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Noch fehlten die letzten Fahrtgenossen.
Ein Waggon knirschte langsam heran. Fahnentuch mit den amerikanischen Farben darübergebreitet. Soldaten mit geschultertem Gewehr marschierten nebenher. Trauermusik breitete sich über den Zug. Vor dem Schiff erstarrte er.
Die Stricke fielen herab. Vorsichtig schwebten die Kisten in die Höhe. Die Heimkehrer drängten hinzu und bildeten Spalier, als die Särge in die Luke hinuntergelassen wurden. Das war auch eine Heimkehr.
Bembel glaubte, die stillen Männer deutlich vor sich zu sehen. Amerikanische Soldaten, die in Plänkeleien gefallen oder in Lazaretten gestorben oder in Kneipen erstochen worden waren. Alle kamen zurück, um in der Erde der Vereinigten Staaten bestattet zu werden. Keiner blieb in Sibirien. Jedem Schiff wurden Särge mitgegeben.
Die Leichenhalle hatte neben der Baracke gestanden, und an jedem Morgen waren von den Gefangenen Abteilungen abkommandiert worden. Wer sich hatte drücken können, drückte sich.
Bembel lag ein süßlicher Geschmack auf der Zunge.
Er war dabei gewesen, mit dem Kesselschmied, dem Kleckermaxe und Müller, als die Toten, die jetzt im Schiff heimreisten, für die Heimkehr vorbereitet wurden, hatte Hand anlegen müssen, und fühlte noch jetzt die Starre der Glieder, die er angefaßt hatte. Die Kälte, das Totsein. Jede Leiche wurde schön gemacht, ausgezogen und gewaschen. Ein Sanitäter rasierte sie und spritzte ein Konservierungsmittel ein. Dann wurden neue Uniformstücke angezogen. Den kostbaren Eichensarg stellte man in eine Zinnhülle und die in eine große Kiste. Und darauf wurde der Name, das Regiment und der Heimatsort des Toten gepinselt, das Fahnentuch darübergedeckt.
Nun ruhten sie in der Tiefe des Schiffs.
Die Nebel ballten sich, als die Jerusalem in die See stach. Sie legte sich etwas auf die Seite, wie um mit dem einen Ohr den Wellen näher zu sein, und pflügte, abgearbeitet und pflichtbewußt, einen langen, breiten Strich ins Wasser.
Langsam versanken die grauen Berge der Küste. Das Meer fraß die Insel, die dem schmalen Einfahrtstor vorgelagert war, und verschlang den feinen Strich, der sich, letztes Festland, über den Spiegel hinzog. Klarer und klarer wurde die Luft. Die Nebelfetzen flüchteten, und nun spannte die hochgewölbte Kuppel des Himmels einen stolzen Bogen über den Wasserberg. Er schien nicht endlos zu sein. Eine gewölbte Scheibe, und darüber eine Glocke. Immer aufwärts fuhr die Jerusalem, und nimmer ging es abwärts, wie sehr auch die staunenden Neulinge sich sagten: dort hinter der Linie, an der Himmel und Meer zusammenstoßen, da ist das Gefälle.
Der Steuermann, Zufriedenheit auf dem Gesicht (er war mit dem Geschäft, das er mit dem Oberleutnant gemacht hatte, sehr zufrieden), stand am Heck und schaute dem Tosen der Schrauben zu, die, unsichtbar, das Wasser aufwühlten und in wildem Wirbel von sich stießen. Gischt sprühte und säumte die Fahrspur, die einen fast glatten Spiegel zeigte, während außerhalb ihres Bereichs die Wellen tänzelten. In trägem Bogen schaukelte die lange Leine des Knotenmessers hinterher, und das Rädchen oben an der Uhr drehte sich und surrte, klapperte, rasselte und eilte.
Der Kantor, mit der schmauchenden Pfeife, tastete neugierig an das flinke Rädchen. Es stand gleich still, und die Leine begann, der Gewalt der kleinen Schraube im Wasser gehorchend, sich krampfhaft um sich selbst zu wickeln. Der Kantor aber verspürte einen Ruck.
»Was«, rief der Briefträger erschreckt, »du hältst den Knotenmesser an.« Es sagte niemand mehr Uhr, in drei Stunden hatten sie den Fachausdruck herausgekriegt. »Du hältst den Knotenmesser an? Wann soll'mer denn da nach Hause kommen?«
Ein schallendes Gelächter.
»Du denkst wohl«, belehrte Kröger, »das Schiff steht deswegen, Schafskopp. Wir fahren auf Schwarz, Mensch, unterschlagen die Knoten. Wir kommen ohne Kilometer zu Muttern, Mensch!«
»Du, mir wird's so dumm im Schädel!« seufzte Klein, der hinzugetreten war.
»Mir auch!« bekannte der Briefträger.
»Was ist das denn?« ermunterte der Kantor. Aber auch er war kalkigweiß.
Sie spürten Fauliges in der Kehle. Sie legten sich. Mühlsteine schwankten im Schädel.
Der Morgen strahlend hell.
Das ganze Schiff funkelte unter dem Kristall der Feuchtigkeit, die der Nebel abgesetzt hatte. Am Geländer, an den Tauen, an den Seilen, an den Masten hingen leuchtende, flimmernde Tropfen, die langsam herabfielen, zu winzigen Strichen zusammenflossen und im dichten Netz von Flüßchen nach dem Wasser draußen hinstrebten.
Es war ein Fest. Ein tiefblauer, unendlicher Himmel, undurchdringlich in seiner satten Farbe, spiegelte sich im Meer. Hier und da liefen kleine weiße Kämme darüber hin. Kühler Wind strich über die runde Wasserfläche. Und dort, wo sie mit der Bläue zusammenstieß, hoben sich Wellen scharf ab.
Klein ging nach dem Vorderdeck, auf dem die Entfernung bis zum nächsten Hafen, in dem die Jerusalem halten sollte, um Kohlen aufzunehmen, und die tägliche Leistung des Schiffs verzeichnet waren. Mororan, ein nördlicher Hafen Japans – richtig, die Jerusalem fuhr auf der heimtückischen Japanischen See. Wie freundlich sie sein konnte, und wie viele Schiffe lagen schon auf ihrem Grund!
Ein leichtes Grauen kam ihn an, ein Grauen vor dem Tod im Meer. Er lauschte auf das scharfe Zischen, auf das Gurgeln, mit dem die Wasser gegen die Schiffswände drängten und grollend davoneilten.
Der Arzt konnte von seinem Fenster aus (die große Kabine mit dem anstoßenden Operationszimmer lag erhöht als »erster Klasse«) das ganze Vorderdeck und einen Teil des Hinterdecks übersehen. Er sah die Leute da auf- und abgehen und konnte den Vergleich nicht loswerden, daß die Jerusalem ein großes Geschwür sei, das wie eine Qualle über die Meere schaukelte, um sich dann auf den Volkskörper zu setzen. Der Arzt lachte. Wie unlogisch. Wußte man nicht, daß das Geschwür weiterfressen würde, und dennoch brachte man es liebevoll mit dem Schiff dahin, wo es Unheil anrichten konnte. Aber freilich, der Familienvater sehnte sich, der Mann sehnte sich, der Sohn sehnte sich, der Bräutigam sehnte sich. Und die daheim, die sehnten sich auch. Also ...
Der Arzt sprang auf. Der weiße Kittel flatterte erregt hin und her. Heimat! Er hörte noch die Schreie der Sterbenden in den Krankensälen von Nikolsk-Ussuriski, zu Hunderten starben sie am Typhus. Fiebrige Augen sahen die heimatlichen Wälder, sahen das Heimatdorf. Zuckende Lippen sprachen im Wahn mit der Frau und den Kindern. Der Freund sollte sich zum Spazierengehen fertigmachen. Söhne sagten dem Vater, er sollte nicht knausrig sein mit dem Taschengeld. Schüler, ergraute Männer: alle erlebten das übermächtige Sehnen.
Der Arzt hörte wieder das »Hier«, das sich den Leuten beim Verladen auf das Schiff aus der Kehle gerissen hatte. Das war auch solch ein Schrei gewesen. Ein gewaltiger, hemmungsloser.
»Alter Freund!«
Der Kesselschmied ließ seine schwere Pranke dem Oberleutnant auf die Schulter fallen.
»Alter Freund, weeßt du, wie viele Pullen ich heraufgebuckelt habe?«
Der Oberleutnant dachte: wie recht ich hatte, jetzt kommt's!
»Weeßt du, wie lange ich gearbeitet habe, um die Flaschen aus den Rucksäcken der unsicheren Kantonisten herauszuholen und zu dir und deinen Freunden zu schleppen!«
»Was hhast du denn von Mmmanteufel gekriegt?«
»Von Manteufel, der hat mir eine Pulle gegeben!«
»Eine?«
»Denkste mehr? Nee, Brüderchen, so wett' mer nicht. Meine Knochen sind auch Geld.«
»Sollst ja kkkrie-gen, soll-st ja kriegen. Aber wwir mmüssen erst das Zeug an ddie Lleu-te heranbringen. Und dda gibt es viel zu ttun. Da kannst hhel-fen.«
Der Oberleutnant überlegte: eine Gefahr war das Aas in jedem Fall. So oder so. Darum: noch möglichst viel aus ihm herausholen. Das konnte nichts schaden. Je länger der Riese bei der Stange blieb, um so besser.
Der Oberleutnant zog den Kraushaarigen fort und sprach hastig auf ihn ein.
»Wir mmmüssen handeln, solange ddie Sttimmung der Leute in den ersten Wwwochen noch aufgeräumt ist.«
Der Oberleutnant grinste: Was er da sagte, war nicht die Hauptsache. Günstig war das erste Heimkehrfieber für ihn darum, weil es die Wut auf ihn jetzt überdeckte. Alle machten ihn verantwortlich, daß der Arbeitslohn gekürzt war. Lächerlich. Was half es, daß er im Recht war? Die andern waren wütend, basta. Damit mußte er rechnen. Wer weiß, ob die Wut jemals verrauchen würde? Aber jetzt loderte sie offen. Darum: handeln! Er selbst mußte möglichst im Hintergrund bleiben. Die andern mußten vor, die Freunde. Aber wenn man die sah, dachte man auch an ihn. Darum auch Unbeteiligte vorschicken. Recht besehen, war da der Kesselschmied gut zu verwenden. Der flößte Respekt ein. Der schlug dem, der nicht zahlen wollte, die Knochen kaputt.
Der Oberleutnant klopfte dem Kesselschmied anerkennend auf die Schulter, zog die Hand aber gleich wieder zurück. Was tat er da? Der Kesselschmied war imstande, bei jedem anerkennenden Schlag die Ansprüche um ein paar Pullen zu erhöhen. Das fehlte noch. Gleichgültig, mit sehr viel Kühle in der Stimme, instruierte der Oberleutnant. Der andere guckte bösartig drein:
Die erste Nummer der »Fliegenden Seeschlange« war erschienen.
Die Blätter waren über das Deck geflattert, und jeder hatte einen dieser hektographierten Ergüsse in der Hand. Niemand wußte: wo wurde die Bordzeitung geschrieben, wo hergestellt, wer waren die Verfasser? Alles war anonym. Kleine Aufsätze über das Bordleben. Die Ereignisse sorgfältig und oft witzig festgehalten. Dazu Zeichnungen. Ein paar Anzeigen. Alles flott gemacht, mit Sachverständnis hingeworfen. An spannenden Andeutungen fehlte es nicht. In einer Plauderei wurde beschrieben, wie die Gefangenen aufs Schiff gingen. »Sie alle trugen eine kostbare Last, die Hoffnung,« hieß es da, »viele aber trugen weit mehr.«
Kunowski überflog die Zeile noch einmal. War das nicht eine Anspielung? Er stieß Manteufel in die Seite, und der hielt die Zeitung ten Hoven unter die Nase. Der sagte nichts, lächelte höhnisch. Und Erdmannsdörfer gab sich mit einem Brummen zufrieden.
»Dem Oberleutnant zeigen!« flüsterte Kunowski.
Der Oberleutnant runzelte die Stirn. Und der Wisch kostete nichts? Glänzende Idee übrigens. Schade, schade! Klotziges Geld hätte man damit verdienen können. Das hätte er in die Hand nehmen müssen. Zur Abwechslung einmal mit Moral handeln? Warum nicht? Das war ungefährlich und bequem.
»Vvvon wem mmmag das ausge-hen?«
Alle sahen sich an mit wissenden Blicken und schwiegen.
Dann:
»Es ist hhöchste Zzeit, Mmmenschens-kinder! Vvvorsicht vor der Schiffsleitung. Ihr wwwißt: Amerikaner sssind trockne Bbrüder.«
Fahle Dämmerung drückte hernieder. Die See wurde unruhig. Sie rauschte. Ein scharfer Wind fuhr mit gierigen Händen hinein und wühlte und knetete. Die Wellen, vom Bug zerschnitten, rannten schäumend und zornig davon.
»Gucke doch, wie das Meer immer grauer wird, wie die Bläue verwischt ist«, sagte Kröger.
»Das kommt von den Wolken,« erklärte der Kantor.
»Wie eine graublinde Haut aus den Wassern wächst,« flüsterte Bembel
»Es ist der Widerschein des veränderten Lichts,« gab der Kantor zurück.
»Und wie die Wellen einander jagen und weiße Mäuse aufeinanderhetzen«, lachte Schünemann.
»Donnerwetter, der Wind hat sich verstärkt« Der Briefträger schlug seinen Mantelkragen hoch.
»Und wie die Jerusalem keucht«, fuhr Bembel fort. Zerquetschte Angst lag auf dem Grunde der Silben.
»Sie hat nicht sehr starke Maschinen, und das Schiff ist alt, ein verbrauchter Kasten.« Schünemann ließ es leichthin fallen.
»Es ist wohl bald fertig?« Wieder dieses tote Grauen in der Stimme.
»Mensch, hör auf. Wenn wir an Land sind, wenn es uns abgesetzt hat, dann hat es Zeit genug.«
Das fehlte noch. Der Briefträger stieß seine Hände tief in die Manteltaschen.
»Ersaufen hier? Daraus wird nichts!«
Alle lachten. Das Lachen aber klang nicht frei.
Man verließ schnell das Thema.
Rasch sagte der Briefträger:
»Nur das eine wünsche ich, daß die Nachbarn so zartfühlend sind und mir nichts von der Frau erzählen. Dann muß ich den Schein wahren und gerichtlich vorgehen.«
»Aber du weißt ja gar nicht, ob deine Frau ...«
Der Kantor wagte die Einwendung. Er war Junggeselle und stand über den Parteien.
»Sei nicht so blöd', ich schließe immer noch von mir auf andere, immer noch, jetzt erst recht. Was mir recht ist, ist der Alten billig.«
»Der Ansicht bin ich nicht«, erwiderte Kröger. »Da könnte ja ... Ich sollte nichts erfahren. Den Schädel schlüge ich ihr ein und den Wänstern mit.«
»Und wie willst du denn«, warf Schünemann ein, »in deiner Sache da mit der Frau fertig werden?«
»Ich?« Kröger war ganz verwundert
»Sagen kann man da doch nichts«, meinte der Briefträger. Aber er war sehr unsicher geworden.
»Kinder, entschließt euch«, kicherte der Kantor, »die Sache wird mit jedem Knoten, den wir zurücklegen, aktueller.
»Ja, was soll man denn da machen?«
»Unmöglich, der Alten zu sagen?«
»Ich sag' nichts!«
»Ich auch nicht!«
»Die Unruhe, die man da in die Familie brächte!«
»Was aber würde sonst entstehen?« warf Schünemann leicht hin.
»Sonst?«
»Ja, was sonst?«
»Abwarten.«
»Und Tee trinken.«
Kröger zwinkerte mit den Augen. Er konnte nicht geradeaus sehen. Was stand ihm da noch alles bevor? Dem Briefträger ging die Sache nicht aus dem Kopf. Das größte Malheur konnte entstehen. Wie sollte er enthaltsam leben? Was sagte dann aber die Frau? Ihr sagen, was los war?
»Ganz so skeptisch darf man die Sache wohl nicht ansehen«, beruhigte der Kantor. »Ich glaube an eine Besserung. Es gibt genug Kameraden, die einen tüchtigen Spezialisten aufsuchen wollen.«
»Heilung ja, aber wann?«
»Man sollte«, bekräftigte Schünemann, »die Hoffnung nie ganz aufgeben.« Er empfand Mitleid mit den Leuten. Das mit dem Spezialarzt war doch sehr ungewiß. Toll, dachte Schünemann. Wo lag da eigentlich ein Sinn? Schuld? Ist der Krieg für den Kriegsteilnehmer eine Schuld? Die Gefangenschaft? Deren Folgen? Nein – und doch die Strafe? Er sah die andern an. Sie ließen die Schädel hängen.
»Die Heilung ist nämlich«, fing er an, »nicht für alle Zeiten sicher. Die Krankheit kann jederzeit ausbrechen oder sich in den Nachkommen zeigen.«
»Hört 'mer auf mit den Nachkommen«, platzte der Briefträger grob dazwischen ... Ihm stand die Geschichte bis obenhin.
Nun fingen die auch noch von Nachkommen an. Warum überhaupt die Kopfhängerei? Man kam sich vor wie ein Verbrecher. Hatte man das nötig? Dazu die Lausekälte. Er würde hinuntergehen und sich einen warmen Tropfen in den Schlund gießen. Das war gescheiter.
»Kommt mit runter, da nehmer einen. Was hilft denn die Grübelei hier?«
»Haste was?«
»Na ob. Nur keene Angst. Auf dem Kasten hier wird der Stoff nicht ausgehen.«
»Der Oberleutnant hat an alles gedacht«
Sie gingen lachend hinunter.
Es wurde eine unruhige Nacht. Die Hängematten schaukelten. An den eisernen Wänden rieselte es herab. Und auf dem Boden sammelten sich kleine Tümpel. Gegen die bleieingefaßten Bullaugen klatschte Regen. Der Wind heulte durch die Luftschächte.
Schünemann zog sich am Geländer hoch und ging aufs Deck. Es war glitschrig. Er taumelte und griff, Halt suchend, in einen Strickhaufen. Dabei gewahrte er, den Blick nach oben, eine fahle Dämmerung mit schwarzen Wolkenballungen. Die elektrischen Birnen am Schiff verbreiteten ein spärliches Licht. Weiße Wellenkämme drängten sich über das Geländer, fletschten wütend die Zähne, spritzten auf, warfen ein lockeres Netz von Tropfen herauf, liefen schnell zurück, zurück ins Wellental, das dem Berg der Sturzwelle schnell gefolgt war. Die Jerusalem glitt über weite Höhen und tiefe Täler, sank ein, arbeitete sich stoßhaft durch und ward hin- und hergezerrt. Nichts zu sehen als das undeutliche, schwarze Durcheinander der zürnenden Wellen, nichts zu hören als ihr dunkles, klatschendes Gemurmel.
Schünemann starrte in das Dunkel.
Weit hinten auf dem Meer erschien ein tiefschwarzer Fleck mit schwankenden Lichtern. Er erkannte die schattenhaften, verfließenden Umrisse eines Schiffs, das sich in entgegengesetzter Richtung mühsam durch die Wellen kämpfte. Unerschrocken brach es hinein in die trostlose, weglose Nacht.
Als der geisterhaft zuckende Schatten immer tiefer in die Finsternis hineingewachsen war und nur noch ein paar Lichter schwach flackerten und glänzten, fühlte Schünemann Abschiedsweh. Ihm war, als hätte sich ein guter Gefährte von ihm losgerissen.
Geduckt stieg er in den Schiffsleib zurück. Die Kameraden lagen in den Segeltuchmatten wie Maden in den Eingeweiden. Blaß, elend, hilflos. Und er warf sich auf sein Lager, starrte, horchte und träumte im gequälten Halbschlummer.
Vielstimmig pfiff draußen das Meer. Mit verhaltener Wucht stampften die Maschinen. Die Schrauben rauschten. Und wenn das Hinterschiff über die Wellen emporgehoben wurde, schwiegen die Schrauben, und der Herzschlag der Jerusalem stockte dann.
Am andern Morgen war die See noch leicht bewegt. Die Morgensonne spielte zärtlich über die Jerusalem, über die schäbigen, farbabgeblätterten Flecken am Stahlplattenkleid. Schlecht zugeheilte Hautabschürfungen waren's, und es tat ihnen wohl, daß die helle, freudige Wärme mit weichen Händen über sie hinstrich.
Am Himmel zogen weiße Wölkchen.
Die Glocke brummelte. Mit großen Zinkbechern stürzten alle in die Küche und holten den Tee und die Brötchen. Dann setzten sich Unbesorgte auf die Reling oder sie kletterten in die über dem Wasser schwebenden Rettungsboote.
Kramm hatte ein zweites Maul zu bedienen. Er lehnte auf dem Vorderschiff an einem Strickhaufen, gönnte sich ein paar Bissen, riß große Brocken ab, und schnapp: unverwandt starrte der Hund mit runden Augen die Semmel an. Er winselte leise.
Kramm hatte den letzten Bissen in seine grauen, eingefallenen, stoppligen Backen gesteckt und einen tüchtigen Schluck aus dem Zinkbecher getan. Dann schlurrte er mit schweren Schritten fort. Die strahlend helle Sonne warf den Höcker im breiten, verzerrten Schatten quer über das Deck: der Hund sprang auf, rannte seinem Herrn nach und rieb sich wild an seinem Bein. Aber der Alte ging weiter, ging in eine Ecke, setzte sich und stopfte sich das Pfeifchen. Der Hund kauerte sich zu seinen Füßen. Und nun holte Kramm ein paar alte Brötchen hervor, die er sich in der Küche hatte geben lassen. Und schwupp – schwupp – flogen sie in den Hunderachen.
Er graulte dem Tier hinterm Ohr, sah aufs Meer hinaus und trank sich satt an der reinen Bläue. Wie herrlich, wie sauber das alles. Was er in den letzten Tagen auf dem Schiff hatte erleben müssen! Er kam einmal zum Arzt, als der gerade einen Fortgeschrittenen beguckte. Einen, der erst spät in die ärztliche Behandlung gekommen war und jeden Tag zum Arzt mußte. Der Kranke hatte das Hemd herabgezogen. Ganz weiß war der Körper, wie gekochtes Fischfleisch. Und (Kramm drückte die Augen zu) der Rücken war mit roten Sternen kreisförmig übersät. Die Ohren waren an den Rändern aufgebrochen, als wären sie erfroren.
Und dasselbe wird auch ... er vielleicht auf den Körper bekommen.
Wo sein Körper in der Sonne braun gebraten war, kaffeebraun! Was soll seine Frau sagen, was die Kinder?
Die haarige, klotzige Hand fuhr über die Augen, und der schwere Schädel fiel aufs Knie. Der Hund winselte, sprang am Bein empor und leckte die knotige Hand. Kramm verfiel in trübes Nachdenken.
Der Hund spielte an der Reling. Ein Windstoß zerrte die Jerusalem plötzlich auf die Seite.
Und vielstimmig:
»Es ist einer ins Meer gefallen!«
Der Ruf elektrisierte. Das Schiff wurde lebendig.
»Wer ist über Bord?«
»Wer?«
»Der Hund!«
»Der Hund?«
Dort, in der Fahrspur, paddelte er. Man sah den vorgestreckten Kopf, der verzweifelt nach vorn strebte. Dem Schiff nach, das sich weiter und weiter entfernte. Immer weiter. Mit jeder Sekunde legte es eine höhere Unwahrscheinlichkeit der Rettung zwischen sich und den Hund. Immer kleiner ward er. Der Kopf war nur noch ein Punkt. Die Leute kletterten auf das Oberdeck, dann in die Rettungsboote, um den Hund zu sehen. Ja, dort war er. Jetzt sah man ihn nicht mehr, doch, dort tauchte er wieder auf.
Ein tosendes, schleifendes Rennen.
Alle sahen auf.
Ein breiter, viereckig verzerrter Schatten floß zum Hinterschiff. Ganz hinten, ganz hinten, am Ende des Schiffs war Kramm ans Geländer geschmiedet. Die Jerusalem fuhr, fuhr weg, fuhr weg von der Rettung, fuhr weg vom ringenden Leben. Und er stand am Geländer still, tat nichts, konnte nichts tun, und derweil fuhr das Schiff weg vom Hund, weg von der Rettung.
Entsetzen packte Kramm. Er wollte sich über das Geländer schwingen. Aber er stand gebannt, angeschmiedet, und das Schiff fuhr weg, fuhr weiter, floh vor der Rettung! Kramm war ans Geländer gekettet. Wächsernbleich. Starrte in die Ferne, keines Entschlusses fähig. Er sah nichts. Sein Blick suchte die Fahrspur ab, von da an, wo sie spitz anfing, bis ans Steuer, an die gurgelnden Schrauben, die immer neu die Straße aufwarfen. Die Jerusalem fuhr mit dreizehn Knoten. Doch Kramm suchte die Fahrspur ab, bis an den letzten Punkt. Wie einer, der auf der Straße etwas verloren hat und in leichter Höhe darüber hinfährt, vielleicht mit dem Auto, um das Verlorene zu finden.
Er fand den Hund nicht.
Seine Erstarrung löste sich. Der Hund, dahinten mußte er sein, weit hinten, da, wo das Auge nicht hinsehen konnte. Nicht da, wo das Schiff hinfuhr.
Kramm rannte zurück, rannte die schmale Treppe hoch, hinein in die Offizierskabine und gurgelte, die Faust nach hinten gestreckt:
»Mein Hund – da hinten muß er sein, weit da hinten. Nicht vorn!«
Die Offiziere sahen sich an. Der Hund?
»Ihr Hund ist ins Wasser gefallen?«
»Da muß er sein, weit da hinten. Nicht vorn!«
»Wir können nicht zurückfahren wegen eines Hundes. Ja, wenn es ein Mensch wäre!«
»Mein Hund!!« schrie Kramm. Die Offiziere sprangen auf. Der grelle Schrei hatte sie hochgerissen. Und vor dem kalkweißen, verzerrten Gesicht konnten sie nicht still sein. Sie fühlten eine Schuld.
»Da hinten – schnell – dahinten! Sie fahren fehl! Nur nach hinten müssen Sie fahren! Nicht nach vorn!«
»Wir können nicht. Wenn es ein Mensch wäre!«
»Mein Hund ist es!«
Schweren Schritts stieg der jüngste Offizier ins Kartenhaus, richtete das Scherenfernrohr in die Richtung der Fahrspur. Ja, dort hinten, weit hinten sah er einen winzigen Punkt, den die Wellen fortwischten.
Kramm drängte den Blick durch die kleinen Scheiben hinaus auf die See. Immer in der Richtung der Fahrspur. Er stieg hinunter, ging nach hinten ans Geländer, starrte in die Fahrspur und suchte. Suchte die Fahrstraße ab, von da an, wo sie spitz anfing, bis an die gurgelnden Schrauben.
Tausend Augen waren auf ihn gerichtet. Vom Oberdeck, von den Rettungsbooten und von den Geländern her.
»Da scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, Doktor.«
Der Kapitän stand breitbeinig vor dem Arzt.
Der war einsilbig und verschlossen. Mußte er den Kampf, der gegen die Landsleute entbrennen würde, schüren? Er mußte nicht. Gegen die Sache selbst konnte er nicht sein, schon als Arzt nicht. Aber er brauchte nicht die Trompete schmetternd zu blasen.
»Das Schiff ist nicht mehr trocken!« sprühte der Kapitän weiter.
Du auch nicht, dachte der Arzt. Denn des Kapitäns Gesicht schimmerte kupfern. Die Röte rührte nicht nur vom Sturm und von den Wellen, nicht nur vom scharfen Ost her.
»Die fellows stinken aus dem Hals!« setzte der Kapitän seine Epistel fort
Du wohl nicht? warf der Arzt in Gedanken ein.
»God damned, ich muß auf Ordnung halten. Ich kann es nicht dulden.« Der Kapitän wurde streng.
»Wenn die Leute trinken«, sagte der Doktor langsam, »ist es gewiß sehr unangenehm. Den kranken Körpern tut etwas anderes not!«
»Yes, ich werde Ordnung schaffen. That's an American ship. Und wer sagt denn, daß nicht auch die amerikanischen Soldaten anfangen?«
Da hast du recht. Mit dem stummen Gruß verabschiedete sich der Arzt.
Der Kapitän aber stelzte auf seinen kurzen, dicken Beinen fort.
Die »Fliegende Seeschlange« brachte Plaudereien, die Aufsehen erregten. »Nebel- und Gesprächsfetzen« war die Artikelreihe überschrieben. Und da las man Teile von Gesprächen, die der Verfasser zufällig gehört und ohne Erklärung offenbar so niedergeschrieben hatte, wie er sie gehört:
»Drei Dollars, feine Ware, es sind schon so viele Bestellungen da, daß du eilen mußt. Kannst sonst leer ausgehen.«
»Geld kriegste nachher.«
»Nein, jetzt!«
»Je mehr du nimmst, um so besser für dich!«
»Die ganze lange Fahrt wirst du keinen Tropfen kaufen können. Billig, nur ein paar Dollars. Die müssen aber gleich bezahlt werden, versteht sich.«
»Ihr seid die Richtigen!«
»Red' nicht, Nauke, nimm!«
»Ssseid vvorsichtig, mmehr vverteilen.«
»Da bleibt kein Auge trocken, Arthur!«
»Verlaß' dich drauf, die Sache geht schief!«
»Das fehlte gerade noch!«
»Wwwo wwwir mitten im Zzug sind.«
»Keine Bange!«
»Gleich größere Posten verkaufen, wenn es möglich ist.«
»Damit der Kram nicht ins Stocken kommt.«
»Höre mal, Arthur, willste nicht mal mit dem Kapitän, dem Fürsten, anbinden. Ich glaube, der hat auch Appetit.«
»Das schon. Aaber dder wwürde kurzen Ppro-zeß machen, Mmmenschenskinder.«
»Blöd, daß die Arztkabine so frei steht, von da oben kann man auch beobachtet werden.«
»Es wird schon schief gehn!«
»Aufpassen.«
Diese Gesprächsfetzen waren mit der Aufforderung veröffentlicht, in der Küche kurze Beschreibungen abzuliefern, die die Personen, die diese Gespräche gehalten hätten, in ihren Eigenarten darstellen sollten. Auch die Umstände, unter denen die Gespräche zustande kamen, sollten gekennzeichnet werden. Diese Aufgabe trüge gewiß zur Vertreibung öder Stunden bei. Außerdem schärfe sie die Beobachtung und erziehe zur Fixierung der Gedanken. Die besten und witzigsten Antworten sollten veröffentlicht werden.
Ein Geheul durchzitterte das Schiff. »Oberleutnant, äh« tönte es in allen Ecken. Man erinnerte sich plötzlich wieder, daß der Oberleutnant die Kürzung des Lohns im Grund verschuldet hatte. Nun holte er den letzten Rest aus den Taschen? Wer am meisten den Whisky hinter die Binde gegossen hatte und so die Leere des Geldbeutels am empfindlichsten fühlte, wetterte am lautesten. Ohnmächtige Wut geiferte aus den Schlünden. Unversöhnlich waren die, die überhaupt nichts mehr besaßen und nie mehr der Genüsse teilhaftig werden würden. Die Leute hoben drohend die Fäuste. Vergerben würde man den Oberleutnant, übers Knie legen würde man ihn. Die Brieftasche erleichtern, das war auch noch eine Aufgabe.
Der Oberleutnant zitterte vor Wut. Er würde die Redaktion mit ihren Schuften ausfindig machen, und dann würde er sie stürmen. Nachts. Das Meer sollte ein Drama sehen.
Er spuckte aus.
»Es ist Untersuchung!«
Wie Sturmwind war der Ruf. Wonach sollte gesucht werden? Nach Waffen?
»Du bist dumm, was weiß ich denn?«
»Nach Schnaps soll gesucht werden!«
»Wer hat denn Schnaps? Wer denn?«
»Das frag die andern, die ihn schon in den Gurgeln haben!«
Der Oberleutnant raste in den Schlafraum. Riß die Flaschen aus den Rucksäcken und streute sie in die Ecken. Wollte zum Hauptgepäck, zum Hauptvorrat. Da schrillte das Signal »Antreten!« Der Oberleutnant blieb angewurzelt stehen. Sollte er gehen? Sollte er bleiben? Auf den Backen brannten rote Flecken. Bleiben wollte er, vor die Soldaten wollte er sich stellen. In seinem Gepäck hatte niemand etwas zu suchen. Das war sein Eigentum. Das ging niemanden etwas an.
Gewehrkolben fielen auf die eisernen Treppenstufen. Das dröhnte und donnerte. Schritte schlurften. Der Oberleutnant sah sich um. Niemand war bei ihm. Verlassen. Die andern? Wo waren sie? Sie waren wahrscheinlich nach oben gegangen. Da kletterte er langsam nach.
Währenddessen betasteten die Soldaten die Schwimmwesten, rissen die Matratzen hoch und öffneten die Rucksäcke. Hier eine Flasche, dort eine, dort zwei. Und hier in der Ecke glänzte es auch. Zehn Flaschen, dort fünfzehn, hier acht. Im Hauptgepäck war ein kleines Lager versteckt.
Oben lange Reihen. Der Kapitän mit seinem Stab und den Bewachungssoldaten vor einer Pyramide glitzernder Flaschen.
Starre Augen, die bis zum gläsernen Berg Brücken spannten, über die gierige Wünsche, aber auch Hohn und Spott und Mitleidsregungen liefen. Die Gesichter blaß. Manche dachten: wozu das Theater?
Der Oberleutnant bebte. Wie ein entlaubter Baum, von Niederlage und Spott umheult, stand er am linken Flügel der ersten Reihe. Die Gamaschen hatte er nicht an. Hier brauchte er sie nicht.
Das schöne Geld verloren. Die Schufte, die sich an seinem Eigentum vergriffen. Ihm gehörte das meiste von dem, was dort lag. Der Coup, sein schöner Coup – nur zum vierten Teil gelungen. Noch zehn Tage, und der Auftritt wäre ihm schnuppe gewesen. Wehe dem, der ihm das eingebrockt hatte!
»Schankwirtschaft!« Aus der Mitte der Angetretenen kam der höhnische Ruf.
»Herr Oberleutnant, äh – vor die Front!«
Der Oberleutnant rührte sich nicht. Der Blick kroch nach innen.
»Her Oberleutnant, wo sind Sie denn?«
War das nicht Krögers Stimme?
Der Oberleutnant blieb unbewegt. Sein Blick streifte jetzt frei im hellen Zorn hinüber nach denen, die seine Flaschen gestohlen hatten.
Neben dem Kapitän stand der Dolmetscher.
»Wem die Flaschen gehören, trete vor!«
Wie wenn der Wind durch den Wald harft, strichen die Worte, die niemand erwartet hatte, durch die Versammelten. Die noch ein paar Flaschen in der Masse hatten, die kleinen Leute, die ein paar Cents verdienen wollten, hofften, hofften so, daß das Herz wie ein Hammer gegen die Rippen schlug. Die andern aber, die eine größere Anzahl Flaschen im Geschäft hatten, waren die Freunde. Gott sei Dank, dachte der Oberleutnant. Sonst würde er gelyncht werden. Man würde ihn dann auch noch für den Schaden verantwortlich machen.
»Also vortreten, wem die Flaschen gehören!«
Eine Bewegung.
Manteufel war es, der zuerst vortrat. Frank und frei. Aus den Pechäuglein sprang der Schalk.
Der Kapitän streckte verwundert den Kopf vor.
»Was, alle Flaschen???«
»Nein, Herr Kapitän, nur dreißig Flaschen!«
»Nur dreißig Flaschen?« Das tönte wie Donnergrollen. Dennoch klang Erleichterung durch. Aber neue Angst stand dahinter.
Der Kapitän notierte.
Und fragte wieder.
Der Zweite war Kunowski. Die versteinerte Vornehmheit. Was, er hatte auf dem Fechtboden gestanden und sollte sich hier genieren?
»Fünfzehn Flaschen!«
»Fünfzehn Flaschen?« Der sture Bück des Kapitäns betastete die beleibte Pyramide.
Als Dritter trat ten Hoven vor. Er rang mit sich. Sollte er den ganzen übrigen Bestand angeben? Dann rettete er vielleicht das Ganze. Schöner Eindruck, wenn er angab: das Ganze gehört mir. Ein bißchen blamabel. Immerhin, auch das hätte er auf sich genommen. Doch er wußte nicht, ob nicht auch der Oberleutnant vortreten würde. Gewiß würde der vortreten. Das war doch selbstverständlich, ten Hoven bedauerte, daß es nicht mehr möglich gewesen war, einen Feldzugsplan zu entwerfen. Niemand hatte eine gewaltsame Beschlagnahme überhaupt für möglich gehalten.
»Wieviel?«
»Sechzig Flaschen!« ten Hoven stieg die Röte in das Gesicht. In Wirklichkeit besaß er nur noch fünfzig Flaschen. Aber die zehn hatte er daraufgelegt, für alle Fälle. Ihm schwante doch etwas.
»Sechzig Flaschen!« Ein feindseliger Blick traf ten Hoven. Die fleischigen, geschwollenen Finger führten den Bleistift langsam, sehr langsam.
Erdmannsdörfer war der Letzte. Er sagte: zehn, bemerkte aber, daß er sich irren könnte.
»Was heißt das: irren?« grollte es ihm entgegen. »Hier stehen die andern, und wenn sie mit den vorgetragenen Ansprüchen nicht einverstanden sind, werden sie es sagen!«
Niemand sagte etwas. Die Leute mit den wenigen Flaschen (meist stellten die das Entgeld für das Hinaufschleppen aufs Schiff dar) hatten sich nicht vorgetraut. Lieber verzichten.
Auch Klein verzichtete. Vortreten? Niemals.
Der Steuermann hatte wohlweislich seine Flaschen gleich im Anfang abgesetzt Es waren wenige. Der Sache nicht recht trauend, hatte er nur pro forma mitgemacht.
Es freute sich noch einer. Das war Bembel. Er empfand Genugtuung, daß er sich aus dem Freundeskreis des Oberleutnants zurückgezogen hatte. Es kam nichts dabei heraus.
»Und wer hat noch Ansprüche?«
Alle nahmen an: jetzt wird der Oberleutnant vortreten. Aber der Oberleutnant rührte sich nicht
»Wie ist's denn, Herr Oberleutnant, äh, vor?«
Der Oberleutnant rührte sich nicht.
Das machte den Kesselschmied stutzig. Wollte der Oberleutnant nicht vortreten? Der Kesselschmied wälzte einen kühnen Plan. Sollte er vortreten? Seine Aussicht auf die letzte, große Gewinnabrechnung mit dem Oberleutnant war nun ohnehin futsch. Viel hatte der Kesselschmied nicht verdient. Na, diesen Hineinfall würde er dem Oberleutnant noch heimzahlen. Das war Zukunftsarbeit. Aber jetzt? Was sollte er tun? Ging der Oberleutnant vor, oder ging er nicht vor? Ein paar Sekunden lang frech sein, und der Kesselschmied hatte die Flaschen, die ihm nicht gehörten, mit einem Schlag erworben.
»Niemandem gehört der Rest der Flaschen?« Der Kapitän sprach es mit einem schwingenden Klang in der dienstlich sich gebärdenden Stimme.
»Dann«, setzte er entschlossen hinzu, »werde ich den Rest vernichten lassen. Den Eigentümern aber werden ihre Flaschen nach der Reise, im ersten deutschen Hafen, zurückgegeben.«
Es wurde sortiert Die Eigentumsflaschen kamen in Gewahrsam. Der Rest wurde zur Vernichtung in die Kapitänskabine getragen.
Der Kesselschmied wäre am liebsten mit den Fäusten dazwischengefahren. Die schönen Flaschen hin, und wie sehr hätte er sie in Deutschland brauchen können. Eine Kneipe hätte er damit aufgemacht. Das Spiel war verloren. Er würde es dem Herrn Oberleutnant anstreichen.
Das hatte Schünemann nicht gewollt
Die »Nebel- und Gesprächsfetzen« waren nicht sein Einfall gewesen. Er hatte sich sogar dagegen gesträubt. Aber Kröger, der sonst nur das Technische besorgte, hatte sich einen Heidenspaß von der Anpflaumerei versprochen. Den Oberleutnant ärgern. Das war doch Sache. Das dritte Redaktionsmitglied, der Kantor, war weder dafür noch dagegen gewesen. Schließlich war die Nummer der »Fliegenden Seeschlange« hinausgegangen.
»Die Untersuchung wäre«, meinte Kröger, »auch ohne unsere Enthüllungen gekommen. Es waren ja eigentlich gar keine Enthüllungen. Offene Geheimnisse.«
»Ich glaube es auch«, sagte Schünemann. »Jeder wird aber annehmen, wir hätten den Anstoß gegeben.«
»Laßt sie doch.« Der Kantor dachte: kann nichts schaden, wenn der Oberleutnant eins auf den Kopf kriegt. Er steht doch immer wieder auf. Das meinte auch Kröger. Er bereute nicht, schwächte aber ab, weil Schünemann offenbar unter dem Fall litt.
Die schwer sinnenden Köpfe hüllte Rauch ein. Er drang aus der Küche, deren dampfende Kessel wie dicke, schwitzende Wächter dahockten. In deren Schutz befand sich die Redaktion der »Fliegenden Seeschlange«. Im versteckten Hintergrund war noch ein Tisch frei. Das genügte. Hier konnte man den Vervielfältigungsapparat, die Abziehmasse und das Fläschchen Hektographentinte aufstellen.
Schünemann kritzelte Manuskripte.
Kröger fühlte sich wieder als doppelter Buchhalter, steckte beim Schreiben die Zunge heraus, maß die fertige Zeile mit wohlgefälligen Blicken und stülpte den Buchstaben Schnörkel auf.
»Du«, paffte der Kantor eine Wolke hinüber, »das war doch zu ulkig bei der Untersuchung. Wie sich die alle benahmen!«
Kröger blickte mißbilligend. Warum störte ihn der Kantor bei der wichtigsten Arbeit?
»Du, Schünemann, da habe ich bei der Untersuchung, weißt du, ein paar Typen entdeckt, die mußt du unbedingt ins Blatt bringen.«
»Nachher erzähl' mir.«
Draußen gulkerte das Wasser am Schiffsrumpf entlang. Man saß unter dem Wasserspiegel. Da hörte man die Stimmen des Meeres von unten. Durch die höherliegenden Bullaugen fegte der Wind. Salzige Spritzer klatschten herein.
»Richtig«, Schünemann sah ermüdet auf, »wir müssen über die ganze Untersuchung etwas bringen. Unerhört, wie der Kapitän die Flaschen an sich raffte. Natürlich, schön war's nicht, daß das ganze Schiff soff. Und ich hätte auch nicht dagegen gearbeitet. Es kann jeder tun, was er will. Das ist schon richtig. Vielleicht hätte aber mancher etwas anderes getan, wenn man ihm so beiläufig nahegebracht hätte, daß man für das Geld zu Hause für sich und die Familie etwas anderes kaufen könnte. Ich hätte das gezeigt, und ihr wißt, ich habe schon manche Andeutungen in dieser Beziehung gebracht Sachlich müßte ich also mit dem Kapitän einig sein. Ich bin es nicht. Der Mann hat mich abgestoßen. Die Gier nach dem Whisky guckte ihm aus den Augen. Er griff nach dem, was er äußerlich verurteilte.«
»Du darfst nicht vergessen«, warf Kröger ein, »der Kapitän soll nicht dulden, daß auf seinem Schiff getrunken wird. Also muß er dagegen einschreiten. Wie er über die Sache denkt, ist gleichgültig.«
»Gott, der Kapitän trinkt auch mal ganz gern einen guten Tropfen«, schmunzelte der Kantor.
»Soll er«, lachte Kröger.
»Gefühlsmäßig stieß mich die Sache ab«, beharrte Schünemann. Und er fing an, einem Blatt Papier diese Ansicht anzuvertrauen. Warum sollte er vor dem Kapitän haltmachen? Der unterstand der Kritik wie jeder andere. Die Zeitung sollte neben der Absicht, die Leute über ein paar öde Stunden hinwegzubringen, versuchen, der Richtigkeit, der Zweckmäßigkeit zu dienen. Sollte jeder tun, was ihm beliebte. Er war nach wie vor dafür. Er hatte aber schon oft bemerkt, daß die meisten das Für und das Wider nicht scharf erkennen. Darum konnte es nichts schaden, scharf formulierte Ansichten in den Meinungsbrei zu werfen, aufzuklären, Gründe und Begleitumstände einer Angelegenheit zu verdeutlichen: nicht um die Leute zu bekehren, nein, um ihnen das Bewußtsein für das, was sie tun oder nicht tun, zu weiten und damit die Verantwortlichkeit zu stärken. Mochte jeder tun, was er wollte. Aber wissen sollte er, was er tat.
Über Schünemanns Züge flog ein Schimmer. Da war ihm eben eine Wendung gelungen. Das Schreiben machte doch Spaß. Er hätte nicht gedacht, daß es so anregen würde. Schünemann pries den Einfall, aus nichts und für nichts ein Bordblättchen zu schaffen. Die Gestehungskosten waren gering. Er konnte sie leicht aus seiner Tasche aufbringen, und die Arbeit war ein Vergnügen, ein Zeitvertreib in jedem Fall.
Was er geschrieben hatte, schob er den andern hin.
»O Backe, wenn das der Kapitän liest«
»Mach' das nicht«, riet der Kantor.
»Was kann groß passieren?« antwortete Schünemann.
Eine Stimme schütterte herein. »Endlich habe ich euch Burschen entdeckt!«
Schünemann sah verwundert auf.
»Wir müssen die Sudelküche ausfindig machen!« sagte ten Hoven.
»Da steckt doch ganz sicher der Schünemann dahinter«, meckerte Manteufel.
»Das ist offenes Geheimnis«, warf Kunowski beiläufig hin, »Schünemann ist der Obermacher dieses Wurstblättchens.«
»Eine Gemeinheit, uns zu verpetzen«, erregte sich ten Hoven, »eine Gemeinheit, uns zu verklatschen. Das grenzt an Landesverrat.«
Der Oberleutnant erwiderte nichts. Die Whiskyflaschen umtanzten noch sein gemartertes Hirn. Wie er die Brut der Gerechtsamen haßte! Als ob nicht alle leben wollten. Der eine macht es so, der andere so. Daß ihm seine Pläne zumeist glückten – was konnte er dafür? Er ist im Offizierslager gewesen und war kein Offizier, gut. Hätten es ihm die andern doch nachgemacht. Sie machten ihm ja oft etwas nach. Aber wenn es bei ihnen nicht klappte, da war er schuld. Nur greinen und höhnen konnten sie. Das »Herr Oberleutnant, äh!« lag ihm noch immer vorm Trommelfell. So etwas, ihn vor versammelter Mannschaft abzukanzeln. Dieser Schünemann steckte dahinter. Kunowski hatte schon recht. Der Schünemann hatte von der ganzen Sache in der »Fliegenden Seeschlange« angefangen. Und wenn so etwas in der Zeitung steht, ist es gleich ein Staatsverbrechen. Die Kameraden alle, die hatten es gewußt. Die waren froh, daß sie auf der langweiligen Fahrt einen Tropfen erhielten. Für die war das, was in der Zeitung stand, nichts Neues.
Das Schlimmste aber war: man hatte den Kapitän, den Feind, aufmerksam gemacht Pfui, Deubel! Das war mehr als Landesverrat. Der Oberleutnant preßte seine rechte Hand zusammen, so daß die Finger knackten. Dieser Schünemann sollte doch ruhig sein. Er hatte Holm auf dem Gewissen. Ohne Schünemann waren sie heute anderswo. In der Freiheit
Der Oberleutnant seufzte. Man hatte ihn vor die Front locken wollen. Dann wäre das Katzengeheul vernichtend losgebrochen. Lieber hatte er auf die Flaschen verzichtet.
Langsam wich in ihm der Trübsinn dem beseligenden Gefühl der Genugtuung. Wenn er sich's nämlich recht überlegte: warum haßte die Menge ihn? Doch nur, weil er Geld zu machen verstand, während die meisten wie die blöden Hammel im Nichtstun verkamen und nirgends einen Coup entdeckten, der eine Stange Geld einbrachte. Das war es: die Kerle haßten ihn, weil er ihnen überlegen war, weil er, ob sie wollten oder nicht, über ihr Portemonnaie verfügte. Warum hatten nicht andere auch den schlauen Gedanken gefaßt, Whisky aufs Schiff zu nehmen, he? Die Bande hatte eben keinen Einfall im Schädel. Sie griff nach den Flaschen, soff. Zugleich ärgerte sie sich, daß sie ihr Geld los wurde, und brüllte darum bei bester Gelegenheit. Na, wartet nur, er würde die Taschen noch ganz leeren. Der Oberleutnant grinste.
»Ob wir nicht die Sudelküche stürmen sollen?« fing ten Hoven wieder an. »Wir verdreschen die Kerle, daß sie genug haben.«
»Habt ihr denn rausgekriegt«, mischte sich Erdmannsdörfer mit Gleichmut ein, »wo die ihr Zeug zusammenbrauen?«
»Alte Sache«, belehrte Kunowski, »ihr braucht nur den kleinen schmalen Gang neben der Küche zu gehen. Da kommt eine kleine Kammer. Hier sitzen die hohen Herrschaften. In der Ecke stehen Säcke mit Zucker, Kaffee und Hülsenfrüchten.«
»Aha«, in Manteufel blitzte es auf. »Die Burschen haben sich die richtige Ecke ausgesucht. Gelegenheit zum Klauen. Das kennen wir.«
Möglichkeiten? Der Oberleutnant dachte an Möglichkeiten. Er verwarf sie aber gleich wieder. Wo die Tranlampen sich niederließen, war nichts zu holen. Darauf würde er Gift nehmen, so wahr er der Oberleutnant war.
»Wie woll'mers machen, Arthur?« bohrte ten Hoven von neuem. »Woll'mer mit den Fäusten oder mit den Knüppeln dreinschlagen?«
»Mit den Knüppeln!« meckerte Manteufel. »Das zieht besser!«
»Laßt euch nur nicht vom lieben Gott erwischen«, sagte Erdmannsdörfer.
»Das ganze Schiff lacht«, bekräftigte Kunowski. »Das gibt eine Abreibung, sage ich euch!«
Der Oberleutnant aber winkte ab.
»Iiich weiß wwas Bess-res!« sagte er.
Und nun entwickelte er seinen Plan, den er, während die andern in Gedanken schon den Knüppel schwangen, gefaßt hatte. Wenn sie im nächsten japanischen Hafen einliefen, in Mororan, wollten sie, aller Bewachung und allen Gefahren zum Trotz, ausbrechen. Und in der Stadt alles auf den Kopf stellen. Das wäre ein Schlag gegen die Moral, versicherte der Oberleutnant. Er hätte nie daran gedacht, sprudelte er heraus, jetzt schon wieder unsolid zu sein. Er hätte noch von Wladiwostok genug gehabt.
»Nun abber erst rrecht. Wwwas glaubt ihr, wwie sich Schünemann und Kkkonsorten ärgern werden, wwenn sie hören, dddaß die Predigten nichts geholfen ha–ben. Ddie giften sich grün!«
»Gegen eine Abwechslung wäre nichts einzuwenden«, sagte Kunowski kühl. Er hatte sich zu sehr mit dem Überfallgedanken befreundet.
Auch die andern begriffen nicht recht, warum man auf die Tracht Prügel verzichten sollte. Da redete der Oberleutnant auf sie ein. Überfallen? Unsinn! Die ganze Stimmung würde dann wieder gegen sie sein. Rowdies, würde man brüllen. Nein, zeigen, daß man noch obenauf ist: zeigen, daß man noch Murr hat; zeigen, daß man sich (der Oberleutnant hob die Stimme) vor der Sittsamkeit nicht fürchtet. Die Bande zum Verzweifeln bringen. Dann brauchte man nicht immer an den ganzen Krempel, an die Heimfahrt und daran, was einem bevorsteht, zu denken.
»Dddas Beste kkommt dann noch: Ich hhhabe einen Plan, einen Pplan, dda werdet ihr sstau–nen. Nach Mororan wwird er ausgeffführt. Dddas ganze Schiff wwwird vverrückt. Ich hhole die Whiskyflaschen drei- und viermal wwwie-der ein, Mmmenschenskinder!«
Der Oberleutnant erklärte. Scheue Bewunderung strahlte zu ihm auf: Arthur, das war ein Aas.
Flitterwochenstimmung.
Da wankte der Kesselschmied heran, mit einem Zorn, der nur so an ihm herabtroff. Er konnte noch nicht verschmerzen, daß er so dumm gewesen war, die Flaschen nicht für sich zu reklamieren. Wenn dann wenigstens der Oberleutnant den Whisky beansprucht hätte. Dem gehörte er schließlich. Dann hätte er, der Kesselschmied, sich wenigstens keine Unterlassung vorzuwerfen brauchen. Nun waren die Flaschen dahin, der Kapitän vernichtete sie in seiner Kajüte.
Der Kesselschmied war ganz Galle, wenn er nur daran dachte.
Und wer war an allem schuld? Natürlich der Oberleutnant. Wenn der doch die Flaschen beansprucht hätte, dann brauchte er sich nicht zu ärgern. Was hatte überhaupt der ganze Rummel eingebracht? Er hatte sich abgeschleppt, und was hatte er bekommen? Lächerlich, diese Abfindung. Ein ernstes Wörtchen würde er mit dem Oberleutnant reden.
Breit stellte sich der Kesselschmied vor die Gruppe. Der Oberleutnant sah scheu drein. Merkwürdig, sobald er den Kesselschmied sah, mußte er dessen Arme begutachten. Die hingen wie Keulen an den Schultern. Mit denen möchte er nicht in Berührung kommen. Was wollte der Kesselschmied überhaupt? Der sah ganz finster drein.
Der Kesselschmied trat an den Oberleutnant heran, musterte ihn und knurrte:
»Na, schon wieder erholt von der Aufregung. Ja, bei dir geht das schnell. Du bist der Richtige!«
Kunowski war erbost. Was wollte der Kesselschmied? Gehörte der auch zu jenen?
»Mach doch keine Faxen.« Scharf sprach es Kunowski. Schärfer, als er es beabsichtigt hatte.
Da schwappte dem Kesselschmied das Blut in den Kopf:
»Aha«, brüllte er, »jetzt bin ich nicht mehr nötig. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, was? Jetzt hat das Lasttier unter den feinen Herren nichts mehr zu tun, was? Ihr habt euch aber geschnitten. Glaubt's ja nicht, daß ich mich so abschieben lasse.«
»Was können wir denn dafür, daß die ›Seeschlange‹ das Geschäft vermasselt hat«, entrüstete sich ten Hoven.
»Was vermasselt, macht doch keinen Quatsch! Ihr selbst habt die Sache vermasselt. Was in der Zeitung stand, das war doch nischt.«
»So«, stellte Kunowski mit schneidender Schärfe fest, »so helfen Sie den Verrätern über.«
»Das hätten wir wirklich nicht gedacht« fiel Manteufel ein, »wo wir dir eine anständige Summe für deine Arbeit zurechtgelegt haben«.
»Natürlich«, bekräftigte Erdmannsdörfer schnell. Man mußte den Vulkan besänftigen.
»Summe.« Der Kesselschmied glotzte.
»Wawarum bbist ddu ddenn nicht schon früher mal gegekommen?« zürnte der Oberleutnant.
»Nee, daß du noch die Skandalzeitung verteidigst, nee«, murrte Manteufel.
»Wer verteidigt denn die?«
»Du!!!« klang es ihm einstimmig entgegen.
»Ich???«
»Natürlich du!«
»Da hört 'mer aber doch alles auf. Wo ich die Brüder ohnehin im Magen habe.«
»Wenn die nicht gewesen wären«, entrüstete sich Kunowski weiter, »so hätten wir die ganze Schererei nicht gehabt, und Sie hätten längst das Geld«.
»So aber müssen wwir es neu ssschaffen!«
Der Oberleutnant beugte vor, damit der Kesselschmied, der Erpresser, das Geld nicht gerade im Augenblick verlangte.
»Aber ich kriege es doch, und nicht so knapp.« Leise Zweifel beunruhigten den Kesselschmied.
»Aber selbstverständlich!«
»Verdienten eigentlich eine Tracht Prügel« ließ Kunowski nebenbei fallen. Er war vorsichtig: er hatte nicht gesagt, wer die Prügel verdiente. Er hatte doch nicht umsonst Jura studiert
»Verdienten eigentlich eine Tracht Prügel?«
»Die Saubande«, ergänzte Manteufel.
»Könnte nichts schaden«, brummte Erdmannsdörfer.
»Die sollen'se kriegen, habt keene Angst«, wetterte der Kesselschmied. »Denen haue ich ein paar runter, sobald ich sie erwische, das ist eine Leichtigkeit«.
Der Kesselschmied war nun überzeugt, daß er ohne die »Fliegende Seeschlange« sein Geld längst besäße. Daß doch immer etwas dazwischen kam! Einmal ein paar solche Quertreiber zusammenzustauchen, war ihm Bedürfnis. Er hatte eine schreckliche Wut im Bauch.
Sie schlug Schünemann förmlich entgegen, als der Kesselschmied hereintappste. Was wollte der hier? Sie waren alle erstaunt. Hatte man das Versteck der Redaktion entdeckt? Schon Bembel war vor einer Stunde gekommen. Als Freund. Hier fühlte er sich wohler als beim Oberleutnant. Der Abtrünnige bereute nicht. Schünemann stellte aber für sich fest, daß die Bresche zur Belagerung der Redaktion gebrochen war. Das konnte heiter werden.
»Daß man euch Rasselbande endlich mal trifft! Ihr seid schöne Halunken.«
Der Kesselschmied taumelte schwer vor. Er war bereit und ballte die Fäuste. Was aber war das? Es war ihm, als sollte er ins Leere schlagen. Die Leute da vor ihm machten gar keine bösen Gesichter und sahen ganz manierlich aus. Der Schünemann konnte (das wußte er) recht wüst dreinschauen. Jetzt aber schien er nur neugierig zu sein.
Der Kesselschmied fühlte den forschenden Blick auf sich gerichtet. In Schünemanns Stirn waren Büschel des widerspenstigen, grauen Haars gefallen. Neben der etwas vorspringenden Nase gruben sich scharfe Falten ein. Die Linien um den Mund waren merkwürdig bewegt. Der Kesselschmied wußte nicht: lachte der Kerl oder lachte er nicht? Das sah aus wie erstarrter Hohn. Und der brachte den Kesselschmied auf.
Er streckte den Schädel vor. Endlich etwas, das ihn zum Angriff vortrieb. Endlich etwas, das ihm ein Ziel hinstellte. Schon würgte der Kesselschmied an wüsten Worten, da fiel sein Blick auf die andern. Der Kantor nuckelte ruhig an der Pfeife. Und Kröger schien sich überhaupt nicht stören zu lassen. Er schrieb und zog damit das vom Widerschein der Küchenkessel entzündete Feuer des Eherings über das weiße Papier. Er war dabei, gesundheitliche Verhaltungsmaßregeln, die der Arzt verfaßt hatte, ins Reine zu schreiben. Die Veröffentlichung in der Zeitung wirkte besser als der Anschlag, dessen sich der Arzt bisher bedient hatte. Und Bembel blätterte neugierig in Schriftstücken. In dem Teufelszeug, dachte der Kesselschmied, das gewiß in die Zeitung kommen sollte.
Das sieht richtig wie eine Schreibstube aus. Dumpf drückte die Erkenntnis auf den Kesselschmied. Er wußte nicht, was er eigentlich erwartet hatte. Nur das eine fühlte er: hier war ihm nicht wohl. Die Aufmunterung durch Schünemanns Gesicht war dahin. Dem Kesselschmied wäre es lieber gewesen, wenn er mit Spottreden überschüttet worden wäre. Dann hätte er elend losgelegt. Wen aber sollte er hier zu Mus quetschen? Plötzlich sah er sich als lächerliche Figur. Wie würde er vor dem Oberleutnant bestehen? Würde der ihn nicht als Prahlhans ansehen?
Der Kesselschmied schloß halb die Augen, so daß er alles grau in grau sah, und wetterte los. Die Stimme klang wie in einer Gruft:
»Von wem werdet ihr denn eigentlich bezahlt, ihr Schufte? Ihr laßt euch wohl von den Amerikanern aushalten? So machen es doch die Verräter. Schämen sollt ihr euch: die Kameraden zu verpetzen, zu verraten, damit der Amerikaner lachen kann. Schämen sollt ihr euch. Na wartet nur, wenn wir erst wieder zu Hause sind, dann sollt ihr schon hören, was man über euch denkt!«
Hilflos schwenkten die Arme hin und her. Packte ihn denn noch keiner? Die Kerle waren ganz ruhig. Schünemann lachte sogar.
»Mach' doch keine Witze«, sagte der ruhig. »Komm, setz dich erst mal, damit es dir nicht so sauer fällt.« Damit schob er dem Kesselschmied einen Schemel hin. Machtlos fiel der auf den Hocker. Der Baum war gefällt
»Hier, rauche erst einmal eine Zigarette«, sagte Schünemann. Und damit hielt er dem Kesselschmied eine Schachtel hin, die lange nicht so vornehm aussah wie das Silberetui des Oberleutnants. Doch die Schachtel war ein feines, sauberes und blitzendes Ding. Unwillkürlich regte sich im Kesselschmied Achtung. Die Zigarette verschwand beinahe in seinen großen Fingern. Nach den ersten Zügen wischte er sich die dicken Schweißperlen, die auf der wulstigen Stirn schimmerten. Dann breitete sich etwas Ruhe über der Massigkeit aus. Aus der Brust rasselte es in regelmäßigen Stößen. Im Ausschnitt der offenen blauen Bluse standen dichte, schwarze Haarbüschel
»Wie kommst du denn darauf?« Schünemann schlug den Plauderton an.
»In der Zeitung stands doch!« erwiderte der Kesselschmied grob. Wenn der andere durchaus anfangen wollte, gut!
Schünemann aber merkte das Gewitter nicht. Er überhörte es.
»Was stand denn in der Zeitung?«
»Frag doch nicht so dumm. Ich bin nicht zu meinem Geld gekommen. Und ihr seid dran schuld. Wir konnten den Whisky nicht verkaufen. Das Geschäft ging schlecht, und ich bin nun der Dumme.«
»Und da machst du die Zeitung verantwortlich?«
»Wen denn? Der Oberleutnant sagte es auch.«
»Lies mal die nächste Nummer, die morgen herauskommt Da wirst du sehen, wie wir die Sache auffassen.«
»Ihr habt es aber doch geschrieben.«
»Auf das, was wir geschrieben haben, hätte sich der Kapitän nicht gerührt. Er wäre nicht einmal klug daraus geworden. Nur der Eingeweihte konnte wissen, was los war. Und die Eingeweihten waren – das ganze Schiff.«
»Da brauchtet ihr es aber nicht zu schreiben.«
»Spaß, Unterhaltung, Ablenkung.«
Der Kesselschmied wußte nichts mehr zu sagen. Er saß unbeholfen da und stierte verlegen vor sich hin. Es war doch etwas anderes, den Hammer zu schwingen als sich mit einem solchen Mann zu unterhalten.
»Der Oberleutnant irrt sich eben«, sagte Schünemann mit Nachdruck.
Der Kesselschmied stutzte und hob den plumpen Schädel. Wie ruhig Schünemann über den Oberleutnant sprach! Wie wetterte dagegen der Oberleutnant, wenn er nur den Namen Schünemanns hörte! Wußte Schünemann nicht, wie der Oberleutnant über ihn dachte?
»Dabei verhehle ich durchaus nicht, daß ich die Whiskysauferei für einen Unfug halte. Keine Angst, ich habe auch eine Flasche getrunken. Aber eine Flasche. Es kann jeder machen, was er will. Wir sind über das schulpflichtige Alter hinaus. Aber da sprechen noch andere Sachen mit. Schließlich ist's doch nur der Oberleutnant und ein paar, die verdienen. Die andern werden das Geld los und könnten es daheim gut brauchen. Es handelt sich doch immerhin um schöne, runde Dollars.«
Das ging dem Kesselschmied ein, daß der Oberleutnant verdiente und die andern die Arbeit taten.
Der Kesselschmied wurde wieder wütend, daß er bei dem ganzen Geschäft ziemlich leer ausgegangen war. Wer weiß, ob, wann und wieviel er noch erhielt. Zum Donnerwetter, sollte er denn immer nur schuften, damit die andern verdienten? Das machte er nicht mehr mit. Er würde noch ein ernstes Wörtchen mit den Brüdern da oben reden müssen. Wußte er doch (das hatte ihm seine Frau immer gesagt): wer sich nicht wehrte, geriet unter die Räder. Nur nicht müde werden, die Ellenbogen zu gebrauchen. Sich nur nicht von andern als Dummen ansehen lassen. Dann spielen sie mit einem, wie sie wollen.
Als der Kesselschmied mit Flüchen hinausschwankte, schlich Klein herein. Die letzte Affäre hatte ihm sehr zu denken gegeben. Wenn das ganze Schiff gegen den Oberleutnant war, befand der sich vielleicht doch auf falscher Bahn. Und war es da klug, noch mitzumachen?
Stundenlang war er in dem langen, dunkeln Gang auf- und abgelaufen, bis er endlich den Mut fand. Je mehr sich das Schiff der Heimat näherte, je lebendiger die Erinnerung an das wurde, was ihn erwartete, um so ängstlicher wurde er. Vielleicht erfuhr er hier unten etwas, das ihn aufrichtete. Was würde der Alte daheim sagen? Würde alles glatt abgehen? Er möchte zu gern in eine Verbindung eintreten. Durfte er aber in eine Verbindung eintreten? Kunowski war ihm da Vorbild. Nahm man ihn auf? Alle sagten ja. Klein glaubte es nicht recht. Wurden sie denn nicht untersucht? Alle diese verflixten Zweifel. Etwas stimmte immer nicht in der Rechnung. Dabei wäre alles so schön. Der Vater wohlhabend. Da die dumme Hautabschürfung. Klein hatte erst an Selbstmord gedacht. Das war nun schon lange her, und er hatte sich beinahe an das Leiden gewöhnt Die Heimfahrt lockerte aber die Gewöhnung. Von neuem brachen die Zweifel auf. Ob ihm der Alte wirklich ein paar hinter die Ohren hauen würde?
Fort mit diesen Vorstellungen. Er sah sich als Farbenstudent mit vergipstem Kopf durch die Straßen laufen, den Stock mit dem dicken Knopf an einem Riemen lässig ums Handgelenk gehängt. Er würde der müde, übernächtige, alles wissende und kennende Akademiker sein. Die Mädchen würden ihn scheu betrachten, und alle Leute auf der Straße würden wissen: aha, da geht auch ein solch feiner Herr. Und er würde alles tun, diesen Glauben zu stärken. So oft wie nur möglich würde er mit dem vergipsten Kopf durch die Straßen laufen, und wenn die Bandage gefallen war, dann erst würde es an nichts fehlen. Er konnte sich nichts Überlegeneres denken als mit Schmissen, quer über die Backe muß sich einer ziehen. Fein, in die Hörsäle, in die Kneipen, in die Bücherei, in die Gartenwirtschaften, auf die Tanzböden zu gehen und sich »Herr Doktor« anreden zu lassen. Man war dann etwas. Nichts war einem fremd. Man hatte sogar eine Weltreise hinter sich.
Vielleicht erfuhr er etwas von Schünemann. An den hatte er sich nie recht herangetraut. Der lachte immer so komisch. Man dachte stets, er mache sich über die Mitmenschen lustig. Je mehr Klein aber von dem Treiben des Oberleutnants abrückte, um so vertrauter wurde er mit Schünemanns Art. In Schünemann steckte doch ein wenn auch nicht sehr geräuschvoller Wille. Das sah man an der Zeitung. Mancher Artikel imponierte Klein. Gott, man wußte nicht, ob man dereinst nicht auch in der Presse arbeiten würde. Gedichte waren genug aus seiner Feder geflossen. Besonders in den ersten Jahren der Gefangenschaft.
Klein war froh, daß er Bembel traf. Der auch hier? In den ersten Sekunden zitterte in Klein etwas wie Verachtung. Abtrünnig werden? Dann dachte er daran, daß er auf dem gleichen Weg wie Bembel war. Die Hand hin zu ihm.
Und das Gespräch kam gleich in Gang. Klein atmete erleichtert auf. So ganz fremd war er hier doch nicht. Schünemann schrieb und ließ sich nicht stören. Kröger malte ohne Unterbrechung Buchstaben aufs Papier. Und der Kantor schlief. Er lehnte an der Wand und röchelte leise.
Klein blickte durch ein Ochsenloch. Wellen sprangen herbei. Das Meer krümmte seinen Rücken, hob die Jerusalem hoch und schüttelte sie.
Das Tintenfaß tanzte. Man mußte es festhalten.
Felsen stiegen aus dem Meer. Und dahinter wälzten sich Bergriesen mit grauen Kratern, deren Trichter gierig das Maul aufsperrten, um das Tiefblau des Himmels zu trinken.
Die Jerusalem fuhr in die Vulkanbai. Mororan, der Hafen auf der Insel Hokkaido, ist in Täler hineingedrückt. Vom Schiff aus sah man nur das Industrieviertel. Kleine Häuser ohne Selbstbewußtsein. Ein schwarzer Fleck. Dicht am Hafen ein großes Stahlwerk.
Schnelle Segler kreuzten. In einem Boot dampfte die Hafenpolizei heran. Kalt, nüchtern und einsam entrollte sich ein fremdes Bild.
Die Jerusalem warf mitten im Hafen Anker, weil sie wegen der geringen Tiefe nicht bis zum Ufer fahren konnte. Langsam fuhren Schleppkähne näher. Sie lagen so tief im Wasser, daß man nur Kohlenhaufen schwimmen sah. Japanerinnen und Kinder grinsten herauf. Sie sogen sich mit ihrem Fahrzeug an der Jerusalem fest, stellten sich in einer langen Reihe auf, die vom Schleppkahn bis zum Innern der Jerusalem reichte. Und nun hüpften kleine, trichterförmige Strohkörbe mit Kohlen von Hand zu Hand. Die Häuflein klapperten in den finstern Schiffsschlund. Tag und Nacht fielen die schwarzen Diamanten in dünnem Regen hinab.
Sehnende Augen tasteten sich über die Reling hinweg und suchten die Freiheit da unten in der Stadt. Jeder Kahn, der vorbeifuhr, wuchs im überhitzten Sinn der Jerusalemer zum Begriff strotzenden, ungehinderten Lebens empor. Die maskenhaft lachenden Japaner nickten in ihren Booten herauf und deuteten vielsagend auf ihre Gefährtinnen.
»Wie hungrige Löwen«, sagte der Arzt.
Schünemann seufzte.
»Das wird immer schlimmer. Ein Kranker fordert mehr.« Die Brillengläser funkelten besorgt.
»Man sollte Männer nicht jahrelang einsperren«, flüsterte Schünemann. »Jetzt ist nicht viel mehr zu retten.«
»Retten?« Der Arzt lachte, und über seine zurückfliegende Stirn huschten Schatten.
»Retten? Heißt das nicht in diesem Fall: die Seuche mit aller Sorgfalt nach Hause bringen? Humanität? Heißt das nicht hier: mit aller Sorgfalt weiteres Unglück vorbereiten? Das ist das Bild von der Kollektivseite her.«
»Sieht's ganz anders aus. Wille: Heim, in geordnete Verhältnisse hinein, heraus aus der Teufelsschaukel einer verrückt gewordenen Politik.«
»Mit einem Wort: das rote Kreuz.«
»Da flatterts. Selbstgewiß zerrt sie da oben am Mast, die Fahne. Und was ist wirklich auf dem Schiff? Ein Zwiespalt. Sehnsucht, Weib und Kind sehen. Der Konflikt aber wird größer und größer. Ich brauche bloß an meine Sprechstunden zu denken. Das Innenleben ist schlimmer dran als der Körper.«
»Furchtbar.«
»Der Zwiespalt frißt auch meine ärztliche Tätigkeit an. Soll ich auf die immer dringender werdenden Fragen rücksichtslos aufklären oder besänftigen? In diesem Fall mach ich mich mitschuldig. In jenem Fall bin ich Henker der Hoffnungen.«
»Man kann nicht mehr tun als seine Pflicht.« Schünemann richtete sich auf.
»Was entsteht aber aus der Pflicht? So oder so. Immer Unheil. Die Pflicht zur Verbreitung der Seuche. Das ist doch der Hintergrund.«
»Können wir denn mehr tun als das, was wir für richtig halten?«
»Und was ist das Richtige?«
»Uns nach Hause bringen.«
»Und der Ausweg?«
»Ja, Doktor, diese Krankheit ist doch heilbar?«
»Man sagt es. Es gibt solche und solche Fälle. Die Hauptsache aber ist, daß der Kranke enthaltsam lebt. Will er das – kann er das? Muß er nicht die Frau aufklären? Wie wird sie es auffassen? Was wird entstehen? Wird der Mann darum etwas sagen?«
Schünemann erhob sich. Mußte man denn immer nach dem Letzten suchen.
»Wir können gegen Unfug angehen, brauchen nicht gerade Whiskygelage zu unterstützen. Können Schwerfällige ein bißchen belehren. Was dann kommt?«
»Es muß doch ein Gesetz besteben wie jenes, nach dem die Wolken dahinziehen, nach dem die Sterne kreisen. Nach dem alles rund ist. Wo aber?«
Firnglänzende Grate säumten den Horizont.
Der Oberleutnant und die Seinen ließen sich gen Mororan fahren.
Als das Fahrzeug in der Mitte der Bucht schaukelte, warfen die Strahlen der untergehenden Sonne über die Bergkuppen rote Schleier, die sich aufzulösen schienen, so daß Feuer herablief. Es stürzte in die See, die es gierig aufnahm. Die Jerusalem sah aus wie in warmes, dampfendes Blut getaucht.
Der Oberleutnant stand an der Spitze des Kahns und lachte sein hohnvollstes Lachen zum Schiff hinüber.
Wie waren die auf der Jerusalem so schlau! Dachten, sie könnten dem Oberleutnant eins auswischen. Wohl haben sie ihm den Whisky gemaust und ihn schwer geschädigt Er hatte mit dem Schacher aufhören wollen, sobald das Whiskygeschäft geglückt war. Er hätte dann wahrhaftig genug gehabt. Das haben sie ihm unmöglich gemacht
Rache war süß.
Er ging mit den Freunden nach Mororan. Nachher aber ... Er hatte Pläne, an denen sich alle die Zähne ausbeißen konnten. Diesmal würde er nicht ruhig zusehen. Der Oberleutnant richtete sich hoch auf und dachte, während eine neue Erregungswelle ihn packte: man muß erst einmal richtig niedergedrückt sein, um die Scheu zu verlernen und das Stachelkleid anzuziehen. Wartet nur! Und wenn ihr hundertmal »Herr Oberleutnant äh« sagt
»Was der Schünemann sich einbildet«, fing ten Hoven an.
»Jetzt macht der Held den Zurückzieher«, stellte Kunowski fest.
»Ja, die letzte ›Seeschlange‹ ist gut. Da schimpft er auf den Kapitän. Zum Heulen ist das!«
»Das ist das böse Gewissen«, sprach Erdmannsdörfer dumpf.
»Alles Theaterhelden. Wollen uns die gute Laune nicht verderben lassen.« ten Hoven lachte.
»Dddie Hunde« knirschte der Oberleutnant, »wwwenn wir so schlecht wwwären wwie die, wwürden wir den Wwisch mit den Angriffen auch zzum Khapi-tän sschleppen.«
Sie gingen an Land.
Lahm und mürbe schlichen sie am andern Morgen im ersten fahlen Licht aufs Schiff zurück.
Schon ein paar Stunden später lichtete die Jerusalem die Anker.
Bald waren die gewaltigen Berge der Küste ins Meer gesunken. Die Wasserwüste tat sich auf. Die längste Strecke der ganzen Fahrt lag vor der Jerusalem.
Der Oberleutnant taumelte mit grauen Backen und erloschenen Augen an seine Hängematte, wollte sich hineinschwingen und wie seine Freunde den Rausch ausschlafen. Er krabbelte nach dem Kopfende, an dem die Schwimmwesten und die Schlafdecken zusammengerollt lagen. Ha, wie das wohltat Er streckte sich, versuchte zu schlafen. Hundsmiserabel war ihm zumute. Warum denn eigentlich diese Hetzerei? Warum von einem Tag in den andern taumeln? War es nicht besser, Schluß zu machen? Was erwartete ihn denn noch? Daheim würden sie die Augen weit aufreißen, wenn er kam.
Der Oberleutnant ahnte das Ende, und er wußte, je mehr er sich ihm näherte, um so toller würde er es treiben. Nur um das Schlimmste nicht sehen zu müssen. Wenn er mal tüchtig zugriff, zitterten seine Hände. War das nicht verdächtig? Manchmal versagte das Erinnerungsvermögen. Es mußte doch schlimm sein mit ihm. Und einmal, einmal würde es ganz aus sein. Das Gehirn würde auseinanderbröckeln, auseinanderfließen und weinen wie ein Gletscher.
Der Oberleutnant schloß die Augen und deckte so Finsternis auf diese Bilder. War es denn nicht verrückt, sich schon jetzt zu sorgen? Vorläufig, vorläufig war er doch noch er. Und nun traten auch schon wieder Pläne hervor. Erst einmal tüchtig ausschlafen. Er zog die Decke enger an sich heran.
Durch die Ochsenlöcher pfiff der Wind kalt herein. Der Oberleutnant stutzte. Nur eine Decke lag auf seinem Bauch? Wo war die andere? Gestohlen? Gestern vormittag hatte er sie noch gehabt. Gestern vormittag? Da schien die Sonne, und da war er mit seinen Freunden in ein Rettungsboot geklettert, um Skat zu spielen. Da hatte er eine Decke mitgenommen, um schön weich zu sitzen. Die hatte er vergessen wieder mitzunehmen.
Ob sie wohl noch da sein wird? Sicher. Nicht anzunehmen, daß inzwischen andere in das Rettungsboot gestiegen waren. Denn jede Skatgruppe bevorzugte »ihr« Boot.
Schließlich könnte die Decke doch gestohlen sein. Es hätte bloß einer ins Boot zu gucken brauchen, verdammt. Sie ließ keine Ruhe, die Decke. Wertvolles Ding das, So leicht möchte er sie nicht preisgeben. Er hatte schon genug Schaden gehabt in der letzten Zeit. Der Oberleutnant fror.
Er mußte aufstehen. Mit schwerem Kopf schlich er aufs Oberdeck, taumelte schläfrig ans Geländer, stellte sich darauf, hielt sich an den straff gespannten Seilen fest, die vom Mast herübergingen, und wollte wie immer den Schritt ins Boot tun. Da glitt er aus.
Wenige Sekunden, und schon paddelte er in der Fahrspur.
»Mann über Bord!«
Der diensttuende Offizier drückte auf den elektrischen Knopf. Zurück! Das Schiff stand, wendete und fuhr langsam dem Schwimmenden entgegen.
Man sah ihn nicht. Aber – nein – doch – da schwamm er, der kleine, krabbelnde Punkt da, das war der Oberleutnant.
Aufgeregte Hände lösten Rettungsringe und warfen sie hinab. Knack, da leuchtete die Birne, leuchtete in die plätschernden kleinen Wellen hinein.
Ein Boot ward hinabgelassen. Acht Matrosen ruderten hinaus und zogen den Erschöpften aus dem Wasser.
Alle starrten nach dem Boot. Würde er noch leben? Eine Viertelstunde hatte die Rettung immerhin gedauert, und zuletzt ragten nur noch die Hände aus dem Wasser. Er mußte also doch schon schlapp oder ohnmächtig gewesen sein, der Oberleutnant.
Wieder stand Kramm am Geländer festgeschmiedet und atmete schwer. Böse Blicke schossen aus den tiefliegenden, wässrigen Augen. Sie hatten ihn drin im Boot? Lebend? Da fiel der Körper von der Reling zurück, als wäre eine Krampe, die ihn gehalten, mitten durchbrochen. Sie haben ihn gefunden, den Oberleutnant, und er war doch auch weit hinten und nicht vorn, wie der Hund.
Und als sie ihn heraufbrachten, pudelnaß, triefend, schlapp, aber lebend, da schrie Kramm entsetzt:
»Warum der Oberleutnant, der Hund? Warum nicht mein Hund?«
Die Jerusalem fuhr nicht in den milden Breiten der Hawaiinseln, wie viele gehofft hatten. Von Mororan aus richtete sie den Kurs nördlich, so daß sie fast die Inselgruppen der Aleuten berührte.
Es waren die trostlosesten Tage der Fahrt.
Feuchte Kälte, ein dicker, dunstiger Nebel, der kaum einige Meter voraussehen ließ, hing wie nasse Watte in der Luft. Die Sonne, ein verschwimmender, fahler und weißlicher Fleck, blinzelte nur in den Mittagstunden durch den grauen Schleier. Das Wasser schien ein undurchdringlicher, dickflüssiger Brei. Gequält sandte das Nebelhorn dumpfe, brüllende Schreie voraus. Die Schrauben wühlten verzweifelt in dem Elendwasser. In dem dunkeln Schlamm, in dem nicht der Edelstein des Meerleuchtens aufblitzte.
Wohin man blickte, Trostlosigkeit. In der Luft die dunstigen Wattenbausche, die sich wirbelnd auf die See legten. Das ganze Deck war feucht und glitschrig. Von den Masten, von den Geländern, von den Tauen fielen dicke Tropfen, und die Lungen rangen mit den weißen Gespenstern, die mit jedem Atemzug eindrangen.
Fröstelnd liefen die Leute auf dem Deck umher oder sie lagen in den Schlafsälen und wußten vor Unruhe nichts mit sich anzufangen. Die Gruppen, die laut und gellend Skat spielten, wurden weniger und weniger.
Der Oberleutnant fühlte sich als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im dunstigen Grau des Nebelwetters wirkte er breiter. Er war der einzige Lebhafte. Die Schrecknisse des Abenteuers ließen ihn erzählen, erzählen:
Verflucht, wie neugeboren fühlte er sich. Eine Kleinigkeit war's nicht, als er ins Wasser plumpste. Er sah den Riesenleib des Schiffes vor sich, paddelte in der Fahrspur, fühlte die Gewalt der von den Schrauben zurückgedrängten Wassermassen unter sich. Sie griffen ihn und stießen ihn pfeilgeschwind zurück. Und das Schiff fuhr weiter. Wird es umdrehen? Nein, es fuhr weiter, wurde kleiner und kleiner. Da stockte ihm das Blut. Er schlug verzweifelt um sich und fing an, wild zu schwimmen, der Jerusalem nach, die kleiner und kleiner wurde ...
Er schwamm. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er schwamm. Schwamm wie rasend. Fühlte, wie der Schweiß über das Gesicht lief. Der Oberleutnant schwamm. Da fühlte er das schuppige Fleisch eines Fisches am Arm. So kühl und schleimig war die Berührung, daß er zurückzuckte ... Der Oberleutnant schwamm ... So deutlich fühlte er den Fisch ... Die Schuppen fühlte er ... Wenn das ein Hai gewesen wäre ... Der Oberleutnant schwamm ... Erst gestern hatte er einen stundenlang in der Fahrspur gesehen ... Das Tier schnappte nach den Abfällen, die aus der Küche fielen ... Warum sollten Haie nicht Menschen fressen, durchbeißen! Erst den Arm oder den Kopf und dann den Leib, au! ... Der Oberleutnant schwamm, schwamm schneller, kräftiger, verzweifelter ... Haie, es gibt Haie ... Jeden Augenblick konnte ein Haifisch kommen und ihn verschlingen ... Er fühlte einen Schnitt, einen reißenden Schnitt durch den Leib gehen ... Und dann scharfe Zähne ... Der Leib fiel auseinander, und das Blut quoll warm heraus ... Der Oberleutnant schwamm ... Er raste, wollte den Haien entweichen und schwamm und schwamm. Dem Schiff nach, das schon so weit weg war ... Salz stach ihm wie mit spitzen Nadeln in die Augen ... Der Schweiß, der ihm über das Gesicht rann, er versperrte die Aussicht ... Wellen zerschellten an seinem Schädel ... Das Gewicht der Kleider zog ihn hinab ... Er wurde matt ... schluckte Wasser. Aeh, wie salzig ... Und machte sich für die Haie bereit ... Das ganze Leben huschte an ihm vorbei ... Bilder so deutlich, so scharf, als hätte er sie gestern erst erlebt ... Als er aus dem Flugzeug stürzte, war es auch so gewesen ... Dann ein Dunkel, ein halbes dumpfes Bewußtsein ... Das Wasser brauste um ihn herum, dann fühlte er sich versinken. Er schlug mit dem Schädel an ... Der Kahn, das Rettungsboot.
»Mmmenschenskin–der, iiich möchte es nnnicht noch ein–mal erleben!«
Scharf abgegrenzte rote Flecken brannten auf den eingefallenen, gelblichbraunen Backen. Man war doch etwas, man hatte Zuhörer. Natürlich, es war doch etwas ganz anderes wie wenn ein Hund ins Wasser fiel.
Mensch blieb Mensch.
Die Zuhörer wurden es müde, den geretteten Oberleutnant von früh bis abends anzuhören.
Wieder hackten sie mit harten, kurzen Schritten von einer Ecke in die andere.
Die graue See mit den weißen Gespenstern. Dazu die kalte feuchte Luft. Keine Sonne, keine Fernsicht. Das Deck war naß. Die Schlafräume von Schleiern verhüllt. Durch die Bullaugen zwängte sich Kälte und Nässe.
Am vierten Tag fanden sie Christian Kramm erhängt neben dem dicken Schornstein.
Nebelfetzen umzuckten ihn.
Tagelang hatte er in die glanzlosen Fluten gestarrt, hatte im Nebel seinen Hund gesehen und weiter hinten den Kirchturm seines Dorfs. Die Frau hatte das jüngste Kind zu ihm emporgehoben.
Da hatte es ihn gepackt. Und er hatte doch wieder bedacht, daß es neunmal eintausend Meter tief ging in dieser kalten Flut. Dann hörte er den Oberleutnant von den Haifischen erzählen, die nach Menschen schnappen.
Da hatte er lieber den Strick genommen.
Als zur Mittagszeit die Sonnenscheibe durch die wallenden Nebelschleier blinzelte, hielt die Jerusalem. Der Herzschlag des Dampfers stockte. Keine Schraube wühlte im Wasser. Das Schiff war den Wellen ausgeliefert. Geduckt schlugen die mit boshaft zurückhaltender Kraft übermütig von allen Seiten gegen die Stahlwände. Die Jerusalem tänzelte und stieß die Wellen nicht zornig zurück, wie sonst, wenn sie die Straße siegreich zog.
Eine graue Leinwand wurde herbeigetragen und eine Tür in der Reling geöffnet. Dann ein Aufspritzen der See.
Das Deck war verwaist.
Die Nebel wallten über das Schiff. Matrosen spritzten mit langen, dicken Schläuchen eilig über den Stahlkörper. Der diensttuende Offizier ging, in den langen blauschwarzen Mantel gehüllt, schnell seine Runde und tauchte in der oder jener Ecke auf. Morgens, mittags und abends klapperten die Leute mit den Eßgeschirren in die Küche, und da mußten sie ein paar Schritte weit über das Deck gehen ... Das war der ganze Betrieb auf der Jerusalem.
Gern wich alles vor dem einsamen Tanz der Nebel.
Bald war das Leben auf der Jerusalem verzaubert.
Der Oberleutnant hatte einen Mittelpunkt geschaffen.