welche Rechte mir in einem solchen Falle das Gesetz einräumt. – Doch ich setze voraus, daß Ihre Leidenschaft, wenn sie auch blind war, nicht zugleich taub sei. Sie werden also Vernunft annehmen. Betrachten Sie, poetisch zu sprechen, diese Liaison wie einen Frühlingstraum. Im Sommer träumt man wieder anders. – Die Diätetik behauptet indessen, daß in derartigen Krankheiten eine Luftveränderung der Genesung außerordentlich förderlich sei, und ich glaube, die Diätetik hat recht. In meiner väterlichen Fürsorge für Sie muß ich also wünschen und wollen, daß Sie morgigen Tages in der Frühe eine Reise antreten.«

»Reisen? Morgen?«

»Ja, Madame.«

»Und wohin, mein Herr?«

»Das muß, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, meiner eigenen Bestimmung vorbehalten bleiben.«

»Ich werde morgen nicht reisen, wenigstens nicht nach Ihrer Bestimmung, Herr Graf.«

»Sie werden mir dennoch den Gefallen tun, Madame, morgen von hier abzureisen. Sie werden dahin reisen, wohin Ihre Reise zu lenken ich für gut finde, und Sie werden unter der Obhut eines Mannes reisen, auf den ich mich unbedingt verlassen kann.«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»Sie werden es tun müssen. – Es ist dies ein ungalantes Wort, und ich bedaure, daß ich es aussprechen mußte. Aber es gibt Fälle, wo kein anderes so gut paßt. Ein solcher Fall ist der unserige, und nicht ich bin es – verstehen Sie mich? – der diesen Fall so gemacht hat, wie er ist. – Übrigens, Madame, habe ich es durchaus nicht schlimm mit Ihnen vor. Sie sollen nur meinem Sohn aus dem Wege gehen, so lange, bis auch ihm dieser wahnsinnige Traum vergangen sein wird. Es soll meine Sorge sein, daß das nicht allzulange währe. Nachher mögen Sie Ihrer Unabhängigkeit genießen, wo immer Sie wollen. Sie sind noch sehr jung, Sie können also noch manchen Frühlings- und Sommertraum träumen. – Ich verspreche Ihnen, der gefälligste aller Ehemänner zu sein, solange Sie nur einigermaßen die Dehors beobachten werden.«

»Genug!« rief Thekla aus, indem sie sich flammenden Auges erhob.

Dann fügte sie mit dem Ausdruck souveränster Verachtung hinzu:

»Nichtswürdiger, gehen Sie und tun Sie Ihr Äußerstes. Ich biete Ihnen Trotz!«

Der Graf stand auf.

»Ich wiederhole,« sagte er, »daß ich das Pathetische und Affektvolle nicht liebe, und daher breche ich diese Unterhaltung ab. Sie kennen jetzt meinen Willen, und Sie werden sich demselben fügen, fügen müssen. Morgen reisen Sie. Adieu, und merken Sie sich's: der Graf Nepomuk von Wippoltstein ist schon mit anderen Leuten fertig geworden als mit einer pflichtvergessenen, störrischen –« Die Türe fiel hinter ihm ins Schloß.

Als sie allein –

Als sie allein nun, da, wie wann die Winde
Aus Nord und Süd losrasen aufeinander,
Bekämpften ihre Leidenschaften sich
Für eine Stunde –

»Robert!« schrie sie qualvoll auf, als wollte sie den Geliebten zu Hilfe rufen.

Dann taumelte sie auf die Ottomane, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und ein krampfhaftes Schluchzen drohte ihr die Brust zu sprengen.

Nun sprang sie auf und rannte im Zimmer hin und her.

Ihr Hirn wirbelte, ihre Gedanken drehten sich wild im Kreise.

Plötzlich blieb sie stehen, wie auf den Fleck gebannt.

»Er will Robert von mir reißen,« murmelte sie. »Lieber die ewige Verdammnis! – Und der Elende hat mich eine – Metze genannt. – Oh, das sühnt nur eins!«

Sie wankte an die Türe, welche auf den Steg hinausführte, und drückte das glühende Gesicht an die Glasscheiben.

Draußen wetterleuchtete es, und der Regen rieselte herab.

Ihr Blick fiel mechanisch auf eine jener grün, blau und golden schimmernden Mücken, die sich hereingeflüchtet hatte und vor ihr an der Scheibe summte.

Ihre Hand fuhr auf das Tierchen los, faßte es, und im nächsten Augenblick fiel die kleine Leiche auf den Fensterrahmen nieder.

Sie starrte mit einem irren Blick darauf hin und flüsterte mit einem schrecklichen Lächeln:

»Was ist's weiter? Und doch war es auch ein Leben!«

Wer hat je die innerste Tiefe eines Frauenherzens ergründet?

Dort im Dunkel schlummert ein Dämonisches. Hunderte, Tausende, Hunderttausende von Frauen leben und sterben, ohne auch nur das Vorhandensein dieses Dämonischen zu ahnen. Aber wenn ein roher Griff es aufrührt, dann bäumt es sich auf, riesenhaft, ungeheuer, und vollbringt, was es muß.

War es zu dieser Stunde in Thekla lebendig und mächtig geworden?

Sie kehrte sich vom Fenster ab. Ein unerbittlicher Gedanke brütete zwischen ihren zusammengezogenen Brauen.

Sie nahm ein Tuch um und wandte sich der Balkontüre zu.

Eine kurze Weile blieb sie im Vorübergehen vor dem Bilde des blutigen Wippo über ihrem Schreibtische stehen und fixierte es scharf.

Dann trat sie festen Schrittes auf den Steg hinaus, überschritt ihn, stieg am Pavillon die Felsentreppe hinab, trat in den Kahn, löste die Kette desselben und faßte die beiden Ruder.

Ein feiner Sprühregen schlug ihr ins Gesicht, als der Bug der leichten Barke seewärts um die Klippe bog, und das aufgeregte Wasser klatschte mit starken! Plätschern an den Kiel.

Sie achtete weder dieses noch jenes, sondern rührte mit Energie die Ruder, und die Gondel schoß in den See hinaus – –


Es war bereits Nacht, und das Gewitter begann sich in schweren Schlägen zu entladen, als die kühne Schifferin durch Wind und Wogenschwall hindurch wieder am Wippostein anlangte.

Im Turmzimmer brannte die Astralampe, welche auf den großen Büchertisch zu stellen die alte Gertrud jeden Abend gewohnt war.

Über und über durchnäßt, legte Thekla ihr Umschlagetuch beiseite und wand sich das Wasser aus den üppigen Locken und Flechten, welche ihr blasses Gesicht wie schlaffe Schlangen umhingen.

Dann ging sie ins Vorzimmer und fand dort den Mohrenknaben, der es sich auf dem Kanapee Gertruds bequem gemacht hatte und eingeschlafen war.

Sie verschwand durch eine gegenüberliegende Türe, kehrte aber nach wenigen Minuten umgekleidet zurück.

Nun weckte sie den Knaben, nachdem sie sich vergewissert, daß sie mit ihm allein war.

Der kleine Mohr fuhr von seinem Lager herunter und stellte sich etwas beschämt, in der Pflege seiner Faulheit überrascht worden zu sein, vor seine Gebieterin.

»Berdoa,« redete diese ihn an, »bist du völlig wach?«

Der Knabe riß seine großen Augen auf und reckte sich.

»Berdoa immer wach, wenn Gnaden befehlen,« sagte er.

»Ich meine, ob du imstande seiest, einen Auftrag zu verstehen und zu vollziehen.«

»Berdoa alles versteht und vollzieht, was Gnaden wollen.«

»Wohl, so höre. Es handelt sich um einen Scherz. Um denselben gelingen zu machen, muß ich wissen, genau wissen, ob der Kammerdiener des Herrn Grafen die Nachttoilette desselben gerüstet habe. Es muß jetzt bald die Zeit sein. Schleiche dich in den rechten Schloßflügel hinüber, erspähe mir, was mich zu wissen verlangt, und melde es mir dann auf der Stelle. Hast du mich verstanden?«

»Berdoa versteht Gnaden immer.«

»Gut, so geh denn und sei klug und vorsichtig, wie du es ja sein kannst, wenn du magst. Ich erwarte dich im Turmzimmer.«

Der Knabe eilte mit einem pfiffigen Blicke hinweg.

Thekla ging in das Turmgemach zurück und sah, an die Fenstertüre gelehnt, in die Sturmnacht hinaus, welche sich jetzt schwarz auf den See gelegt hatte. In dem Licht der zuckenden Blitze leuchtete da und dort die Wassermasse fahl herauf.

Von diesem unheimlichen Anblick sich wegwendend, durchschritt Thekla langsam das Gemach.

Von Zeit zu Zeit faßte sie rasch an die Brust, als gälte es, eine heftige Wallung derselben zu beschwichtigen.

Aber es war da keine Wallung zu beschwichtigen. Ihr Busen hob und senkte sich gleichmäßig, und über ihr bleiches Antlitz war eine marmorne Ruhe gebreitet.

In ihrem Gange innehaltend, horchte sie angestrengt, ob sich der Tritt des Mohrenknaben noch nicht im Vorzimmer hören ließe.

Alles war still.

Sie trat an ihren Schreibtisch, öffnete verschiedene Fächer desselben und kramte suchend darin, bis sie aus einem derselben etwas hervorzog, was wie ein Schlüssel aussah.

Sie steckte es rasch in die Tasche, und in diesem Augenblick trat Berdoa herein.

»Wie ist's?« fragte sie.

»Der Kammerdiener des gnädigen Herrn hat dessen Schlafzimmer in Ordnung gebracht. Eben trug er noch das Glas mit Zuckerwasser hinein, welches Erlaucht vor Schlafengehen zu trinken pflegen.«

»Es ist gut. Die Dienerschaft wird bei ihrem Essen sein. Geh auch du, um deines Anteils nicht verlustig zu werden. Doch warte noch – weißt du nicht, wo der Herr Rittmeister sich gegenwärtig befindet?«

»Noch immer im Kabinette des gnädigen Herrn, wie schon seit mehr als zwei Stunden.«

Sie ließ dem Knaben sein Vorrecht, ihr beim Gutenachtsagen die Hand zu küssen, fuhr ihm dann über den wolligen Kopf und sagte noch:

»Der Auftrag, den ich dir vorhin gab, war ein geheimer. Er bleibt unter uns, Berdoa.«

»Wie Gnaden befehlen.«


In den matt erleuchteten Korridoren des weitläufigen Herrenhauses herrschte Schweigen und Öde. Die Dienerschaft war im unteren Stockwerk bei ihrem Abendessen versammelt.

In dem Schein der Blitze, welcher in den Ahnensaal im Mittelgeschoß fiel, glitt eine Gestalt schemenhaft leise durch das hohe, weite Gemach und verschwand in der nach dem westlichen Schloßflügel führenden Flügeltüre. Draußen schwebte sie quer über den Korridor, öffnete geräuschlos eine Türe, huschte hinein, strich längs der Wand eines dunkeln Gemaches hin, öffnete wieder eine Türe, schlüpfte durch einen engen Durchgang voll greifbarer Finsternis, tastete am Ende desselben leise an der Mauer umher und drückte auf einen kleinen vorragenden Gegenstand. Ein ächzender, surrender Ton und eine Tapetentüre tat sich auf in ein Gemach, in welchem auf einem Toilettentisch eine silberne Nachtlampe brannte und auf dem neben einem prachtvollen Bette stehenden Nachttisch ein silberner Teller mit einem Glas Wasser hingesetzt war.

Eine Stunde später begab sich Graf Nepomuk aus seinem Kabinette nach seinem Schlafgemach. Der Kammerdiener, welcher im Vorzimmer seinen Herrn erwartete, hatte diesen noch nie in einer solchen Aufregung gesehen wie zu dieser Stunde.

Das Gesicht des Grafen glühte, Schweiß stand ihm in großen Tropfen auf der Stirn, und unter der verschobenen Perücke blickte die gerötete Glatze hervor.

Die Dienstleistungen des Dieners rauh zurückweisend, trat er in das Schlafzimmer und schlug die Türe hinter sich zu, daß sie in ihren Angeln klirrte. »Hm,« brummte der Kammerdiener, indem er in den Alkoven des Vorzimmers trat, wo er seine Schlafstelle hatte, »hm, das muß eine hübsche Szene gewesen sein, welche den Alten dermaßen aus Rand und Band, sozusagen ganz aus dem Häuschen gebracht hat. So etwas hab' ich noch gar nicht an ihm erlebt. Er sah ja ordentlich rabiat aus, ganz rabiat.«

Es mochte um Mitternacht sein, als der Kammerdiener durch einen gellenden Schrei, der vom Schlafzimmer seines Herrn kam, aus dem Schlafe geschreckt wurde.

Er sprang aus dem Bett und eilte an die Türe des gräflichen Gemaches.

Von drinnen kam ein dumpfes Ächzen, dann wieder ein furchtbarer Schrei.

Der Diener stieß die Türe auf.

Im Schein der Nachtlampe sah er etwas Furchtbares.

Auf seinem zerwühlten Bette krümmte, wälzte und bäumte sich der Graf mit schrecklich verzerrten Zügen, augenscheinlich ringend in gräßlicher Agonie.

»Um Gottes willen, gnädiger Herr, was ist –«

Die Worte erstarben ihm auf der Zunge, und sein Haar sträubte sich aufwärts, als er diesen Todeskampf sah.

Ein Stöhnen und Ächzen, das in der Brust des Grafen arbeitete, als würde es das Knochengehäuse derselben zerreißen, dann wieder ein Aufbäumen des Körpers, als wollte er sich in wütender Qual an die Decke schmettern – unartikuliertes Geröchel und Gekeuche, dann stoßweise einzelne Worte, aus dem schiefgezogenen Munde gepreßt:

»Die blassen Gestalten – sie schütten Feuer der Hölle auf mein Herz – hinweg! –-Höllenfeuer! Höllenfeuer!«

Das letzte Wort brach nur noch halb hervor: ein entsetzlicher, markdurchbohrender Schrei schnitt es mitten entzwei. Außer sich stürzte der Diener hinaus und schrie das Haus wach.

Als die Leute endlich in wirrem Getümmel herbeieilten, war alles vorüber.

Der Graf war tot.

Wie der Tote so dalag auf den zerknüllten Spitzenkissen und den zerstrampelten Seidendecken, bot er einen Anblick, der das Herz seiner Diener mit Grauen erfüllte.


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