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Langsam glitt die Jerusalem durch die Rinne, welche die zwei Weltmeere verbindet. Er ist nicht sehr breit, der Panamakanal. Ein tiefer Schnitt, vom Messer des Fortschritts hartnäckig in das braune Gesicht der Erde gezogen. Die Narbe will nicht aufhören zu bluten. Das weiche Erdreich fällt an manchen Stellen immerzu ins Wasser. Ingenieure wachen.
»Ein Massengrab ringsum. 22 000 Arbeiter und Angestellte starben in den 90er Jahren bei den Ausschachtungsarbeiten. Damals war die ganze Gegend fiebrig. Miasmen und Mosquitos wimmelten!«
Irgendwo sprach's jemand. Niemand antwortete. Die Stimme verhauchte. Es war, als wäre sie aus der Landschaft gekommen, als ein Seufzer.
Die Heimkehrer waren voll Verwunderung. Sie hatten etwas Zementiertes, Schnurgerades erwartet, einen am Lineal ausgeschachteten Graben. Nur die Kanalschleußen waren so. Alles andere wunderbare Seen, die müde in den Sonnenglast blinzelten, fruchtbar wuchernde Hügel, saftstrotzende Wiesen, die das Ufer grün betupften. Vieh graste. Bambus und Palmen sproßten empor. Schmucke Bungalow-Häuschen.
Manchmal floß der Kanal schluchtartig tief. Dann wieder durchbrach er auf weite Strecken Grünflächen und glitzerte an wohlgepflegten Gärten vorbei. Schließlich durchschnitt er eine Wildnis von Palmenwäldern, um dann gleich wieder seine blitzende Ader durch weite Ebenen mit Siedlungen vorzutreiben. Zuweilen schien die Fahrstraße in großen, von Buschwerk umstandenen Teichen zu ertrinken. Die glutvoll untergehende Sonne warf Lichter über Lichter auf die friedliche, märchenhafte Wasserfläche. Schleier sanken hernieder, und Spukgestalten mit wehenden Mänteln jagten durch die leise fallende Nacht.
In den Schleusen wurde die Jerusalem gehoben oder gesenkt. Nachdem sie Balboa, den Hafen der Stadt Panama, verlassen hatte, passierte sie die Miraflores-Locks und die Pedro-Miguelschleusen am Ende des Culebra-Cut. Kleine Inseln schwammen vorbei. Und nun breitete der Gatunsee seine weichen Arme weit aus, und die Jerusalem stieß nachhaltig gegen seine gemächlich atmende Brust, um dann wieder Schleusen zu überwinden. Auf mächtigen Betonrücken rasten elektrische Lokomotiven herbei, die das Schiff vorn und hinten zogen. Die Einfahrten schlossen sich, und die Jerusalem schwamm weiter.
Fische sprangen und Fregattvögel flatterten.
»Was sollen wir denn tun? Woran kann man sich halten?« Unvermittelt schien die Frage, die sich aus Klein herausbrach. Aber es war die Frage, die die Majestät der Natur in jedem mehr oder weniger stark stellte.
»Eigentlich ist ja alles, was wir tun, gleichgültig«, antwortete der Kantor ganz gegen seine Gewohnheit mit einer dünnen Schärfe. »Ob wir so handeln wollen oder so, wir handeln immer nur so, wie wir handeln können. Es gibt innerlich Geringe und innerlich Reiche. Niemand ist verantwortlich für den Umfang seiner Kraft. Die ist Gnade.«
»Nanu«, warf Kröger ungläubig ein. »Wir sind doch frei. Unsere Kraft ist doch frei?«
»Ja, aber nur so weit wir sie haben. Der Hamster kann nur Hamster sein und das Pferd nur Pferd.«
»Also du glaubst an eine Freiheit der Kraft innerhalb der Grenzen?«
»Ja! Die Freiheit bewegt sich in unserm Ich wie ich mich auf dem Schiff hier.«
»Also doch eine Freiheit – und sollte die keine Richter finden?« fragte Klein.
»Wie klein müßte der Schöpfer sein, wenn er seine Spielsachen schlagen wollte, weil er sie so und nicht anders gemacht hat«
Der Kantor brach schnell ab, als schäme er sich des getragenen Tons, auf dem die Worte wie ein Schleppkahn vorwärts gekeucht waren. Auch ihn hatte die Landschaft sterbenstraurig gestimmt. Er sah sein Leben vor sich, von der Kindheit an bis zu den Wühljahren, die er durch Galgenhumor und Kälte nach außen zu meistern suchte. Jetzt aber brachen diese Stützen knirschend zusammen.
Die Lichter von Limon blitzten auf, und dann schimmerte der Hafen von Christobal.
In der Karibischen See fluteten die Wellen nicht weit und groß. Hart und kurz leckten sie gegeneinander, vom beengenden Ufer des Binnenmeeres zusammengeschoben. Erst in der Höhe von St. Thomas atmete die See wieder tief und ruhig.
Schünemann war den ganzen Tag bei den Maschinen gewesen. Die plötzliche Erkrankung des Ingenieurs hatte nötig gemacht, daß er, der Einzige, der auf der Jerusalem vom Fach war, als Wächter bei dem Herzen des Schiffs verweilte. Überarbeitet stand er auf Deck. Innerlich zerrissen. Er hatte einen totkranken Körper gesehen. Durfte denn das Schiff überhaupt noch fahren? Ein Greis humpelte über die Wellen.
Es war Nacht
Die Glocke des sternenbestickten Himmelsgewölbes stülpte sich über die ruhige See. Das Schiff stampfte fort, immerzu den Wasserberg hinan, brach sich hastig Bahn und stieß die Wellen, die sich gegen seine Wände zwängten, unfreundlich zurück. Gurgelnd, drohend enteilten sie. Und keuchend würgte sich das Schiff weiter. Es war die einzige Unruhe in der feiernden Natur. Schünemann drang mit durstigem Blick in die Unendlichkeit und empfing, durch die Eindrücke aufgerührt, die Schauer, die eine friedliche Meernacht dem Andächtigen spendet. Die undeutliche, durch die Finsternis halbverdeckte Scheibe des Meers zwang den Blick nicht zum Verweilen, denn er sah immer nur ein undurchdringliches Tuch. Unbefriedigt suchte Schünemann nach andern Bildern, und da stieß sein Auge ungehemmt in den Raum. Da war es ungebundener Zeuge der dort kreisenden Dinge, und es wollte höher hinauf, höher. Doch, nur die goldenen Punkte der Sterne malten sich auf die Netzhaut. Die Gedanken wurden lebendig. Und sie flogen, geschmeidiger als das Auge, bis zu den Sternen und weit über sie hinaus, immer höher hinauf, höher. Sie stießen an eine Wand, denn irgendwo mußte doch eine Wand sein? Aber nein. Wo würde denn die Wand stehen, hinter ihr müßte doch auch noch etwas sein. Und weiter flogen die Gedanken, höher, und sie fanden kein Ende, flogen und wußten nicht wohin. Nirgends war ein Halt. Sie wurden krank an der Ewigkeit
Banges Entzücken durchschüttelte Schünemann. Ruhe, große weite Ruhe ringsum. Er breitete die Arme aus. Die Gedanken, die losen Vögel, können in die Weite flattern, können schwindlig werden an der Unendlichkeit. Und können, aufgeregt von der langen Fahrt, auf ihren samtweichen, hellgrauen Kissen im Gehirn ausruhen. Ja ... kann es eine Endlichkeit geben, wer kann sie sich vorstellen? Schünemann erschauerte im ersten Versuch, es zu tun, und klammerte sich an einen Satz, den er finden mußte, wenn er nicht zusammenbrechen wollte an der Schwere der Vorstellung. War es denn nicht so, daß der Mensch selbst die eigene Kleinheit empfindet, und doch wieder mußte es Größe sein, die ihn die Kleinheit begreifen läßt? War das nicht wunderbar? Ist das nicht der in die engen Grenzen des Menschlichen gezwungene Gott selbst, der da spricht?
Schünemann ließ den Blick wieder auf dem leise raunenden Tuche ruhen, das die Jerusalem zerschnitt, beobachtete das helle Flimmern der Lichtpünktchen in dem von den Schrauben aufgerührten Gischt und erträumte sich die Wunder, die in den Wassern in dauernder Schönheit blühen.
Wieder ein heißer Tag. Die Sonne rollte strahlend ihre Bahn.
Jedes Eckchen auf Deck mit Decken überspannt. Die Rettungsboote besetzt. Jede Überdachung eine Stube. Eine Jagd nach Schatten. Viele lagen im Schlafsaal lang ausgestreckt, das weiche Schaukeln der Jerusalem genießend, und hörten mit geschlossenen Augen auf die zischend und gurgelnd vom Schiffsrumpf enteilenden Wasser. Andere blinzelten, an der Reling liegend, in das tiefe Blau und beobachteten, wie der starre Finger des Mastes schmale, langgestreckte Ellipsen in die Atmosphäre zeichnete.
Die Brausen zischten und spritzten ihr Salzwasser auf die Körper, an denen die Tropfen knallend auseinandersprangen. Wohlig lagerten die Badenden in der Sonne und setzten sich den Strahlen aus. Die Haut prickelte, und in den Gliedern spannte sich eine freudig-elastische Kraft. Könnte man sie nicht für immer im Dom des Körpers festhalten?
Die bohrende Sehnsucht der Kranken nach Gesundheit. Der Gedanke an die Heimat zauberte unbändigen Jubel und zugleich Schrecken hervor.
Plötzlich zitterte die Jerusalem. Ein knirschendes Geräusch, als führe sie über Felsen: als wäre ein Stein in das weiche Bett des Meeres gerollt worden. Es schien, daß das Schiff stehen blieb. Es neigte sich etwas und rumpelte weiter.
Der Sonnenfrieden jäh zerrissen.
Die Augen quollen fragend heraus.
»Was ist das, was ist los?«
Ein Offizier ging ruhig über Deck.
»Es kann nichts sein. Guckt doch, wie ruhig der aussieht!«
Der Kapitän stieg in den Schiffsraum. Sein kupfernes Gesicht zeigte nicht die Spur einer Erregung. Es leuchtete und glänzte so feist wie sonst.
»Wenn etwas los wäre, würde man's doch an dem merken.«
»Nein, es ist nichts.«
Die Körper klappten wieder aufs Deck hinab, wie die Klingen schlappgewordener Taschenmesser. Es war nichts.
Die See rauschte. Das Schiff stampfte. Wie sonst. Wie sonst? Die Ohren preßten sich an den Boden. Jeder tat es für sich, weil die andern es nicht merken sollten. Wie sonst? Schlafende Geister schienen im Schiff erwacht zu sein. Stampfen, dumpfes Aufschlagen, auch Stimmen drangen herauf. Was war das? Das Rauschen – war es das Wasser, das schon hereindrang? Sie sprangen auf. Sie lagen hier und mittlerweile sank das Schiff? Mittlerweile gurgelte das Meer herein? Die Köpfe klappten über die Reling hinweg. Ein Aufatmen. Die Jerusalem lag nicht tiefer im Wasser als sonst.
»Was ist los, was ist los?«
»Eine Kleinigkeit im Maschinenraum.«
»Eine Kleinigkeit im Maschinenraum«, echote es dumpf.
»Eine kleine Reparatur.«
»Eine kleine Reparatur.«
Der Offizier, der als erster übers Deck gegangen war, kam zurück. Er war naß. Das Wasser troff an seinen Beinen herab.
»God damned fellow« fluchte er, »da hat mir der Kerl da unten Wasser über die Beine gegossen«. Er lachte und ging gleichgültig weiter.
»Wenn 's weiter nichts ist.« Man atmete wieder. Der Schrecken fiel ab wie ein gelöster Panzer. Aber Angst blieb zurück.
Matrosen gingen den Weg, den der Offizier gegangen war. Sie liefen trab.
»Wenn es nun doch schlimmer ist?«
Die Heimkehrer schwärmten durcheinander. Schwere, bange Unruhe summte. Stimmen schwirrten. Fragen hämmerten, Beschwichtigungen tönten. Ihnen fehlte die Selbstgewißheit. Die Parteiungen waren gesprengt. Jeder sprach auf den ein, den er gerade traf.
Der Oberleutnant, dessen Gesicht von fahler Blässe wie von einer Gipsdecke überzogen war, stotterte auf den Kesselschmied ein. Den peinigte bange Furcht. Aber diese Angst formte sich in die beruhigende Mitteilung:
»Es ist doch nichts. Was soll es denn sein?«
Gierig glotzte der Kesselschmied auf den Mund des Oberleutnants. Was wird aus dem herauskommen? Der hatte das, was der Kesselschmied sagte, ungebärdig aufgenommen und fühlte sich nun berechtigt, besänftigend zu versichern:
»Es ist nichts.«
Das hörten andere, und sie trugen die Nachricht fort, und je mehr sie von Mund zu Mund flog, um so gewisser wurde sie: »Es ist doch nichts, nur eine Kleinigkeit. Wer ist denn hier der Angsthase, der Parolen fabriziert?« Die Nachricht kam zum Oberleutnant zurück, und auch der Kesselschmied hörte sie. Und beide riefen: »Wir haben es doch gesagt, es ist nichts, alles Humbug!«
»Das Schiff ist leck. Eine Schraube ist abgebrochen.«
Keiner wußte, wer es gesprochen hatte. Eine Schraube. Die Jerusalem verfügte über zwei Schrauben.
»Eine Schraube ist entbehrlich.«
»Selbstverständlich. Wie viele Dampfer fahren mit einer Schraube.«
»Das wäre noch schöner, wenn der Dampfer nicht mit einer Schraube fahren könnte. Gelacht wäre das.«
Alle grinsten. Aber das Lachen war in den Gesichtern einsam.
»S.O.S.-Rufe sind verschickt.«
Bleierne Stille.
Die Köpfe hoben sich.
Ein grelles Lachen schütterte über das Meer.
»S.O.S.-Rufe?«
»Sind das Angsthasen.«
»Bei jedem Dreck Hilferufe.«
»Besser ist besser«, geiferte Müller den Briefträger an, »besser vorsorgen als nachsorgen. Hilferufe? Das heißt gar nichts.«
»Natürlich heißt das nichts«, antwortete der Briefträger. »Was soll denn das heißen? Man sorgt eben vor. Das ist alles.«
»Selbstverständlich, man sorgt eben vor.«
»– – sorgt eben vor.«
»Es ist alles Unsinn.«
»Es sind gar keine Hilferufe verschickt.«
»Alles Aufschneiderei.«
Erregtes Auf- und Abgehen.
Unauffällig kletterte man in den Schlafsaal, tat gleichgültig, wühlte in den Sachen, schimpfte leise, daß man den Tabak, die Streichhölzer, das Buch, oder was man gerade suchte, nicht fand, sah sich scheu um, tastete an das Kopfende, griff die Schwimmweste, die als Kissen diente, und würgte sie unter das Jakett auf die Brust, über die sie sich als Verheißung der Hilfe in der letzten Not spannte. Wärme strömte von ihr aus. Jeder war aufgeplustert. Und die Blicke flogen abschätzend und sehnend nach den Rettungsbooten.
Witze kamen aus geheimen Ängsten. Häßliches Lachen. Böse Blicke. Es waren Leute darunter, die Ruhe haben wollten, die jedes Wort noch mehr aufregte.
»Wir werden das Schwein schon töten«, rief ten Hoven. Und in alter Gewohnheit schallte es zurück: »Haut ihn.«
Als das Heck der Jerusalem zitterte, als hätte ihr das Schicksal einen scharfen Peitschenhieb versetzt, arbeitete Schünemann gerade im Maschinenraum. Durch den Stahlkörper schütterte etwas. Die Jerusalem schaukelte stärker und fuhr, nach einem Ruck, weiter, die Kolben zuckten in wahnsinniger Hast, so daß da, wo sich das Gestänge regelmäßig bewegt hatte, ein stählener Strich stand.
Die Kraft war von ihrem Zweck getrennt und wütete ins Leere, gegen sich selbst.
Die schlimmsten Befürchtungen waren übertroffen. Die rechte Schiffswand war in der Breite der Schraubenwelle aufgerissen. Die rechte Schraube war fort, durch die Wunde strömte Wasser herein.
»Holz«, schrie Schünemann, »Holz, einer zum Kapitän, Schotten schließen – – Holz, Beile –« Und sie trieben Pflöcke in die Wunde. Die drohten, von der Wucht des Wassers gedrückt, wieder herauszufallen. Da schoben sie Kleinholz zwischen die großen Hölzer. Das kittete und füllte aus. Ständig mußte nachgefüllt werden.
Die Pumpen holten das Wasser langsam heraus.
Schünemann war bestürzt Für Sekunden legte sich Dunkel vor die Augen. Die Schraube abgerissen. Die Wucht, mit der das geschah, hatte die Welle beschädigt. Der Riß zog sich weit hin.
Mußte nicht schon bei einem leichten Sturm das Schiff verloren sein?
Der Kapitän ließ Hilferufe versenden. Die Stationen fingen sie auf. Kleine Notizen schwirrten in die Zeitungen. Und irgendwo wendete ein von Baltimore kommender kleiner Dampfer in die Richtung des Notschreis.
Es war Seemannspflicht.
»Wer weiß etwas Genaues?« schrillte Kunowski.
»Genaues können nur die Offiziere wissen«, schrie Bembel.
»Wo sind die denn?« ereiferte sich Müller.
»Doch unten«, sagte Klein.
»Dddie mmüssen wwwir sprechen«, gab der Oberleutnant gedankenlos zurück. Er betastete seine Brieftasche. Geld hatte er bei sich, wenn es gefährlich wurde. Vielleicht konnte er noch eins der ihm geschenkten wertvollen Bücher mitnehmen. Die Rettungsboote würden darob doch nicht gleich sinken. Die Hauptsache: aufgepaßt, daß man den Anschluß nicht verpaßte!
»Oberleutnant, haste eine Zigarette?«
»Hier!« Der Oberleutnant hielt dem Kesselschmied mit wohlberechneter Umständlichkeit das blinkende Silberetui entgegen.
Der Kesselschmied griff hinein. An der Faust waren vier Zigaretten hängen geblieben.
»Nimm d'ter doch nnoch eine!« ermunterte der Oberleutnant. Und das Etui blitzte wieder. Der Kesselschmied ließ sich das nicht zweimal sagen. Erst zuckte Unglaube im Auge auf. Als der Kesselschmied aber die graue Zerrissenheit des Oberleutnants wahrnahm, griff er noch einmal in die Schachtel.
Der Kapitän wackelte auf seinen dicken, gichtischen Beinen vorbei. Er sah ruhig aus, als ginge er zu einer Partie Schach.
Es konnte doch nicht so schlimm sein.
»Glaubt, wenn es so schlecht um die Jerusalem bestellt wäre, würde der Alte anders hopsen.«
»Natürlich.«
»Die Offiziere werden's schon schaffen!«
»Schünemann ist auch unten.«
»Schüne-mann?« fragte der Oberleutnant schnell. Da müßte er eigentlich einmal hinuntergehen, um aus erster Quelle zu erfahren, was los war.
»Dich lassen'se nicht runter, Arthur!« sagte ten Hoven. Das Rot auf den Lippen wirkte stumpf.
»Warrrum nicht?« Von Schünemann erfuhr man gewiß ganz Sicheres.
»Das glaube ich schon«, bekräftigte Manteufel.
»Aber wie treffen?«
»Wir lauern ihm einfach auf.«
»Oder, ob wir mal zum Arzt gehen?« Bembel fragte es.
»Das hat ggar kkkeinen Zwweck«, antwortete der Oberleutnant, »der weiß auch nichts«.
Eine Nacht und einen Tag, und es gab keinen Oberleutnant mehr, keinen ten Hoven, keinen Erdmannsdörfer, keinen Kunowski, keinen Kesselschmied, keinen Bembel, keinen Klein. Kein dummes, kein höhnisches, kein kluges Gesicht Alle Gesichter bekalkt vom Grausen, Gipsköpfe waren die Schädel, einer so leer und so voll wie der andere. Alle Eigenarten versunken im Brei des Entsetzens.
Sorgen, Sorgen, Sorgen. Fragen, Fragen, Fragen. Immer die gleichen, die alten, die vertrauten. Und doch jedesmal in ihrer Steigerung neu.
Wie ... wenn ... die Jerusalem ... unterging ... wenn keiner nach Hause kam? Leidenschaftlich richtete sich der Lebenswille auf ... jeder mußte die Heimat wiedersehen, mußte ... wäre es nicht ganz und gar sinnlos, wenn sie mitten auf dem Heimweg, nach sechs Jahren Verbannung, ersöffen wie die Ratten? Es konnte nicht sein. Sie mußten in die Heimat kommen, mußten, mußten, mußten, nach sechs Jahren, wo war sonst der Sinn?
Wo war der nächste Hafen? Vor vier Tagen war er nicht erreichbar. Was konnte in vier Tagen geschehen? Und war ein Schiff unterwegs? Und wann war es hier? Wenn es hier war und das Schiff sank ... konnte es alle aufnehmen? Und wenn ein Sturm kam und jedes Schiff mit sich selbst zu tun hatte? Was dann? Grell klangen die Witze. Man brauchte wieder Humor, Humor. Man brauchte Worte, die sich vor die atemraubenden Gefahren stellten.
Wie, wenn die zweite Schraube auch noch abfiele – sie mußte für die verlorene mitarbeiten und sie konnte sich überanstrengen! Wie, wenn das Steuer bräche?
Fragen, Fragen, Fragen.
Wenn das Schiff sank, und die Rettungsboote herniedergelassen würden, würden da nicht die dreitausend Mann wie ein Sturmwind über die Geländer fegen und die paar Offiziere, die sich mit ihren Pistolen entgegenstellten, mitreißen? Und würden die paar Rettungsboote unter den Zentnerlasten, die auf sie niederfielen, nicht sinken wie Blei? Und würde nicht der eine den andern in die Fluten drängen? Ein Ringkampf um das nackte Leben.
Alle dachten an die Jahre der Gefangenschaft. Wenn sie in den Bahnhöfen zu einer zwei- und dreiwöchigen Fahrt verladen werden sollten, vierzig Mann in einem Viehwagen, stürzte alles wie eine Meute in den Waggon. Jeder wollte einen Sitzplatz. Einen Liegeplatz erobern, jeder von den vierzig Mann, und zwanzig Liegeplätze waren da. Einer mußte den andern niederschlagen, mit dem Arm niederzwingen, um für zwei Wochen lang ausgestreckt liegen zu können.
Wie würden sie erst kämpfen um das Leben?
Würde denn nicht jeder noch etwas Wertvolles vom Gepäck retten wollen? Würde alles noch einmal zurückdrängen wollen in die Schlafräume und dann fiebernd, unentschlossen mitten auf dem Weg stehen bleiben und es sich überlegen, ob ... es ... denn ... doch ... nicht ... besser ... wäre, rasend schnell das Leben in die Rettungsboote zu tragen? Aber würde man sich im Boot nicht ärgern, daß man dennoch nicht umgekehrt war? Man hätte den Koffer retten können. Würde es nicht so sein?
Am dritten Tag war die Luft dumpf und dick und schwer. Es war windstill, das Barometer fiel, die See war wellenlos ausgebreitet und hob sich, ohne Schaumwelle, langsam und schwer wie dickflüssige Suppe. Matt lagen die Heimkehrer auf dem Deck. Sie konnten sich vor Schwere in den Gliedern nicht rühren.
Am Horizont kräuselte eine dicke Rauchwolke. Mäste erschienen, dann die Schornsteine. Ein kleines Schiff stieg aus den Fluten empor.
Immer in gleicher Entfernung, in Augensicht, fuhr es hinter der Jerusalem her.
Auf der Kommandobrücke standen zwei Offiziere Der eine sagte:
»Im Sturm kann uns das andere Schiff nur schaden, und wir sind im nächsten Augenblick im Sturm.«
»Der Sturm wird die Schiffe aufeinanderwerfen. Wie soll es uns helfen können?« sagte der Zweite.
»Es bleibt hinten, weil es weiß: es kann nicht helfen. Und doch fährt es hinter uns her«, sagte der Erste. »Es kann nicht helfen. Ein kleiner Kasten. Und doch fährt er hinterher. Warum? Pflicht ... Bei ruhiger See könnte er kaum ein Drittel von unserer Fracht aufnehmen. Werden wir uns selbst helfen können?«
»Nicht genug, daß die Jerusalem bei ruhiger See jeden Augenblick sinken kann: wir kriegen noch einen Sturm. Und wenn wir den überstehen!«
»Wenn wir den überstehen!? Das Schiff kann den Sturm überstehen, auch mit einer Schraube!«
»Meinst du?«
»Wie viele Stürme hat die Jerusalem schon überstanden! Und im letzten Sturm ist sie auch nicht mehr neu gewesen. Morgen lacht die Sonne!«
»Wir brauchen nicht unterzugehen. An sich ...«
Sechs Uhr abends. Von Südost fegte der Sturm. Nebel verschleierte die Aussicht. Das Nebelhorn brüllte in die graue Wüste. Die Wellen wuchsen. Der Wind wendete sich heulend und schüttelte die Jerusalem mit zornigen Fäusten und wälzte schwere Seen über sie hinweg. Sie sah sich über unheimlichen, von Schaumkronen und kleinen hellgrünen Flecken belebten Tiefen, stieg mit der Spitze in die Höhe, senkrecht, und stürzte, von rasenden Kräften gestoßen, in das schwankende, aufgerissene Tal. Sturzwellen peitschten schäumend über das Deck, rissen drei Rettungsboote ab und nahmen zwei Heizer, die Luft schöpfen wollten, in die Tiefe.
Der Kapitän trieb alle, die auf dem Deck in die Wasserhölle starrten, in die Schlafsäle und ließ die Luken schließen.
Die Jerusalem war ein zugenagelter schwimmender Sarg.
Regen jagte prasselnd durch die Luftschächte, durch die das Unwetter mit heiser Stimme rief. Die Jerusalem stampfte mühsam weiter. Es knisterte und ruckte, als bräche ein Widerstand. Alle horchten auf das dumpfe Rauschen der Schraube, auf das Klopfen der Maschine.
»Das Steuer«, wimmerte einer, der ganz an der Seite lag, nur durch die Stahlplatte des Schiffsrumpfs vom schreienden Meer getrennt, »das Steuer kann brechen«. Es war wie das Weinen eines Kindes.
»Das Steuer ist entgegengesetzt gedreht, um die Richtung zu halten, und muß für die verlorene Schraube drücken. Ob es das aushält? Das Steuer kann jeden Augenblick brechen ... jeden Augenblick!«
Die Schotten schlossen schlecht.
Schünemann drängte sich mit seinen Leuten vor die Wunde, in der kein Holzpflock mehr hielt. Die Hammerschläge sausten darauf nieder, und immer wichen die Hölzer zurück. Die Hämmer wechselten von einer Hand in die andere. Legte sich das Schiff auf die Seite, dann konnte keiner mehr stehen, und die Hämmer dröhnten auf den Eisenboden nieder. Eisiges Wasser klatschte herein.
»Schlagen!« Schünemann faßte einen Hammer, aber er schlug daneben. Der hereinquellende Wasserarm ward dicker. Die weich geschlagenen Pflöcke schwammen in den Lachen. Hammerschläge trieben mühsam neue Hölzer in die Wunde. Sie wichen.
Ablösung quoll herein.
Schünemann konnte sich nicht mehr halten. Alle sanken zusammen. Mit den Hölzern wurden sie im steigenden Wasser hin- und hergeworfen.
Starr horchte Schünemann auf den Sturm. Schauerlich brüllte das Nebelhorn.
Eine Welle schlug Schünemann ins Gesicht. Er schmeckte das Salz. Er sprang auf und kroch an die Wunde. Das Wasser warf ihn zurück. Er griff eins der schwimmenden Hölzer und stürmte vor. Andere Hölzer schmetterten gegen seine Beine. Er fiel, richtete sich auf, stürzte vor, rutschte aus. Er fühlte sich nach allen Seiten zugleich gezerrt.
Er griff einen mächtigen Schraubenschlüssel und schlug blind zu.
Die andern fielen ihm mühsam in die Arme.
Er stieß sie zurück.
Sie griffen ihn wieder.
Er röchelte: »Geht weg, geht weg. Seid ihr verrückt. Seid ihr wahnsinnig, seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Wir müssen doch zugreifen. Sonst –«
Er schlug und schlug.
Da stießen sie ihn hinaus. Er taumelte vor. Ging, lief. Und sah sich im Maschinenraum. Wie Kröten lagen die Maschinen da, wie halbverreckte Kröten, an denen die Beine zuckten. Ekelhaft. Und blitzte da nicht etwas? Fletschte da nicht etwas? In Schünemann quoll dunkler Wahn hoch. Er mußte helfen, er mußte etwas tun. Und er warf den Schraubenschlüssel, den massigen, in das Gedärm der Maschinen.
Knistern, Reißen, Zucken, Getöse.
Am andern Morgen große ölige Flecke auf der noch immer geifernden See. Sie zerrte Bretter und leere Rettungsboote hin und her.
Mit geminderter Kraft fuhr das holländische Schifflein vorbei. Bleiche Matrosen, die an der Reling standen, suchten den brennend roten Namen an den Booten zu lesen.
Je-ru-sa-lem buchstabierten sie.