Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Sechstes Kapitel. Wolken.

Während weder die Zeitung von Windgellen noch ihre Abonnenten darüber einig werden konnten, ob der Zukünftige des verlaufenen Vagantenkindes aus der Höllenschwärz, welches laut dem Strobelchäpi da draußen in Deutschland in Seide und Sammet einherging, ein Graf, ein Fürst, ein Prinz oder gar ein König sei, während die einen die ganze Geschichte gläubig hinnahmen, die andern sie anzweifelten und einige kühnste Skeptiker sie wohl auch geradezu für ein »Märli« erklärten, erhielt die öffentliche Meinung der Talschaft durch ein wirkliches Ereignis nach einer andern Richtung hin neues Material.

Der »erst' Ma« in der Gemeinde, der Beherrscher der Zwihl, erkrankte so gefährlich, daß man bald an seinem Aufkommen verzweifeln mußte. Der Rüstige, all sein Lebenlang Kerngesunde hatte sich auf der Gemsjagd eine Erkältung zugezogen, aus der er sich aber nicht viel machte. Sein Anneli drang zwar darauf, daß er die Sach' besser abwarte, insonderheit bei dem unbeständigen Frühlingswetter, das zwischen Wärme und Frost so häufig und jäh wechselte. Er meinte aber, er hätte jetzt keine Zeit zum Kranksein, und wies den Vorschlag, einen Arzt zu beschicken, brummig zurück. Es schien auch wirklich, das Unwohlsein des Bauers sei wieder verschwunden, und es wäre auch wohl so geschehen, wenn nur der Patient, wie die Bäurin wollte, noch ein Paar Tage lang die Stube gehütet hätte. Aber er mußte hinaus, er mußte, maßen das »ewig' Sumpfloch« drunten am Fluß, die Haardtmatt', jetzt einmal »in Ordnig g'stellt« werden sollt'. Er leitete aller diplomatischen Opposition seiner Ehehälfte ungeachtet die dort angeordneten Drainierarbeiten und die Folge davon war ein Rückfall, der sich sofort zu einer heftigen Lungenentzündung gestaltete. Die Bäurin ließ hinter dem Rücken des Kranken, der auch jetzt noch von dem »Ap'thekerzüg« nichts wissen wollte, eilends einen Arzt von Meyringen heraufholen; aber es war zu spät. Der Doktor konnte erst am folgenden Tag kommen, und er traf den Kranken bereits in einem Delirium, welches nur das Vorspiel des Todeskampfes war.

Bevor dieser eintrat, kam der Kranke noch einmal zu klarer Besinnung. Er sah seine Töchter an, die seit vielen Stunden nicht von seinem Bette gewichen waren, und sagte: »Kinder, ich merk', mit mir ist's Matthäi am letzten. Nu, nu, briegget gäng nit so schüli! Sterben muß nummeeinisch jeder. Bleibet brav, wie bisher, und machet dem Müetti Freud', wie ihr mir g'machet habt. Und loset, Rosi und Vreli, i säg', der erst Bub', den eine von euch überkommt, der soll ein rechtschaffener Bauer werden und soll auf der Zwihl hausen. Lasset d' Zwihl nit in fremde Händ' kommen! Ich müßt' mich ja sonst im Grab umdrehen.«

Diese Vorstellung regte einen Gedanken in dem Sterbenden an, der ihn seit langer Zeit gequält hatte. Er blickte die verweinte Rosi forschend an und sagte dann halbleise zu seinem Anneli:

»Müetti, säg', ist bei der Rosi noch immer nüd um d' Weg'?«

Rosi bedeckte das Antlitz mit den Händen, wie um die Tränen wegzuwischen, in Wahrheit aber, um ein schmerzliches Erröten zu verbergen. Die Mutter warf über das Bett hinweg ihrer Tochter einen ängstlich bittenden Blick zu, bevor sie antwortete. Ach, die treffliche Frau fühlte jetzt in ihrem Jammer, daß es auch fromme Lügen gäbe. Warum sollte man einem Sterbenden nicht seine letzten Augenblicke versüßen? So sagte sie:

»Doch, Väterli, doch!«

»Ist's wahr, Rosi?« fragte er hastig und sein schon umdunkeltes Auge glomm noch einmal auf.

In qualvoller Verlegenheit beugte sich Rosi zu ihm herab. Er nahm ihr Schweigen für eine verschämte Bejahung seiner Frage, legte seine Hände auf ihr Haupt und segnete sie. So tat er auch mit Vreneli, und dann sagte er zu seiner Frau, indem er ihr die Hand hinbot: »Anneli, was meinst, wir hei doch glückli mitsämme g'lebt?«

Als sie das unter strömenden Tränen bejahte und beschwichtigend beifügte, Gott würde so gnädig sein, sie noch länger beisammen zu lassen, versetzte er:

»Nei, nei, Anneli, mit dem ist's gäng nüd. 's ist neime do in mir inne 'ne Schrub losgange und will si nimme la festmache. Aber 's ist au so recht. 's ist alles in Ordnig jetzt und der alt' Basti, euser Oberknecht, wird dir und dem Vreneli an d' Hand go im G'werb – 's ist e treue Seel'. Haltet nu allzyt fest z'sämme, du, Müetti, mit den Chinde und ihr, Chinde, mit dem Müetti. Und loset, i säg', lasset d' Zwihl nit in fremde Händ' cho, nie, nie!«

Eine Stunde darauf verschied er in den Armen des herbeigeeilten Ruodi, der den wuchtigen Körper des Sterbenden in den Armen hielt, bis er ausgeatmet hatte.

Es war ein großer Leichenzug, der den toten Zwihlbauer zu Grabe geleitete. »Er war wie die Tannen unserer Berge,« sagte der Pfarrer in der Leichenpredigt, »rauh von außen, aber innen gesund und voll Markigkeit. Ein Mann vom echten alten Bauernschlag, der überall, soweit sein Blick reichte, das Rechte gewollt und demgemäß gehandelt hat. Er tat, was er für seine Pflicht erkannt hatte, unter allen Umständen, ohne rechts oder links zu schauen, und wohl geziemt uns deshalb, mit aufrichtiger Trauer zu sagen: Ein Mann ist von uns gegangen.« In der ganzen Gemeinde und soweit außerhalb derselben der Kuori Leuenberger bekannt war, hätte diesem Nachruf niemand widersprechen mögen. Eine so auf sich gestellte, spröde, im Auftreten herbe und barsche Natur, wie der Zwihlbauer gewesen, hatte freilich nicht ohne Feinde bleiben können. Bald nach seinem Hingang gestanden aber auch diese, es dürfte lange währen, bis wieder so einer der Gemeinde Windgellen vorstünde. Er sei gäng es bizzeli und neime mehr als es bizzeli »eigenrichtig« und »stiergrindig« drein g'fahren, aber dabei hätt' er 's Herz auf dem rechten Fleck g'habt, sei sauber über's Nierenstück g'si,Er sei unbestechlich gewesen oder kein Heuchler, der unter dem Deckmantel seines Amtes seinen persönlichen Vorteil gefördert. und für d' G'meind' hätt' er 's Leben g'lassen, wenn's hätt' sein müssen. Dieser Wahlspruch des über den Zwihlbauer gehaltenen Totengerichts charakterisiert zugleich das Wesen bäuerischen Patriotismus. Die Gemeindemark ist die Welt des Bauers, wenigstens die des Bauers von germanischem Stamme. Sein durchaus lokaler Patriotismus ist noch gar nicht oder doch nur in seltenen Fallen dazu gelangt, sich zur mit dem Herzen erfaßten Vorstellung vom Staat zu erweitern. Im Gegenteil, vom Staat möchte er am liebsten gar nichts wissen, und er betrachtet ihn ziemlich unverhohlen als seinen und der Gemeinde Feind.

Der Rosi ging des Vaters Verlust sehr nahe, und die Mutter, obschon selber tief betrübt, mußte der Tochter Trost zusprechen, als diese nach dem Leichenbegängnis mit ihrem Manne von der Zwihl zum Rütli sich aufmachte. Die junge Frau hatte ihren Vater doppelt liebgehabt, seit er, ihr schüchternes Hoffen nicht nur erfüllend, sondern überbietend, den Ruodi so recht wie einen Sohn gehalten. Und jetzt, gerade jetzt, da sie alle so freundlich und friedlich mitsammen gelebt, hatte der Vater sterben müssen! Als auf dem Wege zum Bödeli dieser Gedanke Rosis Herz mit Bitterkeit erfüllte, ließ sie sich nicht träumen, daß bald eine Zeit kommen würde, wo sie den Toten glücklich preisen müßte, daß er hingegangen, bevor er sein Kind unglücklich gesehen.

Daheim ging die Trauernde in das an ihre Schlafkammer stoßende Hinterstübli, sich auszuweinen. In diesem kleinen Gemach, welches Ruodi mit besonderer Sorgfalt hatte ausrüsten lassen, verwahrte die junge Frau ihre und ihres Mannes liebste Sachen. In Kasten und Kästchen hing und lag da mancherlei Wertvolles und Wertloses, Andenken an frohe und trübe Stunden, Denkzeichen der Freuden- und Leidenstationen der Lebensreise. Dort auf der Kommode stand eine zierlich geschnitzte Lade, und darin verwahrte der Ruodi seine Papiere, worunter auch die Kapitalbriefe, in der Schweiz schlechtweg Briefe genannt, welche seine Frau ihm zugebracht hatte. Über der Lade hing hinter Glas und Rahmen Rosis Brautkranz an der Wand, für die junge Frau immer noch eine Reliquie, welche nur die süße Erfüllung der liebsten Hoffnung ihres Lebens bezeugte. Gegenüber zog sich eine Truhe oder Sidel an der Wand hin, und darin lag das Brautkleid Rosis in schimmernde Leinwand sorgfältig eingeschlagen.

Auf dieser Sidel sitzend überließ sich die junge Frau ihrer Wehmut. Was müßte aus den Frauen werden, wenn ihnen Tränen versagt wären! Man ist versucht, ihre Gabe, zu weinen, für ein wohltätiges Ventil anzusehen, mittels dessen das reizbare weibliche Gemüt sich Luft macht, der zusammengepreßte Schmerz sich ausströmt. Dank dieser vorsorglichen Einrichtung der Natur setzt sich in der Seele der Frau nicht so leicht jener bittere Niederschlag an, welcher nur zu oft wie eine Salzkruste die Seele des Mannes überzieht.

Als Rosi sich ausgeweint und ihre Fassung wiedergewonnen hatte, fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, der sie mit neuer Kümmernis erfüllte. In einer Ecke des Stübchens stand eine allerliebste Wiege, die, ach, noch immer leer war. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte Ruodi all seinen Fleiß und Geschmack auf die Herstellung dieses Hausratsstückes verwandt und richtig die schönste Wiege zustande gebracht, die man je im Gebirge gesehen. Aus Stücken blütenweißen Ahornholzes war sie zusammengefügt und mit seinem Lack überzogen. Ein zierlich geschnitzter Kranz von Alpenrosen zog sich außen herum. An der Innenseite des Kopfstücks hatte Ruodi, der ein gewandter Zeichner war, ein Medaillonbild seiner Rosi in Reliefschnitzwerk angebracht, und darunter war sein und ihr Name und das Datum ihrer Hochzeit eingegraben. Wie hatte sich der Zwihlbauer gefreut, als er die fertige Wiege gesehen! »Nu, Rosi,« hatte er gesagt, »jetzt ist's gäng an dir, 's Kinderbettli herz'richten und z'luege, daß d' Hauptsach' dry kommt.« Das Kinderbett war auch richtig bald genug in die Wiege gekommen, und recht niedlich guckten die kleinen weißen Kissen und die rosafarbene Decke daraus hervor; aber die Hauptsache war ausgeblieben.

Das alles beschäftigte die Gedanken der jungen Frau und bemühte sie schwer. In ihrer trüben Stimmung machte sie sich einen Vorwurf daraus, daß sie den fast leidenschaftlich lebhaften Wunsch ihres Vaters, einen Enkel auf den Knien zu schaukeln, nicht erfüllt hatte.

Sie zog die Wiege aus der Ecke, und während sie in schmerzlicher Betrachtung davor stand, kam Ruodi herein. Sie versuchte den teuren Mann anzulächeln, um ihn durch den Anblick ihrer Trostlosigkeit nicht zu betrüben. Aber das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie den eigentümlichen Blick erhaschte, welcher aus den Augen des Gatten auf die Wiege fiel, in welche er so viele zärtliche Vaterhoffnungen hineingearbeitet hatte.

Dieser unbedachte Blick ging der schönen armen Kinderlosen wie ein Stich durch das Herz.

»O Ruodi,« stammelte sie, in Schluchzen ausbrechend, »ich weiß wohl, ich –«

Ruodi begriff unschwer, was seine Frau so heftig bewegte; aber da er des Zartgefühls keineswegs ermangelte, schien es ihm wohlgetan, sich unwissend zu stellen.

»Was meinst, lieb's Rosi?« fragte er, ihre Hand zärtlich drückend.

»O, du weißt schon, du weißt schon! – Dem Vater selig hat's ja noch auf dem Todbett' Kummer und Sorg' g'machet, und als d' Mutter, ihn z' trösten, sagte, es sei ebbis um d' Weg' bei mir, da dürft' ich ja doch nit nein sagen, damit er im Frieden sterben könnt'. Aber – o, gelt, Ruodi, du bist mir nit bös?«

»Dir bös sein, arm's Wybli? Was denkst doch auch! Mach' dir doch, ich bitt', keine so trübsinnig' Gedanken und laß dir die Sach' nit so z' Herzen gehn. Weißt, was noch nit ist, kann werden, und kommt Zeit, kommt Rat.«

»Will's Gott, Ruodi!«

Er merkte, daß der Ton dieses Wunsches wenig hoffnungsreich klang, und fuhr fort:

»Gib dich z'frieden, Rösli, my lieb's Rösli, gib dich z'frieden. Lueg', ich will mit dir wetten, was d' wott'st, eh' zwei Jährli um sind, liegt e hübsch Chnäbli in der Wiege da.«

Jetzt konnte sie lächeln, wenn auch immer noch durch Tränen; denn, o, wie gern nimmt ein kummervolles Weib Beschwichtigung und Trost von dem entgegen, welchen sie liebt.

Ihm und ihr schwante nicht, wie seine Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte. In dem Hinterstübli im Rütli war zu dieser Stunde eins jener rätselhaften Worte gesprochen worden, wie sie manchem Menschengeschick bestimmenden Ereignis lange vorangehen, aber selten beachtet, geschweige in ihrer ganzen Bedeutung gefaßt werden.

Seltsam, Rosi glaubte an die tröstliche Verheißung ihres Mannes, und doch kostete sie es von jenem Tage an eine Art Überwindung, die schmucke Wiege anzusehen. Der Blick, welchen er da bei seinem Hereintreten von ihr ab auf die Wiege hatte gleiten lassen, sie konnte ihn nicht vergessen. Er blieb auf dem Grund ihres Herzens haften, schwer wie ein Bleigewicht, dessen Druck die Zeit nicht minderte, sondern nur mehrte.


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