Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Zehntes Kapitel. Eine zuviel in der Welt.

Der sehr ehrsamen Jungfer Bibbeli machte es auf ihrem Rückweg vom Bödeli ins Dorf nicht wenig zu schaffen, sich das Benehmen der Hausfrau vom Rütli zurechtzulegen. Anfangs war die Bärtige geneigt, alle Schwierigkeiten einfach mittels der Annahme, Rosi müßte hintersinnig sein, zu beseitigen. Bei reiflicherem Nachdenken jedoch kam sie zu dem Schluß, entweder sei Rosi »das best' oder aber das dümmst' Wyb auf Gottes Erdboden«. Diesen Schluß teilte sie samt der Motivierung desselben noch am nämlichen Abend ihren intimsten Bekannten mit und erfuhr die Genugtuung, allseitige Beistimmung zu finden.

Rosi hatte inzwischen ihren Entschluß gefaßt. Es war einfach dieser, ihre Handlungsweise nach der ihres Mannes einzurichten. Sie war bei aller Sanftmut nicht ohne Stolz, das heißt, die Reinheit ihres Bewußtseins verlieh ihr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Sie hatte zuerst beabsichtigt, bei der Heimkunft Ruodis offen mit ihm zu reden; aber sie war wieder davon abgekommen, weil sie schon bei dem Gedanken, gewisse Dinge zur Sprache bringen zu müssen, ihre Wangen vor Scham brennen fühlte. Diese einfache Frau, deren geistiger Gesichtskreis nicht eben ein weiter war, trug in ihrer Seele jenen Hauch von Poesie, der die wilden Affekte schweigt und schwichtigt, jene edlen Instinkte, welche vor jeder Berührung mit Gemeinem zurückbeben. Sie wußte, daß sie ihren Gatten verloren. Was half es noch, gegen diese Tatsache anzukämpfen? Ihr Weg war ihr vorgezeichnet: es war der der Ergebung und Entsagung. Und dann hatte ja Ruodi schon seit lange jede offene Erörterung, jedes trauliche Gespräch mit ihr geflissentlich vermieden. Nein, sie konnte ihn nicht darum angehen.

Bei Einbruch der Nacht kam Ruodi heim. Er war schweigsam und düster wie gewöhnlich, seit sein Haus nicht mehr seine Heimat war. Und doch schien er etwas, was ihm auf dem Herzen lastete, loswerden zu wollen. Mehrmals kam er aus der obern Erkerstube, wo er unruhig herumkramte, in die Wohnstube herunter, wo Rosi mit dem Mareili bei einer Handarbeit saß, und ging um seine Frau herum, als drängte es ihn, ihr eine Eröffnung zu machen. Aber er konnte nicht dazu kommen. Das böse Gewissen würgte ihm die Worte, welche er schon auf der Zunge hatte, wieder in die Kehle hinab. Endlich sagte er:

»Los, Rosi, ich muß morgen in Dienst nach Thun, für vierzehn Tage oder drei Wochen. Ich wollt', der Teufel holte dieses ewige Militärlen, was einem soviel Zeit und Geld kostet.« – Der unglückliche Mann war auf der schiefen Ebene der Unwahrheit im Reden und Tun schon so weit hinabgeglitten, daß er auch ohne besondere Veranlassung heuchelte und log. War es ihm doch keineswegs so unangenehm, wie er sich anstellte, für ein paar Wochen vom Hause wegzukommen, da er die ganze Mißlichkeit der Lage empfand, in welche er sich gebracht hatte. – »Ich möcht', daß mein Weißzeug und meine Montur herg'richtet würden, damit ich morgen früh meinen Habersack packen kann.«

»Es ist schon alles herg'richtet,« versetzte Rosi. »Jungfer Bibbeli war heut z' Imbig da und frug, ob ihr Bruder, der Joggeli, der auch in Dienst muß, mit dir gehen könnt'.«

»So, 's Bartbibbeli war da? Wenn ich das gewußt hätte! Dem Ketzersmensch würd' ich 's Wiederkommen verleidet haben. Wenn ich von Thun heimkomm', will ich e Wörtli mit der Zytig, dem alten Tüfelsripp', und mit noch anderen reden. Ja, das will ich!«

Er war ganz zornig oder tat wenigstens so und brach das kurze Gespräch ab, indem er bemerkte, er habe noch vollauf zu tun, Stutzer, Hirschfänger, Weidtasche und Tschako in ordonnänzmäßigen Stand zu stellen, und am folgenden Morgen tat er sogleich nach dem Frühstück seine Armatur an, schnallte den Habersack um und brach auf. Es pressierte ihm augenscheinlich sehr. Als er seiner Frau unter der Haustüre die Hand zum Abschied reichte, neigte er sich gegen sie, um sie zu küssen. Aber das zu dulden vermochte sie doch nicht. Sie kehrte ihr Gesicht ab und sagte nur: »Bleib' g'sund!« Sie sah ihm auch nicht nach und bemerkte also nicht, daß er, beim Schuhukopf drunten am See angelangt, links am Bache hinabging, statt sich rechtshin nach dem großen Talweg zu wenden.

Es duldete die junge Frau nicht im Hause. Wenn sie so still da saß, stürmten die leidvollen Gedanken gar zu heftig auf sie ein. Ihre noch immer gesunde Natur verlangte nach Luft und Bewegung, und so nahm sie Grastuch und Sichel zur Hand und ging zur Bilgismatt' hinüber, um für die »Bläß« im Stall ein Bündel Frischfutter zu holen. Ihr Weg führte sie den Bach entlang, welcher, wie früher erwähnt worden, nach seinem Austritt aus dem See mit einer scharfen Wendung nach links gegen die Höllenschwärz hinfließt. Sie kam aber nicht in die Schlucht hinein, denn die zum Rütli gehörende kleine Bilgismatt' liegt linker Hand oben am Berghang hinter dem dichten Ahorn- und Haselgestrüppe, welches sich bis zu dem dumpf rauschenden Wasser herabzieht. Als Rosi oben am Ende des schmalen Zickzackpfades angelangt war, welcher durch das Gebüsch zur Matte emporsteigt, konnte sie durch das Laubwerk hindurch die Höllenschwärz drunten liegen sehen. Aber sie wandte sich mit einem Seufzer ab und murmelte: »Ich kann's nicht ändern, ich kann's ja nicht ändern!«

Sie ging an ihre Arbeit und hatte das Grastuch bald vollgesichelt. Sie schlang die Bänder desselben zusammen, steckte die Sichel in das festgepackte Gras und hob das Bündel auf einen niedrigen Steinblock am Rande des Abhangs, um sich so dasselbe leichter auf den Kopf zu helfen. Im Begriffe dies zu tun und dann den Heimweg anzutreten, schlug der halb verlorene Ton einer wohlbekannten Stimme an ihr Ohr. Sie hielt inne und kehrte sich dem Buschwerk hinter dem Steinblock zu. Von dorther kam die Stimme, welcher jetzt eine lautere begegnete, eine weibliche, Rosi machte eine Bewegung des Schreckens. Dann schickte sie sich mit der Miene gewaltsamer Selbstüberwindung an, ihr Bündel aufzunehmen. Aber sie tat es nicht: das ging denn doch über die Natur des Weibes.

Nachdem sie einige Augenblicke stillgestanden, wie schwankend und zagend, wandte sie sich mit auf dem bemoosten Rain unhörbaren Tritten gegen das Gebüsch zu, glitt hinein, blieb dann inmitten der Blätterhülle stehen und bog vorsichtig die Zweige und Ranken auseinander. So konnte sie auf einen kleinen freien Platz hinaussehen, dessen betaute Rasenfläche in der Morgensonne glänzte.

In der Mitte der abschüssigen Lichtung stand ein Ahorn, bei dessen Anblick die arme junge Frau unwillkürlich des Ahorns droben vor dem Fenster ihrer Mädchenkammer in der Zwihl denken mußte, wie ja oft gegenwärtiges Leid durch die plötzlich ihm sich gesellende Erinnerung an vergangenes Glück noch bitterer gemacht wird. An dem Ahornstamm lehnte die Kugelbüchse Ruodis. Sein »Habersack« lag am Boden und diente einem Frauenzimmer zum Sitze, dessen modischer Anzug zu der Umgebung einen grellen Gegensatz bildete. Vor der Dame stand Ruodi, in lebhafter Erörterung begriffen; aber sein Gesicht war düster, und seine Augen blickten unter den zusammengezogenen Brauen hervor mit einem seltsam aus Neigung und Abneigung gemischten Ausdruck auf Schwarzelfi.

Denn »Schwarzelfi!« flüsterte ein stechender Schmerz in Rosis Brust.

Das Vagantenkind war ein Weib von ganz eigentümlicher Schönheit geworden. Diese zierliche Figur mit dem runden Köpfchen, der olivenbräunlichen, zart inkarnierten Gesichtsfarbe, den feingeschnittenen Zügen voll Spott und Frivolität und den schwarzen Sammetaugen, die sich so verführerisch aufschlugen – ja, sie mußte auch auf ganz andere, auf charakterfestere Männer, als der Ruodi einer war, anziehend wirken.

»Sie ist schön – schön wie, wie die Sünde!«

War das eine letzte Regung wilder Eifersucht, was so in der armen Rosi sprach, oder was war es sonst? Sie horchte angestrengt, denn wenn auch durch ihre Lauscherrolle tief vor sich selbst gedemütigt, hätte sie jetzt nicht um die Welt ihren Platz verlassen mögen.

»Es geht nicht, wenigstens nicht auf der Stelle; man kann die Sache nicht übers Knie abbrechen,« schloß der Ruodi seine Auseinandersetzung.

Elfi schwieg eine Weile und schlug ihre in grauen Sammetstiefelchen steckenden Füßchen, die so allerliebst kokett unter dem Saum ihres bauschigen Seidenkleides hervorguckten, spielend aneinander. Dann sagte sie:

»Es geht nicht? Dummes Wort! Es geht nichts von selber; man muß es gehen machen, und kurz und gut, ich will nicht länger warten.«

»Aber, Elfi, sei doch nur um's Himmels willen kein Kind!«

»Ein Kind? Ei, ich denke, schon dieses Wort sollte dich zur Eile anspornen. Sie, weißt du, gibt dir ja doch keine Kinder.«

»Herrgott!«

»Ei, was ist da zu lamentieren? Ich bleib' dabei, ich mag nicht länger warten. Meinst du, ich sei hierher gekommen, nur um mich da in der garstigen Spelunke, der Höllenschwärz da unten, zu langweilen oder mir von Leuten wie das Bartbibbeli Sottisen sagen zu lassen? Nein, ich will meinen Zweck erreichen, das merke dir! Ich will ins Rütli einziehen und zwar bald möglichst, als deine Frau, verstanden? All diesem dummen Bauernvolk zum Trotz und zum Possen! Wir bleiben dann dort bis zum Herbst, denn länger hielt' ich's nicht aus. Dann verkaufst du das ganze Gerümpel, und wir ziehen mitsammen nach Berlin, wo dir deine Kunst – du bist ja ein Künstler, Ruodi, vergiß das nicht! – ein reichliches Auskommen gewähren wird. Auch bist du ja außerdem nicht ohne Vermögen. O, wir wollen mitsammen leben wie die Vögeli im Hanfsamen.«

»Das wäre alles schön und gut. Aber mein Weib –«

»Die Rosi? Ah, sind etwa ihre Kuhaugen noch immer so anziehend für dich?«

»Du sollst nicht so von ihr reden, ich leid's nicht. Sie hat's wahrlich nicht um mich verdient.«

»Wirklich nicht? Seht mir doch einmal den empfindsamen Mann! Aber ich will gar nicht von ihr reden, um dein ehemännisches Zartgefühl nicht zu beleidigen. Sieh du zu, wie du mit ihr fertig wirst. Das ist deine Sache, mein Lieber.«

»Du hast gut reden, Elfi!«

»Ich rede, wie ich muß, wenn ich auf meinem Recht bestehen will, und das will ich. Ich wollte deine Frau werden, schon vor Jahren, und das will ich noch, und wenn alle Windgellener darüber verrückt würden. Daß ich es wollen darf, wollen muß, weißt du recht gut, ebenso, wann und wo und unter welchen Umständen du mir es feierlich versprochen.«

»Ja, Elfi, aber –«

»Aber du meinst, versprechen sei leichter als halten?«

»Nein, aber eine Angelegenheit von solcher Wichtigkeit und Schwierigkeit läßt sich nicht so Knall und Fall abmachen. Bedenk' doch nur, ich habe, wenn ich auf Scheidung von meiner Frau antrage, alles gegen mich. Ich kann ja, was Rosi betrifft, keinen Grund vorbringen, nicht den Schatten eines Grundes.«

»Ei was! Warum nicht gar! Du magst sie nicht mehr, erster Grund; sie ist unfruchtbar und du willst Kinder haben, zweiter Grund; du willst eine andere heiraten, dritter Grund. Es müßte doch wunderlich zugehen, wenn daraus ein tüchtiger Advokat, nach welchem du dich unverweilt umsehen mußt, nicht ein Messer schmieden konnte, welches das Band deiner Ehe zerschneidet, 's ist ja ohnehin nur noch ein Faden, was sag' ich? nur noch ein Fädeli, weißt du? Kaum der Rede wert.«

»Du stellst dir das alles viel zu leicht vor, Elfi. Wenn nun Rosi nicht will?«

»Firlefanz! Sie wird wollen müssen. Aber hör', Ruodi, wir haben jetzt lange genug hin und her geredet und kämen zuletzt gar noch ins Zanken hinein, was sich allenfalls unter Eheleuten schickt, nicht aber, unter Liebesleuten. Also, mein gutestes Männiken, wie die Berlinerinnen sagen, es bleibt bei unserer Verabredung von gestern. Es ist dumm, daß du jetzt gerade in Dienst mußt; aber ich begreife, daß du nicht ungerne gehst: es mag dir unter obwaltenden umständen daheim etwas schwule vorkommen. Laß mich nur erst ins Rütli eingezogen sein, es wird dann daselbst schon munterer zugehen, ganz so, wie es in dem Haushalt eines Künstlers zugehen muß, wenn er nicht versauern und verbauern soll, weißt du?«

Er sah die Sprecherin finster an, wie keineswegs sehr erbaut von der Aussicht in die Zukunft, welche sie ihm eröffnete.

»Pfui doch, Ruodi,« sagte sie darauf mit ihrem reizendsten Lachen, »pfui, welche garstigen Runzeln da zwischen deinen lieben schönen braunen Augen, die mir's leider schon angetan haben, als ich noch ein pures Kind war, wie du meintest. Aber laß uns vernünftig reden, Liebster. Du warst doch gestern so entschlossen, und heute – aber ich will dir keine Vorwürfe machen. Ich bin kein Zankeisen, ich, sondern nur dein armes, närrisches Elfi, das dich glücklich machen will und sich selbst damit auch ein bißchen, nicht wahr?«

Sie wußte das mit einer so schmelzenden Modulation der Stimme zu sagen, und ihre Augen blickten so zärtlich bittend, daß das Gesicht des schwachen Mannes sich aufhellte. Der Zauber seiner Verführerin waltete wieder voll und ganz über ihm, wenigstens für den Augenblick.

Die lauschende Rosi bemerkte es wohl. Vorhin, als er Elfi verboten, übel von seiner Frau zu reden, war in ihrer Seele noch ein letzter Hoffnungsfunke aufgeglüht. Jetzt erlosch er. Da mußte sie doch mit beiden Händen in die Ranken greifen, um sich auf ihren Füßen zu halten.

»So, Ruodeli, so gefällst du mir!« sagte Elfi wieder. »Und also von Thun aus tust du unverzüglich die nötigen Schritte wegen der Scheidung, nicht wahr?«

»Ich werde alles tun, um dich zufrieden zu stellen; aber verlange du nur nicht platterdings Unmögliches. Es ist sicher für dich und für mich das klügste und beste, wenn ich in Frieden und Güte mit der Rosi – sein schönes armes Weib war ihm also nur noch »die Rosi« – abzukommen suche. Sie wird sich wohl fügen und in die Scheidung willigen, wenn sie erfährt, wie die Sachen nun einmal liegen. Sobald ich aus dem Dienst zurückkomme –.«

»Nein, nein!« unterbrach ihn Elfi heftig, mit dem Fuß aufstampfend. »Du kannst die Sache ebensogut brieflich von Thun aus einleiten. Ich mag mich nicht länger so hinziehen lassen, ich mag nicht, hörst du? Hab' ich doch das Leben in der Höllenschwärz schon jetzt gründlich satt, und was das Dorf betrifft, so machte ich gestern beim Kirchgang die Erfahrung, daß ich dort erst dann mit Sicherheit auftreten kann, wann ich deine Frau bin. Also kein Hinziehen, kein Zögern, nein!«

Diese Heftigkeit berührte den Ruodi offenbar sehr unangenehm. Er schwieg verstockt. Aber Elfi glaubte ihrer Herrschaft über ihn sicher zu sein und fuhr daher fort:

»Merke dir's, mein Teurer, was ich schon gestern und vorgestern sagte, dabei bleib' ich. Du hast die Wahl – die Wahl zwischen mir und der Rosi, zwischen einem freien, fröhlichen Künstlerleben in dem lustigen Berlin und einem trübseligen Hindämmern zwischen den einfältigen Bergen da. Nun wähle! Wenn ich nicht binnen längstens acht oder zehn Tagen die triftigsten Beweise zur Hand habe, daß du mit Entschiedenheit die Scheidungssache betreibest, so weiß ich, was ich zu tun habe.«

»Was?«

»Ei, was sich von selbst versteht. Ich gehe wieder hin, woher ich gekommen. Mein guter alter närrischer Baron wird mich mit offenen Armen aufnehmen; denn es macht ihm ja Spaß, meinen Großpapa zu spielen. Aber bedenke wohl, ich werde allein gehen, hörst du? allein. Du kannst dann zusehen, wie du mit allem fertig wirst, was ich hinter mir zurücklasse.«

»Elfi!« sagte er mit zornigem Vorwurf.

»Ruodi, liebster Ruodi, sei ein Mann, und alles wird gut werden.«

Dies sagend sprang sie auf, schnellte sich ihm mit dem Sprung einer Lacerte an den Hals, strich ihm schmeichelnd die Haare aus der Stirne, funkelte ihn mit feuerwerfenden Augen an und überhäufte ihn mit stürmischen Liebkosungen, welche er nicht von sich wies.

Rosi hatte genug gesehen, genug gehört. Mit brennenden Wangen und pochenden Schläfen wankte sie rückwärts aus ihrem Versteck, und als sie draußen auf der Matte im Sonnenschein stand, hätte sie die Sonne fragen mögen: »Kannst du denn, darfst du denn das alles bescheinen?«

Dann preßte sie die Hände auf die Brust, als wollte sie das furchtbare Hämmern ihres Herzens unterdrücken, und flüsterte in sich hinein:

»Da ist eine zuviel in der Welt, und die bin ich!«

Sie stand einige Minuten schwankend, schwindelnd. Ein Meer von Weh warf Wogen in ihrer Seele. Endlich murmelte sie wie irrsinnig:

»Ich möcht' wohl den Wildsee wieder mal sehen.«

So ging sie die Bilgismatte aufwärts, immer aufwärts, bis sie zu der Felswand kam, die hinter der Rütlihalde aufsteigt. Sie warf keinen Blick nach ihrem Hause hinunter, sie sah es gar nicht, sondern ging immer zu, sich in das Schluchtengewinde vertiefend, welches um den östlichen Abhang des Glanzhorns hergebreitet ist. Dem daherrauschenden, da und dort von Lawinentrümmern überbrückten Bach entgegen stieg sie höher und höher in die Wildnis hinauf, als hätte sie der Welt und den Menschen entfliehen wollen, für immer.

So mochte sie eine Stunde und noch länger gestiegen sein, als sie, um einen Vorsprung der Bergwand biegend, den Wildsee in seiner tiefen Mulde vor sich liegen sah.

Es ist eine Szene von unendlicher Traurigkeit. Von drei Seiten steigen die Granitwände schroff und nackt empor, und in diesem Kessel breitet der kleine See seine dunkle Wassermasse aus. Mit grauen Moosbärten überhangene Arven stehen um das Ufer her und beleben nicht, sondern erhöhen nur das Düster einer Öde, die einem das Herz beklemmt. Man muß den Kopf weit in den Nacken zurückwerfen, soll das in diesem Felsenkerker gefangene Auge droben ein Stückchen blauen Himmels erhaschen. Selbst wenn die Sonne im Zenit steht, herrscht hier unten ein kaltes, bleiches Dämmerlicht, und die unheimliche Stille wird nur momentan durch den Pfiff eines Murmeltiers droben am Firnschnee unterbrochen oder durch den heiseren Schrei eines über die Schlucht hinschwebenden Geiers.

Rosi war dem See bis auf wenige Schritte nahegekommen, als sie zusammenschrak und stehen blieb.

Am Ufer saß ein Mann auf dem Stamm einer von der Zeit gefällten Arve. Er hatte die Arme auf die Knie und den Kopf auf die Hände gestützt. So schien er schon lange gesessen zu haben, auf die düstere Wasserfläche starrend. Jetzt aber wandte er den Kopf der Kommenden entgegen, und Rosi erkannte den Pfarrer.

Sie erwachte wie aus einem schweren Traume.

»Es sollte nicht sein,« sprach sie bei sich, »o, mein Gott, es soll nicht sein!«


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